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Eine formal aussergewöhnliche Graphic Novel, man sieht die Protagonisten als Punkte immer von oben.

Produktbeschreibung
Eine formal aussergewöhnliche Graphic Novel, man sieht die Protagonisten als Punkte immer von oben.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.04.2020

Punkt, Farbe, Strich

Fertig ist die Bildgeschicht: Martin Panchaud erzählt einen komplexen Comic im Modus der Infografik.

Vor mehr als zwanzig Jahren erschien ein Comic mit einem ambitionierten Titel: "Das lange ungelernte Leben des Roland Gethers". Der Zeichner Shane Simmons erzählte darin mit Figuren, die nur aus schwarzen Punkten bestanden, denen in sonst leeren Panels mittels Strichen ihre jeweiligen Dialogpassagen zugewiesen wurden. Grafisch reduzierter geht es nicht; trotzdem lässt sich über die Gespräche dieser Pünktchen das ganze höchst komplexe Geschehen rekonstruieren. Eine Reflexion über die Grundstruktur von Comics. Gerade ist sie im Avant-Verlag wieder aufgelegt worden.

Alt genug, um sich an die Erstpublikation zu erinnern, ist Martin Panchaud; er wurde 1982 in Genf geboren, doch seit einigen Jahren lebt er in Zürich. Im Comicmagazin "Strapazin" sind einige kürzere Arbeiten erschienen, aber nun ist bei der Edition Moderne seine erste lange Geschichte herausgekommen: 224 Seiten stark und nur mit Personen bevölkert, die als bunte Kreise dargestellt werden. Der Comic heißt "Die Farbe der Dinge".

Im Gegensatz zu Simmons lässt Panchaud seine Akteure jedoch in sorgfältig arrangierten Dekors auftreten, die wie architektonische Planskizzen gestaltet sind: piktogrammatisch also, aber das verleiht der ganzen Sache den Reiz eines Polizeiberichtsbogens, und das wiederum passt zur Geschichte, denn die ist cum grano salis ein Krimi. Der vierzehnjährige Engländer Simon Hope hat durch den Tipp einer Wahrsagerin tausend Pfund, die er seinem Vaters entwendet hat, auf einen Außenseiter in einem Pferderennen gewettet - und gewonnen! Leider ist er als Minderjähriger nicht berechtigt, den Millionengewinn einfach so abzuholen. Und sein Vater hat daheim die Mutter ins Koma geprügelt, weil er ihr unterstellte, ihm die tausend Pfund gestohlen zu haben. Danach floh der Vater. Was soll Simon nun tun?

Die Geschichte ist hanebüchen, aber gerade in der abstrahierten Form, in der sie dargeboten wird, überzeugend, denn Piktogramme und Symbole suggerieren Verlässlichkeit. Zudem ist das, was Panchaud erzählt, von einem kühlen Realismus: das Mobbing der Altersgenossen von Simon gegen den übergewichtigen Außenseiter, die angespannte Familiensituation im tristen Eigenheim, die Situationen im Wettbüro, im Krankenhaus und auf der Polizeiwache. Und nicht einmal die größtmögliche Abstraktion der Figuren lässt uns auf Empathie verzichten. Eher im Gegenteil: Wir stellen uns die Gesichter dieser bunten Kreise vor, ihre Gefühle, auch ihre Verletzlichkeit.

Panchaud nähert sich auf diese Weise als Comic-Erzähler dem Prinzip von Prosa an, indem er unsere Phantasie dazu herausfordert, sich ein eigenes Bild der Akteure zu machen. Sein Band ist kein so radikales Zeichen-Experiment wie seinerzeit der von Simmons, aber eine intelligente und dabei unterhaltsame Kartierung des Territoriums der Comics. Dessen Grenzen erweitert "Die Farbe der Dinge" erheblich.

ANDREAS PLATTHAUS

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 16.04.2020

Karneval der Piktogramme
Nichts ist, was es scheint: Martin Panchauds Comic „Die Farbe der Dinge“
Und das soll eine Graphic Novel sein? So ganz ohne Sprechblasen, ohne Menschen oder Tiere? Daisy Hope, die Mutter, und Simon Hope, der Sohn, sind ein graugrüner und ein orangebrauner Punkt auf einer weißen Comicseite, die – das zeigen Linien, die von den Punkten zu Textzeilen führen, – angeregt miteinander reden. Es folgt der Lageplan einer Siedlung, in dem das Haus der Familie Hope grün als „Start“ gekennzeichnet ist, außerdem, rot eingezeichnet, der Weg, den Simon mit einem Kuchen zurücklegt, den seine Mutter ihm gerade gegeben hat. Das „Ziel“ ist als rotes Rechteck markiert.
Der Kuchen ist mit rosa Zuckerguss und einer Einhornfigur verziert, er gehört zu den Dingen in diesem Comic, die detailreich und halbwegs konkret gezeichnet sind. Auch das düstere Zimmer einer Wahrsagerin, später ein Wettbüro, ein Polizeirevier oder ein Krankenhaus sind jeweils als Aufsichten sorgfältig ausgearbeitet. Die Menschen dagegen sind Punkte, oder besser kleine Doppelkreise, mit einer Farbe innen und einem etwas dunkleren zweiten Kreis außen aus derselben Farbfamilie. „Die Farbe der Dinge“, das ist der Clou dieses Comics, erzählt seine Story mit den Mitteln der Infografik. Äußerst abstrakt sind vor allem die Figuren gezeichnet. In Verbindung mit einem starken Text gewinnen die farbigen Kreise als handelnde Personen jedoch eine Tiefe, die ebenso verblüfft wie berührt. Vor allem den 14-jährigen Simon sieht man förmlich vor sich, einen jungen Loser, ein Unterschichtskind, das von den Jugendlichen in der Nachbarschaft wegen seines Übergewichts gemobbt wird.
„Die Farbe der Dinge“ ist die erste lange Graphic Novel des in Genf geborenen, in Zürich lebenden Zeichners Martin Panchaud. Er hatte im selben Infografik-Stil bereits die „Star Wars Episode IV“ adaptiert, als lange, durchlaufende „Schriftrolle“ ohne Seitenangabe, 2016 war der Comic im Netz erschienen. Einige kürzere Arbeiten hatte Panchaud im Comicmagazin Strapazin veröffentlicht, darunter Teile von „Die Farben der Dinge“. Sein Graphic Novel-Debüt ist eine Tragikomödie und ein Krimi, eine Loser-Story mit Noir-Motiven, eine Parodie und ein Zeichen-Experiment. Weil ihm eine Wahrsagerin einen Tipp gegeben hat, setzt Simon sein ganzes Geld (und das seines Vaters, das er ihm aus einer Geldkassette klaut) auf ein Rennpferd namens Black Caviar, einen krassen Außenseiter.
Aber Simon gewinnt – mehr als 16 Millionen Pfund! Selbst an seinem Glückstag ist Simon allerdings ein Pechvogel. Erst kann der Junge seinen Millionengewinn nicht abholen, weil er als Minderjähriger die Unterschrift eines Erziehungsberechtigten braucht. Dann muss er feststellen, dass seine Mutter von einem Unbekannten ins Koma geprügelt wurde und sein Vater verschwunden ist. Wie kommt Simon nun an sein Geld, mit dem er seiner Mutter eine Privatklinik bezahlen könnte? Ein Unbekannter namens Alan Jones, ein angeblicher Freund der Mutter, will ihm helfen. Außerdem kommt unterstützend ein weiblicher Blauwal mit dem Namen B-52 ins Spiel.
Dass der Blauwal den Namen eines berühmten Langstreckenbombers trägt, ist eine hinterhältige Pointe, wie es einige in diesem Comic gibt. „Die Farbe der Dinge“ gibt sich mit seinen Grafiken und Tabellen nüchtern und wissenschaftlich, diesem Schein darf man aber nicht trauen. So wird etwa der Lebensweg des Blauwalweibchens ausführlich skizziert, es gibt eine Schemazeichnung der Anatomie von Blauwalen, die Lebensräume und Migrationsbewegungen dieser Tiere werden auf einer Karte ausgiebig ausgebreitet. Das sieht alles sehr seriös aus – ist für die Geschichte aber vollkommen überflüssig.
Martin Panchaud zitiert (und parodiert) mit den Piktogrammen, Symbolen, Schautafeln und Lageplänen die visuellen Erzählweisen der Wissenschaft und des Polizeiberichts und suggeriert damit eine Überschaubarkeit, Eindeutigkeit und Verlässlichkeit, die seiner Geschichte völlig widerspricht. Die Menschen in dieser Graphic Novel sind selten, was sie scheinen oder vorgeben, und „in Ordnung“ ist schon gleich gar nichts.
Simon ist die vielleicht größte Überraschung der Geschichte, weil sich der verfressene Loser als erstaunlich zäher Kämpfer erweist. Am Ende stehen er und sein Vater sich bei einem ebenso traurigen wie hanebüchenen Showdown gegenüber. Man sieht die beiden förmlich in Nahaufnahmen vor sich, so suggestiv ist die Darstellung: Die farbigen Kreise, die Vater und Sohn bedeuten, sind in zwei weiße Rechtecke gequetscht, sodass von den Kreisen oben und unten etwas abgeschnitten ist, wie bei der Nahaufnahme eines Gesichts durch eine Filmkamera – eine brillante zeichnerische Lösung.
Als Kind habe er unter Dyslexie gelitten, erklärt Martin Panchaud seine Vorliebe für den Infografik-Stil. Die Comic-Kunst hat durch dieses Handicap gewonnen: eine neue, faszinierende Form des visuellen Erzählens.
MARTINA KNOBEN
Martin Panchaud (Text und Zeichnungen): Die Farbe der Dinge. Aus dem Französischen von Christoph Schuler. Edition Moderne, Zürich 2020. 224 Seiten, 35 Euro.
Dies ist ein Tatort:
mit der ins Koma geprügelten Mutter (grün), ihrem Sohn Simon (orange), Notärzten und Polizisten.
Abb.: Edition Moderne
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