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»Meine Mutter war eine Naturgewalt.« Violaine Huisman erzählt die Geschichte ihrer manisch-depressiven Mutter - und schreibt grandiose Literatur.Ihr Fahrstil war sportlich, mit quietschenden Reifen fuhr sie über jede rote Ampel der Champs-Elysées, in der linken Hand die Zigarette, in der rechten das Steuer, auf dem Rücksitz die beiden Töchter. Catherine konnte ausrasten, ihre Kinder unflätig beschimpfen, um sie gleich danach in Liebe zu ertränken. Die kleine Violaine und ihre Schwester lieben die Mutter abgöttisch, aber sie ist krank, sie ist manisch-depressiv. Mit gnadenloser Aufric...
»Meine Mutter war eine Naturgewalt.« Violaine Huisman erzählt die Geschichte ihrer manisch-depressiven Mutter - und schreibt grandiose Literatur.
Ihr Fahrstil war sportlich, mit quietschenden Reifen fuhr sie über jede rote Ampel der Champs-Elysées, in der linken Hand die Zigarette, in der rechten das Steuer, auf dem Rücksitz die beiden Töchter. Catherine konnte ausrasten, ihre Kinder unflätig beschimpfen, um sie gleich danach in Liebe zu ertränken. Die kleine Violaine und ihre Schwester lieben die Mutter abgöttisch, aber sie ist krank, sie ist manisch-depressiv. Mit gnadenloser Aufrichtigkeit und großer Wärme erinnert sich Violaine Huisman an ihre schöne, witzige und widersprüchliche Mutter. Ein temporeicher, aufwühlender Roman über eine sehr unkonventionelle Familie.
Ihr Fahrstil war sportlich, mit quietschenden Reifen fuhr sie über jede rote Ampel der Champs-Elysées, in der linken Hand die Zigarette, in der rechten das Steuer, auf dem Rücksitz die beiden Töchter. Catherine konnte ausrasten, ihre Kinder unflätig beschimpfen, um sie gleich danach in Liebe zu ertränken. Die kleine Violaine und ihre Schwester lieben die Mutter abgöttisch, aber sie ist krank, sie ist manisch-depressiv. Mit gnadenloser Aufrichtigkeit und großer Wärme erinnert sich Violaine Huisman an ihre schöne, witzige und widersprüchliche Mutter. Ein temporeicher, aufwühlender Roman über eine sehr unkonventionelle Familie.
Violaine Huisman lebt seit 20 Jahren in New York, wo sie Literaturfestivals organisiert, als Lektorin arbeitet und aus dem Amerikanischen ins Französische, u.a. David Grann und Ben Lerner, übersetzt. Für ihren ersten Roman 'Die Entflohene' wurde sie mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Eva Scharenberg, geboren 1989, studierte Germanistik und Romanistik in Bonn und Literaturübersetzen in Düsseldorf und übersetzt seit 2014 aus dem Englischen, Französischen und Schwedischen. Zuletzt übersetzte sie Violaine Huisman, Shenaz Patel, Octave Mirbeau, Arthur Conan Doyle, Ann-Marie Ljungberg.
Produktdetails
- Verlag: S. Fischer Verlag GmbH
- Originaltitel: Fugitive parce que reine
- Artikelnr. des Verlages: 1023307
- 1. Auflage
- Seitenzahl: 256
- Erscheinungstermin: 24. April 2019
- Deutsch
- Abmessung: 211mm x 135mm x 25mm
- Gewicht: 381g
- ISBN-13: 9783103973914
- ISBN-10: 3103973918
- Artikelnr.: 54408260
Herstellerkennzeichnung
FISCHER, S.
Hedderichstraße 114
60596 Frankfurt
produktsicherheit@fischerverlage.de
Wo die Wärme nicht reicht, macht diese Frau Feuer
Nicht nur das Krankheitsbild ist komplex: Violaine Huisman schreibt romanhaft vom Leben und Sterben ihrer Mutter
Auch für eine Pariserin ist der Fahrstil extrem: "Immer und überall zu spät, fuhr sie manchmal über den Bürgersteig, wenn es nicht voranging - eine bewährte Methode, Staus zu umgehen. Mit der Zigarette in der linken Hand beschimpfte sie die Gaffer. Aus dem Weg! Wir haben es eilig!" Wenn Ordnungshüter einschreiten, müssen die zwei Töchter schwere Krankheit vortäuschen. Größere Wirkung entfaltet allerdings die "Charmenummer" der Mutter, einer ehemaligen Balletttänzerin, die Polizisten mühelos um den Finger wickelt. Was nach den nonchalanten Manieren einer
Nicht nur das Krankheitsbild ist komplex: Violaine Huisman schreibt romanhaft vom Leben und Sterben ihrer Mutter
Auch für eine Pariserin ist der Fahrstil extrem: "Immer und überall zu spät, fuhr sie manchmal über den Bürgersteig, wenn es nicht voranging - eine bewährte Methode, Staus zu umgehen. Mit der Zigarette in der linken Hand beschimpfte sie die Gaffer. Aus dem Weg! Wir haben es eilig!" Wenn Ordnungshüter einschreiten, müssen die zwei Töchter schwere Krankheit vortäuschen. Größere Wirkung entfaltet allerdings die "Charmenummer" der Mutter, einer ehemaligen Balletttänzerin, die Polizisten mühelos um den Finger wickelt. Was nach den nonchalanten Manieren einer
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Pariser Großbürgerin klingt, sind in Wahrheit Züge einer Manisch-Depressiven oder, um die Liste komplett aufzuzählen, einer Frau, die an folgenden Krankheitsbildern leidet: "Schizophrenie, Mythomanie, Kleptomanie, Alkoholismus, abwechselnd Depression und Hysterie."
Die Person, um die es geht, ist Catherine Cremnitz, 1947 geboren: Ihre Tochter Violaine Huisman, Jahrgang 1979, Lektorin und Übersetzerin, die seit 1998 in New York lebt, hat ihr "Die Entflohene" gewidmet. Es handelt sich um einen Roman, der nur insofern einer ist, als die literarische Gestaltung eine wichtige Rolle spielt; die Schilderungen sind wohl faktenbasiert. Im Französischen würde man von einem "récit de filiation", einer Abstammungsgeschichte, sprechen. Jedenfalls ist Catherines Leben an sich schon romanesk: die von schwerer Krankheit geprägte Kindheit, das Balletttanzen trotz eines verkürzten Beins, der übergriffige leibliche Vater, eine erste Ehe und ein Leben als Tanzlehrerin in Marseille, eine zweite Existenz in Paris als Gattin eines großbürgerlichen Kulturschaffenden ("der leibhaftige Salonbolschewist"), die Mutterschaft und eine Geliebte, das Ferienhaus in der Corrèze, die dritte Ehe mit einem Betrüger, eine späte Randexistenz in Westafrika, schließlich der Suizid.
Huisman erzählt in drei Teilen: Der erste berichtet aus der Ich-Perspektive der Tochter, ausgehend von den Ereignissen des Jahres 1989, als die Mutter der Zehnjährigen eingewiesen wird. Der zweite erzählt Catherines Geschichte bis 1989, und zwar chronologisch und aus der Außensicht; durch die dritte Person wirkt er unpersönlicher. Der dritte und kürzeste Teil berichtet von Tod und Seebestattung der Mutter 2009, folgt dem Erleben der dreißigjährigen Violaine.
Die Teile dienen dem Versuch, durch wechselnde Blickwinkel einem menschlichen Phänomen näherzukommen, das sich durch stete Grenzverletzung auszeichnet und droht unfassbar zu werden. Catherine ist eine Frau des Exzesses, verschlingt Alkohol, Zigaretten, Medikamente, Sexpartner, bis hin zum Metzger - "ein fetter Widerling" -, mit dem sie es auf dem Hackblock treibt. Ihre Umgebung wird Teil des Versuchs, die als Kind erlittene Vernachlässigung - während eines jahrelangen Krankenhausaufenthalts hat ihre Mutter sie nicht besucht - mittels eines permanenten Ausnahmezustandes erträglich zu machen: "Mamans Haushalt war eine Feuerstelle, sie heizte gut ein, damit dort das Feuer der Gefühle loderte, die leidenschaftliche Wärme ihres Vertrauens in die menschliche Seele." Wo die Wärme nicht reicht, fängt sie neu an, daher eine Vielzahl von Identitäten und Ehen, Abbrüchen - teils im wörtlichen Sinne: Eine Tanzschule fackelt Catherine ab - und Neuanfängen jeder Art.
So hart das Urteil bei einem Band klingt, der mehr sein will als "nur" ein gelungener Roman: Das Resultat ist literarisch gesehen gemischt. Gegen Ende fällt "Die Entflohene" ab. Teil zwei ist konventionell erzählt, manche Ereignisse werden wiederholt, was nur teilweise eine neue Sicht eröffnet, besonders das Verhalten von Catherines Mutter betreffend. Teil drei wiederum, der am direktesten auf emotionale Momente losgeht, ist zwar rührend, aber literarisch mau. Wir folgen darin Violaine und ihrer Schwester durch die Leichenhalle, sehen sie bei der Trauerfeier und beim Schmuggeln der Asche ins Flugzeug, wohnen deren Verteilen auf dem Meer vor Dakar bei. Die Erzählung spiegelt die Hilflosigkeit der jungen Frauen leider unbedarft wider - eine Erinnerung an die Einsicht, dass Sprache paradoxerweise oft am überzeugendsten wirkt, wenn sie am kunstvollsten vorgeht. An demselben heiklen und persönlichen Gegenstand - einem verrückten, verstorbenen Elternteil - hat das eine andere Französin, Gwenaëlle Aubry, unlängst vorgemacht: In "Niemand" (2009) umkreist sie in alphabetisch organisierten Stichwörtern das Leben ihres Vaters, ein Kunstgriff, der formalistisch scheinen mag, tatsächlich jedoch eine packende Darstellung ermöglicht.
Gegen diese Vorbehalte steht der wunderbare erste Teil von "Die Entflohene": Er berichtet über die Verwirrung der zehn Jahre alten Tochter angesichts der mütterlichen Krankheit. In einem Tonfall, der alles andere als weinerlich ist, zeigt Huisman ein extravagantes Leben, das verstört, aber vor Intensität glüht wie die kettengerauchten Kippen. Auch ohne den Versuch, die kindliche Wahrnehmung zu übernehmen, gelingt es Huisman, das Erlebte in einer halb chronologischen, halb assoziativen Verkettung, die ihrer eigenen Logik zu folgen scheint, glaubwürdig darzustellen. Hier erlaubt der Roman die Entdeckung eines faszinierenden Charakters, der sich aus dem Arbeitermilieu und einer schwierigen Familienkonstellation zu befreien sucht.
Das verrät schon Catherines Sprache, denn sie schmückte "diesen mondänen Stil mit Anspielungen auf die Popkultur, Sprüchen, billigem Argot, sie konnte einfach nicht anders, als ihre Sätze mit Schimpfwörtern zu spicken, so wie andere grundsätzlich ihr Essen nachsalzen". "Die Entflohene" profitiert von der lebhaften, phantasievollen, oft deftigen Sprache der Hauptfigur, und Eva Scharenberg überträgt diese über weite Strecken gut. An ein paar Stellen holpert es, zum Beispiel beim Einsatz der bestimmten Artikel bei französischen Wendungen, die angepasst werden sollten ("die Place", nicht "der"), sowie bei Regionen, wo es skurrilerweise "in Corrèze" heißt (statt "in der"). Von den genannten Einschränkungen abgesehen, ist "Die Entflohene" aber ein spannender, berührender und burlesker Lebensbericht, der die Lektüre lohnt.
NIKLAS BENDER
Violaine Huisman: "Die Entflohene". Roman.
Aus dem Französischen von Eva Scharenberg. Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2019. 256 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Person, um die es geht, ist Catherine Cremnitz, 1947 geboren: Ihre Tochter Violaine Huisman, Jahrgang 1979, Lektorin und Übersetzerin, die seit 1998 in New York lebt, hat ihr "Die Entflohene" gewidmet. Es handelt sich um einen Roman, der nur insofern einer ist, als die literarische Gestaltung eine wichtige Rolle spielt; die Schilderungen sind wohl faktenbasiert. Im Französischen würde man von einem "récit de filiation", einer Abstammungsgeschichte, sprechen. Jedenfalls ist Catherines Leben an sich schon romanesk: die von schwerer Krankheit geprägte Kindheit, das Balletttanzen trotz eines verkürzten Beins, der übergriffige leibliche Vater, eine erste Ehe und ein Leben als Tanzlehrerin in Marseille, eine zweite Existenz in Paris als Gattin eines großbürgerlichen Kulturschaffenden ("der leibhaftige Salonbolschewist"), die Mutterschaft und eine Geliebte, das Ferienhaus in der Corrèze, die dritte Ehe mit einem Betrüger, eine späte Randexistenz in Westafrika, schließlich der Suizid.
Huisman erzählt in drei Teilen: Der erste berichtet aus der Ich-Perspektive der Tochter, ausgehend von den Ereignissen des Jahres 1989, als die Mutter der Zehnjährigen eingewiesen wird. Der zweite erzählt Catherines Geschichte bis 1989, und zwar chronologisch und aus der Außensicht; durch die dritte Person wirkt er unpersönlicher. Der dritte und kürzeste Teil berichtet von Tod und Seebestattung der Mutter 2009, folgt dem Erleben der dreißigjährigen Violaine.
Die Teile dienen dem Versuch, durch wechselnde Blickwinkel einem menschlichen Phänomen näherzukommen, das sich durch stete Grenzverletzung auszeichnet und droht unfassbar zu werden. Catherine ist eine Frau des Exzesses, verschlingt Alkohol, Zigaretten, Medikamente, Sexpartner, bis hin zum Metzger - "ein fetter Widerling" -, mit dem sie es auf dem Hackblock treibt. Ihre Umgebung wird Teil des Versuchs, die als Kind erlittene Vernachlässigung - während eines jahrelangen Krankenhausaufenthalts hat ihre Mutter sie nicht besucht - mittels eines permanenten Ausnahmezustandes erträglich zu machen: "Mamans Haushalt war eine Feuerstelle, sie heizte gut ein, damit dort das Feuer der Gefühle loderte, die leidenschaftliche Wärme ihres Vertrauens in die menschliche Seele." Wo die Wärme nicht reicht, fängt sie neu an, daher eine Vielzahl von Identitäten und Ehen, Abbrüchen - teils im wörtlichen Sinne: Eine Tanzschule fackelt Catherine ab - und Neuanfängen jeder Art.
So hart das Urteil bei einem Band klingt, der mehr sein will als "nur" ein gelungener Roman: Das Resultat ist literarisch gesehen gemischt. Gegen Ende fällt "Die Entflohene" ab. Teil zwei ist konventionell erzählt, manche Ereignisse werden wiederholt, was nur teilweise eine neue Sicht eröffnet, besonders das Verhalten von Catherines Mutter betreffend. Teil drei wiederum, der am direktesten auf emotionale Momente losgeht, ist zwar rührend, aber literarisch mau. Wir folgen darin Violaine und ihrer Schwester durch die Leichenhalle, sehen sie bei der Trauerfeier und beim Schmuggeln der Asche ins Flugzeug, wohnen deren Verteilen auf dem Meer vor Dakar bei. Die Erzählung spiegelt die Hilflosigkeit der jungen Frauen leider unbedarft wider - eine Erinnerung an die Einsicht, dass Sprache paradoxerweise oft am überzeugendsten wirkt, wenn sie am kunstvollsten vorgeht. An demselben heiklen und persönlichen Gegenstand - einem verrückten, verstorbenen Elternteil - hat das eine andere Französin, Gwenaëlle Aubry, unlängst vorgemacht: In "Niemand" (2009) umkreist sie in alphabetisch organisierten Stichwörtern das Leben ihres Vaters, ein Kunstgriff, der formalistisch scheinen mag, tatsächlich jedoch eine packende Darstellung ermöglicht.
Gegen diese Vorbehalte steht der wunderbare erste Teil von "Die Entflohene": Er berichtet über die Verwirrung der zehn Jahre alten Tochter angesichts der mütterlichen Krankheit. In einem Tonfall, der alles andere als weinerlich ist, zeigt Huisman ein extravagantes Leben, das verstört, aber vor Intensität glüht wie die kettengerauchten Kippen. Auch ohne den Versuch, die kindliche Wahrnehmung zu übernehmen, gelingt es Huisman, das Erlebte in einer halb chronologischen, halb assoziativen Verkettung, die ihrer eigenen Logik zu folgen scheint, glaubwürdig darzustellen. Hier erlaubt der Roman die Entdeckung eines faszinierenden Charakters, der sich aus dem Arbeitermilieu und einer schwierigen Familienkonstellation zu befreien sucht.
Das verrät schon Catherines Sprache, denn sie schmückte "diesen mondänen Stil mit Anspielungen auf die Popkultur, Sprüchen, billigem Argot, sie konnte einfach nicht anders, als ihre Sätze mit Schimpfwörtern zu spicken, so wie andere grundsätzlich ihr Essen nachsalzen". "Die Entflohene" profitiert von der lebhaften, phantasievollen, oft deftigen Sprache der Hauptfigur, und Eva Scharenberg überträgt diese über weite Strecken gut. An ein paar Stellen holpert es, zum Beispiel beim Einsatz der bestimmten Artikel bei französischen Wendungen, die angepasst werden sollten ("die Place", nicht "der"), sowie bei Regionen, wo es skurrilerweise "in Corrèze" heißt (statt "in der"). Von den genannten Einschränkungen abgesehen, ist "Die Entflohene" aber ein spannender, berührender und burlesker Lebensbericht, der die Lektüre lohnt.
NIKLAS BENDER
Violaine Huisman: "Die Entflohene". Roman.
Aus dem Französischen von Eva Scharenberg. Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2019. 256 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Wurde je so klug, elegant und, ja, heiter, über Depressionen geschrieben wie in dieser Mutter-Tochter-Geschichte aus Paris? Mara Delius Welt.de 20191212
Catherine muss ihr Leben lang kämpfen. Um die Liebe der Mutter, den Erfolg, ihre Beziehungen, um ihr eigenes Überleben. Schon als Kind fühlt sie sich zurückgelassen, allein in einem Kinderkrankenhaus, ohne den Beistand ihrer Mutter. Diese früh fehlende Bindung ist das erste …
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Catherine muss ihr Leben lang kämpfen. Um die Liebe der Mutter, den Erfolg, ihre Beziehungen, um ihr eigenes Überleben. Schon als Kind fühlt sie sich zurückgelassen, allein in einem Kinderkrankenhaus, ohne den Beistand ihrer Mutter. Diese früh fehlende Bindung ist das erste Glied einer langen Kette, die aus ihr einen manisch-depressiven Menschen machen werden. Violaine Huisman, die jüngste der beiden Töchter von Catherine, rekonstruiert in einem atem(be)raubenden Lauf das Leben der eigenen Mutter, von ganz unten nach ganz oben und wieder zurück. Kein Stillstand, immer ein Kampf. Dabei beruft sie sich oftmals auf Erzählungen, die die Mutter immer wieder zum Besten gab, thematisiert sowohl ihr Liebes- als auch ihr Sexualleben ausführlich. Catherine war impulsiv, sie lebte immer am Rande zum Wahnsinn. Alkohol, Drogen, wechselnde Liebhaber, das alles bestimmte das Leben der Mutter und so auch das von Violaine und ihrer Schwester. Der Vater ist ein hohes Tier in der Geschäftswelt, der allabendlich vorbeikommt, um die Kinder zu Bett zu bringen. Doch die Beziehung zur Mutter ist lang zerbrochen, auch wenn sie sich immer noch lieben. Man lernt Maman durch die Augen der Tochter kennen, versteht ihre Exzesse selten, schüttelt stumm mit dem Kopf.
Doch dann kommt der zweite Part und hier lernt man die Frau hinter dem impulsiven Leben kennen. Catherine, die Frau, die siebenmal ihren Nachnamen wechselte und doch immer noch nicht weiß, wer sie nun eigentlich ist. Die sich in sich selbst verliert, in postnatalen Depressionen, im Rausch zwischen Liebe und Verzweiflung. Catherine, die Schöne, die aus der Arbeiterschicht nach ganz oben gelangte und die doch das einfache Leben auf dem Land liebte. Catherine, die voller Gegensätzlichkeiten war, die Mutter und Frau zugleich sein wollte und doch immer wieder an ihre Grenzen kam.
Es ist ein mitreißender Roman, in einem ungewöhnlichen Stil geschrieben. Lange Sätze, verschachtelt wie bei Thomas Mann, viele Gedanken ineinander verwoben. So, wie vermutlich auch Catherines Leben war. Von allem ein bisschen zu viel. Atemlos rannte ich dem Leben hinterher, das sich da vor mir ausbreitete, atemlos und zutiefst erschöpft, als ich am unvermeidlichen Ende ankam. Aber glücklich; glücklich dieses wunderbare Stück Literatur gefunden zu haben.
Fazit
Wer Lebensgeschichten mag, der kommt hier voll auf seine Kosten. Denn wenn Catherine eines tat, dann war es leben. Violaine Huisman zeichnet das Bild ihrer Mutter schonungslos und ohne rosa-Brillen-Verklärung und schreibt damit eine wunderbare Hommage an ihre eigene Mutter, die so viel gab, um zu leben.
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Die Entflohene
Violaine Huisman,
aus dem Französischen von Eva Scharenberg
TW: Vergewaltigung, Abtreibung, Suizid, Vernachlässigung von Kindern, Tabletten- und Alkoholmissbrauch.
„Maman hatte alle möglichen Verhaltensstörungen, man hätte sie auch gut in Form …
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Die Entflohene
Violaine Huisman,
aus dem Französischen von Eva Scharenberg
TW: Vergewaltigung, Abtreibung, Suizid, Vernachlässigung von Kindern, Tabletten- und Alkoholmissbrauch.
„Maman hatte alle möglichen Verhaltensstörungen, man hätte sie auch gut in Form einer Liste von Krankheitsbildern porträtieren können: Schizophrenie, Mythomanie, Kleptomanie, Alkoholismus, abwechselnd Depressionen und Hysterie. Sie konnte überdreht sein oder niedergeschlagen, essen wie ein Scheunendrescher oder fast verhungern, sie war in jeder Beziehung extrem.“ (S.49)
Violaine Huisman schreibt hier eine Hommage auf ihre wunderschöne, aber exzentrische Mutter Catherine („Maman war eine der schönsten Frauen der Welt. Das sagten alle, die sie in ihren Glanzzeiten erlebt hatten und ihre Schönheit war für sie selbst mindestens genauso fatal wie für ihre Männer und Frauen, die ihr verfielen.“ S.11), eine Frau, die einer Naturgewalt glich. Eine Ehefrau, die ihre drei Ehemänner hinterging oder selbst betrogen wurde. Eine Mutter, die ihre Kinder zwischen fanatischer Liebe und abstoßender Gleichgültigkeit behandelte: „Seht zu, wie ihr zurecht kommt!, das war der ewige Refrain ihrer Litaneien, sie sagte, wir sollen uns verpissen und nicht dauernd angeschissen kommen, wir sollten mal damit aufhören, auf die ganze Welt zu scheißen, wir sollten endlich kapieren, dass sie sich einen Scheiß für die Fragen und Sorgen verhätschelter fauler Gören interessierte. Seht zu, wie ihr zurechtkommt, ihr kotzt mich an mit euren bescheuerten Problemen! Das war aber nicht das Ende von Mamans Beschimpfungen, in der Regel fingen sie so erst an. (S.12)
Die Autorin teilt ihr Buch in drei Teile auf:
- Im ersten Teil sind Violaine und ihre ältere Schwester Teenager in Paris und sie erzählt im Rückblick, ein wenig durcheinander, jedoch absolut verständlich, wie es zu Catherines Einweisung in die Irrenanstalt kam und wie die Mädchen währenddessen herumgeschoben wurden. „Weihnachten war immer eine Qual, aber in diesem Jahr war es nur ein Martyrium, und ich konnte und kann immer noch nicht fassen, dass wir so tun mussten, als würden uns die Geschenke gefallen, weil wir Papa nicht kränken durften, ihm gefiel es, und wir durften ihn nicht verärgern, wir hatten nur ihn und waren nicht bereit, uns zu Waisen zu erklären, deshalb bemühten wir uns mitzuspielen, zu lächeln und danke zu sagen und möglichst vor Freude zu strahlen, damit Papa uns nicht in einem Wutanfall hinauswarf.“ (S.18)
- Im folgenden Teil wird ganz chronologisch das Leben Catherines von der Geburt an bis zur Einlieferung beschrieben. Mit allen Höhen und Tiefen lernen wir sie kennen und auch ein bisschen hassen.
- Im letzten Teil ist Violaine erwachsen und lebt seit zehn Jahren in den Vereinigten Staaten („ … es müsse mir gelingen, mein Leben zu leben, das, was sie mir an Leid und traumatischen Erfahrungen zugemutet habe, sei zu viel gewesen, ich müsse fortgehen, um mich woanders entfalten zu können, nicht auf den Trümmern ihres Schmerzes, nicht auf den Mienenfeldern unserer Vergangenheit, sondern in einem Land der Zukunft, in einer neuen Stadt. S. 221) und bekommt einen Anruf von ihrer Schwester, der sie zwingt noch einmal nach Paris zurückzukehren.
Huisman hat hier einen kraftvollen und imposanten Roman geschrieben. Auch wenn an Fäkalsprache nicht gespart wurde, so ist der Sprachstil fast immer auf hohem Niveau. Diverse Male habe ich zurückgeblättert, da ich dachte mich verlesen oder etwas verpasst zu haben. Ein autobiografisches Romandebüt, welches mich berührt hat..
Eine Leseempfehlung für diejenigen, die keine schwachen Nerven haben und französische Literatur lieben.
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