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Was eigentlich verkauft die Hure dem Freier? Was ist dieser »Sex«, den sie feilbietet, und woran bemisst sich sein Wert? Der Unmöglichkeit einer einfachen Antwort auf diese Fragen liegt die Ambivalenz zugrunde, mit der die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft auf die Prostituierte und ihr Gewerbe blickt. Die Hure ist in den Worten Walter Benjamins »Verkäuferin und Ware in einem«, sie verdinglicht sich zum käuflichen Objekt und bleibt doch unverfügbares Subjekt. Bis in die Debatten der aufgeklärten Gegenwart erscheint sie zugleich als preisgegebenes Opfer und arbeitsscheue Betrügerin, die…mehr

Produktbeschreibung
Was eigentlich verkauft die Hure dem Freier? Was ist dieser »Sex«, den sie feilbietet, und woran bemisst sich sein Wert? Der Unmöglichkeit einer einfachen Antwort auf diese Fragen liegt die Ambivalenz zugrunde, mit der die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft auf die Prostituierte und ihr Gewerbe blickt. Die Hure ist in den Worten Walter Benjamins »Verkäuferin und Ware in einem«, sie verdinglicht sich zum käuflichen Objekt und bleibt doch unverfügbares Subjekt. Bis in die Debatten der aufgeklärten Gegenwart erscheint sie zugleich als preisgegebenes Opfer und arbeitsscheue Betrügerin, die Prostitution als unverzichtbare Einrichtung und zu bekämpfendes Übel. Wie sehr das auch mit dem bürgerlichen Blick auf Frauen und ihre Körper zu tun hat, der zu jeder Zeit Kontrolle und Voyeurismus, Distanz und Neugier gleichermaßen ist, untersucht Theodora Becker in ihrer Dialektik der Hure und fragt nach der Ambivalenz der sexuellen Ware, die diesen Zuschreibungen und Umgangsweisen zugrunde liegt. Dabei verfolgt sie anhand der Prostitution den Zusammenhang von Subjektivität, Sexualität, Warenform und Arbeit in der bürgerlichen Gesellschaft sowie seine Wandlungen seit dem 19. Jahrhundert und spielt mit der Sehnsucht des Lesers, hinter den Vorhang zu blicken, um einen verstohlenen Blick auf die dort arbeitenden Huren zu erhaschen.
Autorenporträt
Theodora Becker studierte Philosophie, Politik- und Kulturwissenschaften und arbeitet u. a. im Gast-, Ausgrabungs-, Schreib-, Korrektur- und Ausschankgewerbe. Sie lebt in Berlin.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.02.2024

Auf der Suche danach, was die Prostituierte eigentlich verkauft
Wovon bei Sexarbeit nicht mehr die Rede ist: Theodora Becker analysiert aufschlussreich und eigenwillig den bürgerlichen Skandal- und Rätselcharakter käuflicher Lust

Im idealen Bordell des Wilhelminismus sollte es effizient, kontrolliert und klinisch rein zugehen. Zumindest war dies die Vision eines bis heute namentlich nicht bekannten Autors, der unter dem Kürzel "M.K.G." die 1905 erschienene Schrift "Städtische Lustanstalten. Ein ernstes Wort ohne Umschweife!" verfasste. Das darin beschriebene Musteretablissement glich einer Mischung aus arbeitsteiligem Massenbetrieb und Besserungsanstalt. Bis zu 5000 "Lustmädchen" zwischen 21 und 45 Jahren sollten in einem dieser Häuser beherbergt werden. Den größten Teil des Tages, so der Plan, verbrachten die Frauen mit Frischluft-Turnübungen unter Aufsicht, Putzen und Wäschewaschen. Erst ab 20.30 Uhr wurden sexuelle Dienste geleistet. Um "Abnutzung" zu vermeiden, sollte sich die städtisch angestellte Prostituierte höchstens einem Gast pro Abend, keinesfalls länger als zwei Stunden, widmen. Auch musste sich der Mann, bevor er die schmucklose, geflieste Zelle der Frau betreten durfte, einer rabiaten, von M.K.G. mit sadistischer Detailfreude geschilderten Intimreinigung durch einen eigens zu diesem Zweck engagierten männlichen "Arbeiter" unterziehen. Anschließend ging es zur Untersuchung durch den Lustanstaltsarzt. Wenn dieser weder Geistes- noch Geschlechtskrankheiten feststellen konnte, wurde der Freier endlich zur Zielperson vorgelassen, die ihn ungeschminkt, brav frisiert und mit einem "schlichten Baumwollhemd" bekleidet erwartete. Selbstverständlich war auch der Konsum von Alkohol im gesamten Gebäude strengstens untersagt.

Von der Umsetzung blieb diese Puritanerpuffphantasie weit entfernt. Gleichwohl steht die Schrift exemplarisch für die Eigentümlichkeiten, mit denen sich die Gesellschaft um 1900 am Thema der käuflichen Lust abarbeitete und sich dabei selbst den Spiegel vorhielt. Genaueres dazu erfährt man in Theodora Beckers Buch, einer material- und gedankenreichen Studie über die Genese der Prostitution aus dem Geist des bürgerlichen Zeitalters.

Folgt man Beckers Ausgangsbeobachtung, unterscheidet sich die Prostitution, die im neunzehnten Jahrhundert auf den Begriff gebracht werden sollte und zum Massenphänomen avancierte, grundlegend vom mittelalterlichen Dirnenwesen oder den Hetären der Antike. Maßgeblich hierfür war der Siegeszug der kapitalistischen Warenwirtschaft. Denn dadurch wurde dem Skandal- und Rätselcharakter des Lustgewerbes neben sexualmoralischen Fragen eine weitere Problemdimension hinzugefügt: "Die Prostitution erscheint einerseits als Widerspruch zum bürgerlichen Ideal von der Freiheit und Unveräußerlichkeit des Individuums, andererseits als vollkommenster und konsequentester Ausdruck der kapitalistischen Ökonomie", schreibt Becker, um sofort darauf zu verweisen, wie dieser Grundwiderspruch die moralische und ökonomische Logik des Bürgertums mit weiteren Ungereimtheiten herausforderte.

Denn auch wenn "die Hure die perfekte Ware ist", so geht sie noch längst nicht in der Warenförmigkeit oder sonstigen ökonomischen Begrifflichkeiten auf. Walter Benjamin brachte diese Besonderheit auf die Formel von der Prostituierten als "Verkäuferin und Ware in einem". Nur, was verkauft sie eigentlich? Sich selbst? Ihre Integrität als Subjekt? Ihren Körper? Eine Illusion? Woran genau bemessen sich Gebrauchs- und Tauschwert des prostitutiven Tauschverhältnisses? Ist die Prostituierte Betrügerin oder Betrogene? Täterin oder Opfer?

Für Becker gibt es darauf keine eindeutigen Antworten, sondern bloß die Betrachtung nimmermüder Versuche, Eindeutigkeiten und Ordnungskategorien zu erzwingen, die dem kapitalistisch nichtintegrierbaren Überschuss, dem "ambivalenten Schillern" der Ware Sex unmöglich gerecht werden. Diesen Leitgedanken buchstabiert die Autorin bis in die filigransten Verästelungen aus, während sie die Prostitutionsdebatten des späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts in ihrer aporetischen Dynamik skizziert. Dabei werden philosophische, literarische, soziologische, gesundheitspolitische, juristische und sozialreformerische Schriften nach thematischen Konjunkturen, Verschiebungen und Gegensätzen durchforstet.

In einem Punkt herrschte dabei quer durch die Lager Einigkeit: Prostitution galt nicht als "ehrliche" Arbeit. Allerdings wurden daraus unterschiedliche Schlüsse gezogen. Während weite Teile der Frauenbewegung sich für die Abschaffung starkmachten, war das Lager der "Regulationisten", zu denen auch M.K.G. gehörte, nicht nur von der Unausrottbarkeit der Prostitution überzeugt, sondern sah darin auch ein gesellschaftlich "notwendiges Übel", um unkontrollierbare Triebe zu kanalisieren. Also war das Ziel hier, das Lustgewerbe in eine möglichst folgenlose, berechenbare, arbeitsähnliche Form zu bringen. Dagegen stellt Becker die Texte von Otto Weininger, Karl Kraus und Frank Wedekind. Alle drei sprachen der Prostitution ein unregierbares, die bürgerliche Doppelmoral attackierendes Potential zu. Wobei dies bei Weininger mit einer wahnhaften Dämonisierung der weiblichen Sexualität einherging.

Dies alles ist bei Becker begrifflich ungemein trittsicher, methodisch konsequent und mit bemerkenswerter Fairness gegenüber den historischen Texten ausgeführt. Ein wenig ratlos lässt einen allerdings das vorletzte Kapitel zurück, in welchem Becker ihre "Dialektik der Hure" in "Metaphysik" transformiert. Dabei wird die "Hure" von der "Prostituierten" unterschieden. Letztere meint den Sozialcharakter, wie ihn das neunzehnte Jahrhundert hervorgebracht hat. Die "Hure" hingegen wird von Becker zum Ideal verklärt, zur ultimativen Künstlerin und Symbolfigur einer freiheitlichen Gesellschaftsutopie. Lust- und Erlösungsversprechen fallen dabei in eins. Die subversive, transzendierende Macht von Sex und Erotik wird so hemmungslos beschworen, als würde die Kulisse der Sittsamkeitsideale und Geschlechterrollen von 1900 noch stehen. Da dieser Kontrast jedoch nahezu vollständig verblasst ist, funktioniert die pompöse Hurenapotheose heute nicht einmal mehr als programmatische Zuspitzung.

Doch wäre Becker nicht die mit allen marxistisch-adornitischen Wassern gewaschene Dialektikerin, wenn sie diesen Exzess nicht umgehend wieder konterkarieren würde. Auf das anachronistisch anmutende Pathos folgt die nüchterne Einsicht in die unglamouröse Gegenwart der "Sexarbeiterin", deren Tätigkeit sich beinahe nahtlos in das Alltagsgeschäft der Dienstleistungsgesellschaft fügt.

Symptomatisch ist hier für Becker insbesondere das omnipräsente Therapie- und Wellnessvokabular, das Sexualität, auch käufliche, zum konventionellen Bestandteil zeitgenössischer Selbstoptimierungstrends erklärt. Der Geist des Verfassers von "Städtische Lustanstalten", der einst mit seinem Versuch, den erklärten unverzichtbaren Nutzen der Prostitution möglichst rein und kapitalisierbar hervortreten zu lassen, scheiterte, scheint heute unter den Vorzeichen der neoliberalen Psychohygiene wiederbelebt.

Zugleich trifft Beckers finale Polemik auch die Kehrseite der Medaille. Es geht gegen die modernen Abolitionistinnen, die Prostitution am liebsten gesetzlich verboten sähen. Vielleicht geht die Autorin hier ein wenig zu demonstrativ über die Tatsache hinweg, dass Zwangsprostituierte nicht nur als Elendsklischee in effektheischenden Fernsehreportagen existieren. Nur muss man Becker längst nicht in allem folgen, um anerkennend festzustellen, dass ihr Buch - darin ist es seiner Titelheldin durchaus ähnlich - sich durch unbezwingbare Eigenwilligkeit und faszinierenden intellektuellen Überschuss auszeichnet. MARIANNA LIEDER

Theodora Becker: "Dialektik der Hure". Von der "Prostitution" zur "Sex-Arbeit".

Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2023. 591 S., Abb., geb., 34,- Euro.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

In ihrem Buch stellt Theodora Becker kenntnisreich die "aporetische Dynamik" der Prostitution Ende des neunzehnten, Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts dar, schreibt Rezensentin Marianna Lieder. Becker stelle fest, dass Prostituierte zu Beginn des kapitalistischen Zeitalters zu einer Ware geworden seien, woraus, erfahren wir, zwei bestimmende Strömungen entstanden: einmal "Puritanerpuffphantasien", die Prostitution in einen geordneten Ablauf zwingen wollten. Auf der anderen Seite standen Schriftsteller wie Karl Kraus, die in dem Gewerbe eher die "bürgerliche Doppelmoral" erkannten, resümiert Lieder. Die Kritikerin lobt, dass Becker hierbei fair mit den zeitgenössischen Texten umgeht, moniert aber, dass die Autorin später versucht die Begriffe "Prostituierte" und "Hure" dialektisch voneinander zu trennen. Auch die heutige Zeit reiße Becker an und führe aus, dass sich die Prostitution durch die "neoliberale Psychohygiene" und den Zwang zu sexueller Selbstoptimierung bis heute gut in den kapitalistischen Alltag integrieren lasse. Ein Buch mit großem "intellektuellem Überschuss", schließt Lieder.

© Perlentaucher Medien GmbH