Produktdetails
  • Verlag: CW Niemeyer
  • ISBN-13: 9783875858846
  • Artikelnr.: 25119461
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.02.2017

Die Lesbarkeit dieser Landschaft
Das Land, der Himmel, ein Künstler und die Macht: Siegfried Lenz' "Deutschstunde" in der Hamburger Ausgabe

Der enorme Erfolg von Siegfried Lenz' nachgelassenem Roman "Der Überläufer" (F.A.Z. vom 3. März 2016) bei Kritikern und Lesern gibt zu denken. Das erstaunliche Interesse an der Geschichte des eigentlich pflichtgetreuen deutschen Soldaten im zweiten Weltkrieg, der angesichts der Sinnlosigkeit seines Kommandos zum ukrainischen Widerstand desertiert, scheint zu zeigen, dass die Nachkriegszeit noch immer nicht vorüber ist, dass viele, nicht nur ältere Leser, wissen wollen, was Menschen in den Schrecken des Zwanzigsten Jahrhunderts taten und erlitten.

Die Begeisterung der heutigen Leser für den 1952 geschriebenen Roman deutet wohl auch darauf hin, dass ein Autor wie Lenz im gegenwärtigen Spektrum der deutschen Literatur fehlt. Einer, der populär schreibt, ohne trivial zu sein, politisch bewusst ohne Parteilichkeit, einer, der seine Leser anspricht, ohne sich anzubiedern, so wie er trotz leiser Ironie immer auf der Seite der Menschen steht, die er beschreibt. Schließlich auch einer, der sich als öffentliche Person in seiner Bescheidenheit und höflichen Festigkeit allseitige Wertschätzung erwarb.

Als neuester Band der jüngst begonnenen Hamburger Ausgabe der Werke erscheint nun Lenz' 1968 veröffentlichter umfangreichster Roman "Deutschstunde", der den Autor durch Übersetzungen in mehr als zwanzig Sprachen weltberühmt machte. Dabei erscheint die Handlung alles andere als weltbewegend. In der 1954 spielenden Rahmenhandlung soll Siggi Jepsen, Insasse einer Jugendstrafanstalt, einen Aufsatz über die "Freuden der Pflicht" schreiben. Das Thema aber löst bei ihm eine solche Flut von Erinnerungen aus, dass er nicht imstande ist, etwas zu Papier zu bringen. Unter verschärftem Arrest muss er den Aufsatz als Strafarbeit nachholen.

Die entfaltet nun die Haupthandlung des Romans, die bis ins Jahr 1943 zurückreicht. Den Begriff der Pflicht verbindet Siggi vor allem mit seinem Vater Ole Jepsen, der als nördlichster Polizeiposten Deutschlands in dem schleswig-holsteinischen Dorf Rugbüll seinen Dienst versieht. Zunehmend wahnhaft geht er dem ominösen Befehl nach, das dem Künstler Max Ludwig Nansen von den Nationalsozialisten auferlegte Malverbot zu überwachen. Siggi aber stellt sich in seiner Interpretation der Pflicht gegen die obrigkeitshörigen Eltern auf die Seite des Malers, warnt ihn und versteckt dessen Bilder. Nach dem Krieg können weder Siggi noch der Vater von ihrer Passion lassen. Obwohl seines Postens enthoben, hört der Vater nicht auf, den Maler zu verfolgen, während Siggi immer noch glaubt, Nansen schützen zu müssen, indem er dessen Werke aus einer Ausstellung entfernt, wofür er wegen Diebstahls zu einer Jugendstrafe verurteilt wird.

In den frühen Kritiken ist angemerkt worden, dass der Roman durch die ausgreifenden Landschaftsbeschreibungen und die Fülle von teils anekdotisch eingeführten Nebenfiguren Gefahr laufe, das eigentliche Thema zu zerfasern. Das zeugte von mangelndem Verständnis dessen, was Lenz zu erzählen hat. Landschaftsbeschreibungen spielten schon in den früheren Romanen die Rolle eines tragenden Grundes der Begebenheiten; in "Deutschstunde" werden sie in der Korrespondenz der Sicht des Malers und des Erzählers auf meisterliche Weise integraler Bestandteil einer Rückführung des modernen Romans auf Urformen des Epischen. Menschliche Begebenheiten spielen sich unter einem bestimmten Himmel in einer bestimmten Landschaft ab, die das Verhalten, die Befindlichkeit und die Wahrnehmung der handelnden Personen prägt. Davon wird in großer Klarheit und in schöner Einfachheit erzählt, was des Erzählens wert erscheint, ohne Unterscheidung in Haupt- und Nebensachen. Gerade die Emil Nolde nachgebildeten Bildbeschreibungen in der Spiegelung mit den erzählten Landschaften rücken das Thema von Kunst und Macht auf einzigartige Weise ins Licht, bringen es zur Sichtbarkeit.

Das hat beim Wiederlesen nichts von seiner eingängigen Überzeugungskraft verloren. Im Gegensatz zu Vielem aus dem Umkreis der Gruppe 47, zu der sich Lenz allerdings in freundlicher Distanz hielt, wirkt in "Deutschstunde" nichts verstaubt, veraltet oder modernistisch überanstrengt. Das hat zweifellos seinen Grund in einer Beschreibungsfähigkeit, einer den Leser einnehmenden erzählerischen Ruhe und Genauigkeit, die auf alles Sensationelle verzichten kann.

Marcel Reich-Ranicki hat nach dem überwältigenden Publikumserfolg der "Deutschstunde" auf sonderbare Weise versucht, Lenz zu dem Geständnis zu bewegen, der Roman werde vielleicht für seine Schwächen von den Lesern besonders geliebt. Ob er denn nicht einem "eher fragwürdigen Publikumsgeschmack" entgegenkäme, vielleicht ohne es zu wissen. Lenz antwortete in der ihm eigenen Noblesse, zuletzt aber mit einer listigen Wendung. Sollte es denn "darauf hinauslaufen, mich selbst einen spezifischen Makel für mein Werk finden zu lassen, nun, es hat den Makel der Lesbarkeit". Siegfried Lenz aber war als Erzähler selbst ein Leser: der Landschaft, der Menschen, der Welt. Lesbarkeit eignet seinem Schreiben als Qualität seiner Beobachtungsgabe, nicht als Anpassung an vermeintliche Erwartungen. Denn bei aller Eingängigkeit werden dem Leser der "Deutschstunde" das Denken und die Beurteilung der Folgen der deutschen Geschichte nicht abgenommen.

Für eine über den Text hinausgehende Reflexion findet der Leser in der Edition der Hamburger Ausgabe mannigfaltige Materialien. Der konzise Kommentar von Günter Berg berichtet zunächst über die Entstehung. Lenz wollte die Handlung wie in vorherigen Romanen und Erzählungen ursprünglich im Masurischen spielen lassen, fühlte dann aber seine Phantasie "in einem stilisierten Land" gefangen und entschloss sich, "bei steifem Nordwind, knackendem Öfchen und gutem Rum", sie in den Landstrich zu verlegen, in den Emil Noldes Werke eingebunden waren und in dem Lenz selbst schon länger lebte: "dies Land, dieser Himmel, ein Künstler und die Macht". Erst im Laufe der mehrjährigen Arbeit erwuchs ihm der Ehrgeiz, in dem Roman die Höhe und "die Summe seines Könnens" vorzuzeigen. Die im Band dokumentierte zeitgenössische Rezeption kam überwiegend zu dem Schluss, dass Lenz das gelungen war. Er selbst aber war bei aller Bescheidenheit ebenfalls damit zufrieden. Siegfried Lenz war schon in jungen Jahren kein Naiver, für den ihn manch einer, so der Lektor von "Der Überläufer", hielt; er wusste, was er tat, und war sich auch im zeitweiligen Irrweg seiner Mittel bewusst.

In einem eigenen Kapitel zu den nicht unproblematischen Beziehungen des Romans zu Leben und Werk Emil Noldes wird deutlicher als bisher, dass Lenz bei Abfassung der "Deutschstunde" über differenzierte Kenntnisse Noldes und auch über dessen nationalsozialistische Verstrickungen verfügte. Als Quellen sind eine Rede von Walter Jens und die Nolde-Monographie von Werner Haftmann besonders aufschlussreich, aber Lenz wusste offenbar noch mehr. Im Roman aber wird der Maler weder entschuldigt noch verurteilt, ebenso wenig wie der Polizist. Richten gehörte für Lenz nicht zum Amt des Erzählers: "Ich wende mich an einen unabhängigen Leser, der seine eigenen Schlüsse zieht."

Der knappe Stellenkommentar beschränkt sich weitgehend auf historische und kunstgeschichtliche Sacherklärungen sowie auf einzelne Wendungen norddeutschen Sprachgebrauchs. So zeigt sich auch daran, dass wenig Anstalten nötig sind, um die Lesbarkeit des Romans für heutige Leser zu sichern. Vorsichtshalber wird für handwerklich Unbedarfte aber doch erläutert, was eine Lötlampe ist. Im Anhang findet sich die Dokumentation gestrichener Passagen und verworfener Entwürfe sowie eine ausführliche, wenngleich nicht vollständige Bibliographie.

Mit diesem Band kann sich der Leser nun eine Vorstellung von der auf fünfundzwanzig Bände angelegten Hamburger Ausgabe machen, die von Heinrich Detering und Günter Berg in Zusammenarbeit mit der Siegfried Lenz Stiftung und dem Deutschen Literaturarchiv in Marbach verantwortet wird. Das Ganze wird kein Editionsexzess, sondern eine auf interessierte Leser ausgerichtete Ausgabe, ist also dem bei allem Erfolg immer bescheiden gebliebenen Autor Siegfried Lenz angemessen. Dass Hoffmann und Campe diese Schatztruhe der deutschen Literatur ins Verlagsprogramm aufgenommen hat, ist ein Glück und ein Zeugnis der lebenslangen Verbundenheit mit einem Autor, der zeitweiligen widrigen Umständen und übrigens auch Frankfurter Lockrufen entgegen seinem Verlag treu geblieben ist.

FRIEDMAR APEL.

Siegfried Lenz: "Deutschstunde". Roman.

Hrsg. von Günter Berg. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2017. 758 S., geb., 44,- [Euro].

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