Handlung des Comics "Der verkehrte Himmel" denkbar spezifisch und damit alles andere als allgemeingültig: Tâm, Dennis und Hoa Binh lernen sich im Zeitraum von zwei brütend heißen Hochsommerwochen der Vor-Corona-Zeit in der Trabantenstadtatmosphäre von Berlin-Lichtenberg kennen. Zwei ihrer Namen signalisieren bereits, was für alle drei Protagonisten gilt: Die familiären Wurzeln liegen in Vietnam. Dennis und Tâm sind Geschwister, sechzehnjähriger Sohn und zwölfjährige Tochter von ehedem in die DDR gelangten vietnamesischen Vertragsarbeitern. Die gerade dem Teenageralter entwachsene Hoa Binh dagegen hat sich vor zwei Jahren in die Hände einer Schleuserorganisation begeben, um von Deutschland aus ihre in der Heimat zurückbleibende Familie mit Geld zu unterstützen. Auf der Durchgangsstation Moskau kam sie in die Hände eines Deutschen, der sie ins deutsch-polnische Grenzgebiet verschleppte und dort zur Prostitution zwang. Entkommen konnte sie ihm nur, weil sie im abgeriegelten Van des Zuhälters Zugriff auf ein Hackebeil bekam. Es stammte von Dennis, aber die genauen Umstände tun hier nichts zur Sache.
Sie nähmen zu viel von dem vorweg, was den Hauptreiz von "Der verkehrte Himmel" ausmacht: sein ausgefeiltes Szenario, das noch die wildesten Wendungen plausibel macht - und damit ein fulminantes Krimigenrestück bietet. Das jedoch noch weit darüber hinausgeht, denn was Mikael Ross da unter Mitarbeit des notorisch brillanten Berliner Comic-Skriptdoktors Jean-Baptiste Coursaud geschrieben hat, ist in psychologischer, soziologischer und pathologischer Hinsicht ein Erzählkunststück. Psychologisch, weil das zentrale Figurentrio drei Alterskohorten einer einzigen Generation mit deren jeweiligen Träumen, Zweifeln und Empfindlichkeiten abdeckt: die noch vorpubertäre Tâm, der schon halbwüchsige Dennis und die erzwungenermaßen jung erwachsen gewordene Hoa Binh. Soziologisch, weil dieser Comic ein Bild von Lichtenberg und seiner Bevölkerung bietet, das dokumentarische Präzision vermittelt. Und pathologisch, weil im Laufe des Geschehens der geprellte Zuhälter eine immer zentralere Rolle einnimmt, die eine verwundete Seele erkennen lässt, ohne dass dadurch aber auch nur ein Hauch von Sympathie bei uns für ihn entstünde.
Geschrieben also ist der Comic meisterhaft, aber die grafische Umsetzung übertrifft sogar noch die Qualität des Szenarios. Ross hatte schon in seinem vor zehn Jahren erschienenen kommerziellen Comicdebüt, "Lauter Leben!" (damals noch nach fremder Textvorlage), ein atemraubend intensives Berlin-Stadtporträt gezeichnet. Seitdem siedelte er seine Geschichten im Wald ("Totem"), in einer psychiatrischen Betreuungseinrichtung auf dem Lande ("Der Umfall") und im Bonn des ausgehenden achtzehnten Jahrhunderts an ("Goldjunge"). Und er wandelte auch jedes Mal seinen Stil: vom physisch übersteigerten Realismus eines Blutch über die kindlich-naiv anmutende Figurenzeichnung eines Manu Larcenet bis zur cartoonesken Welt eines Christophe Blain. Nun ist der erkennbar mit französischen Vorbildern ästhetisch sozialisierte Ross bei Baru angekommen.
Der hat "Autoroute du Soleil" gezeichnet, einen der bis heute beeindruckendsten europäischen Comics (F.A.Z. vom 8. Mai 2000), weil darin eine mit Krimi-Elementen durchsetzte klassische Coming-of-Age-Geschichte westlicher Provenienz in mangatypische Expressivität, Seitenarchitektur und Zeitrhythmus gekleidet wurde - Barus Comic war 1994 für den japanischen Markt entstanden. Dadurch entstand eine kongeniale Gefühlsintensität, weil vertraute erzählerische Muster konfrontiert wurden mit einem fremdartig wirkenden Zeichenstil. Dieser Zwiespalt vermittelte das für die Handlung zentrale Irritationserlebnis junger Menschen in einer sich ihnen mit einem Mal als verstörend präsentierenden Welt.
Ob Ross sich für "Der verkehrte Himmel" bewusst an Barus Vorbild orientiert hat oder nur instinktiv mit denselben Mitteln auf diese Lektüreerfahrung abzielt, ist gleichgültig. Dass es überhaupt noch einmal jemandem gelingen würde, auf solche Weise zu erzählen, ist bemerkenswert genug: mit einem Gegensatzpaar als Identifikationsfiguren (bei Baru sind das die Freunde Karim und Alexandre, bei Ross die Geschwister Tâm und Dennis), mit einem gewalttätig-dämonischen Verfolger und mit Nebenpersonal, das ebenso unvergesslich bleibt wie die Hauptakteure - genannt seien für "Der verkehrte Himmel" diesbezüglich nur der als Halbwaise aufgewachsene Alex aus Tâms Klasse, die mit denkbar rauem Charme um Dennis werbende Motorradfahrerin Marina und die bereits betagte Kleingärtnerin Jutta. Sie alle werden sich als unentbehrliche Lichtenberger Verbündete im Kampf um Hoa Binhs Freiheit erweisen.
In diesem Kampf geht es hoch her, und Ross zieht dafür zeichnerisch alle Register. Er nutzt die in Manga übliche Dynamik virtuos bei Verfolgungsjagden und Actionszenen, lässt Lautmalereien wie Donnerschläge in seine Panels einbrechen, und computergenerierte Raster und Speedlines vermitteln zeichnerischen Retrocharme, wie ihn auch Mangaka gerne nutzen. Im Vergleich mit den früheren Alben von Ross ist "Der verkehrte Himmel" denn auch kleinformatig, selbstredend broschiert wie ein Manga und schwarzweiß.
Allerdings lässt Ross in emotionalen Schlüsselmomenten Rosarot auf einzelne Seiten fluten, um Tâms Gefühlswelt deutlich zu machen, und für die Zweisprachigkeit, die das Zusammenspiel der Hauptfiguren ausmacht, hat er den simplen Kunstgriff ersonnen, auf Deutsch geführte Dialoge durch runde Sprechblasen, die vietnamesischen dagegen durch eckige deutlich zu machen. Auf solche Weisen mit einem Blick Erzählelemente erfassen zu lassen ist die eigentliche zeichnerische Herausforderung für Comics. "Der verkehrte Himmel" taugt als Musterbeispiel für ein derartiges visuelles Erzählen.
Erschienen ist der Band beim Berliner Avant-Verlag, Ross' publizistische Heimat von Beginn an. War "Der Umfall" vor sechs Jahren als erste eigene Geschichte des Zeichners eine Verheißung, so ist "Der verkehrte Himmel" nun Bestätigung dafür, dass da ein Könner und Kenner agiert, der die Möglichkeiten seines Metiers mit einer Geschicklichkeit ausschöpft, die ihresgleichen sucht. ANDREAS PLATTHAUS
Mikael Ross: "Der verkehrte Himmel".
Avant Verlag, Berlin 2024. 342 S., Abb., br., 28,- Euro.
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