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Das intellektuelle Gesicht einer Epoche
Solange Philipp Felsch zurückdenken kann, war Jürgen Habermas around: als mahnende Stimme der Vernunft, als Stichwortgeber der Erinnerungskultur, als Sohn der Nachbarn seiner Großeltern in Gummersbach.
Neigt sich die intellektuelle Lufthoheit des Philosophen heute ihrem Ende zu, oder bekommen seine Ideen in der Krise unserer »Zeitenwende« neue Brisanz?
Felsch liest in einem kaum zu überblickenden Oeuvre nach, folgt dessen Autor in die intellektuelle Kampfzone der Bundesrepublik und fährt nach Starnberg, um Habermas zum Tee zu treffen. Dabei
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Produktbeschreibung
Das intellektuelle Gesicht einer Epoche

Solange Philipp Felsch zurückdenken kann, war Jürgen Habermas around: als mahnende Stimme der Vernunft, als Stichwortgeber der Erinnerungskultur, als Sohn der Nachbarn seiner Großeltern in Gummersbach.

Neigt sich die intellektuelle Lufthoheit des Philosophen heute ihrem Ende zu, oder bekommen seine Ideen in der Krise unserer »Zeitenwende« neue Brisanz?

Felsch liest in einem kaum zu überblickenden Oeuvre nach, folgt dessen Autor in die intellektuelle Kampfzone der Bundesrepublik und fährt nach Starnberg, um Habermas zum Tee zu treffen. Dabei entsteht nicht nur das Porträt eines faszinierend widersprüchlichen Denkers, sondern auch der Epoche, der er sein Gesicht verliehen hat.
Autorenporträt
Philipp Felsch, geboren 1972, ist Professor für Kulturgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Im Studium las er lieber die Bücher von Michel Foucault und Niklas Luhmann als den Strukturwandel der Öffentlichkeit. Sein Buch Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte, 1960-1990 (2015) wurde für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert, zuletzt erschien Wie Nietzsche aus der Kälte kam (2022).
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Dass sich hinter der akademischen Fassade und der abstrakten Sprache von Jürgen Habermas ein überraschend energetischer, auch wütender Mann verbirgt, kann Rezensent Thomas Ribi in Philipp Felschs Biografie über den Philosophen nachlesen. Unter den Akademikern ist Habermas eventuell der "akademischste", meint Ribi, aber hier begegnet er ihm viel mehr als "Citoyen im Sinne der Aufklärung", als engagierter Intellektueller, der nie aufhörte, sich politisch zu engagieren und dabei auch gegen den Strom zu schwimmen. Durch seine Kritik an Heidegger zu Bekanntheit gelangt, stellte sich der Philosoph später gegen die Studentenbewegung um Rudi Dutschke, weiß Ribi, was ihm in der linken Szene keinen guten Ruf einbrachte - gerne liest der Rezensent in diesem "bemerkenswerten" Buch von einem ungewöhnlich zornigen Habermas.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.03.2024

Geistige Freshness

Der Kulturhistoriker Philipp Felsch erzählt, wie Habermas zum Meisterdenker der Bundesrepublik wurde und heute um deren politische Ideale fürchtet.

Von Mark Siemons

Ganz am Ende dieses leichtfüßigen und eleganten, ebenso treff- wie stilsicher formulierenden Buchs über Habermas und die bundesrepublikanische Ära - wie sie einander wechselseitig spiegeln - steht ein erschütternder Satz aus dem vergangenen September: "All das, was sein Leben ausgemacht habe, gehe gegenwärtig 'Schritt für Schritt' verloren." Das ist ein indirektes Zitat von Habermas selbst, und der Kulturhistoriker Philipp Felsch, der es aus dem Wohnzimmer des Philosophen überliefert, stellt ihm gleich, gewissermaßen als nachgelieferte Ermahnung an sich selbst, eine Warnung zur Seite, die Habermas um die gleiche Zeit herum in einem Interview geäußert hatte: "Es ist zu billig, sich über einen solchen Idealismus rückblickend lustig zu machen. Jeder gute Zeithistoriker schreibt Geschichte nicht nur zynisch vom enttäuschenden Ergebnis her."

Tatsächlich tappt Felsch in diese Falle nicht. In jede einzelne Lebens- und Schreibetappe des heute 94-Jährigen taucht er mit gleicher Gegenwärtigkeit ein, voller Verwunderung, wie es Habermas gelang, immer irgendwie zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein, von der Polemik gegen Heidegger in der F.A.Z., mit der er 1952 bekannt wurde, über "Erkenntnis und Interesse" und seine Präsenz am Ort der Frankfurter Schule als Horkheimer-Nachfolger in den Sechzigerjahren der Studentenbewegung bis zu seinem Rückzug ins Starnberger Max-Planck-Institut zu Beginn der Siebzigerjahre, die er laut Felsch weit besser als seine Zeitgenossen, "an geistiger Freshness unbeschadet", überstanden habe. Erst beim Hauptwerk "Theorie des kommunikativen Handelns" von 1981 liest Felsch den zum Teil enttäuschten Rezensionen ein erstes Auseinanderfallen mit dem Zeitgeist ab, der sich damals von Großtheorien zu verabschieden begonnen habe. Doch auch in den Jahrzehnten danach sei es Habermas mit zahlreichen publizistischen Interventionen, zumal bei dem von ihm initiierten Historikerstreit, gelungen, die intellektuellen Frontlinien in seinem Sinne zu ordnen (einen "listenreichen Konservativismenfahnder" nannte ihn sein Kollege Dieter Henrich einmal).

Das kleine Buch ist weder eine Biographie - entscheidende Momente des Lebens werden eher fragend angedeutet, als dass versucht würde, sie zu entschlüsseln - noch eine philosophische Auseinandersetzung mit der Theorie. Als Kulturgeschichtler geht es Felsch um den Denker vor allem als Katalysator wechselnder westdeutscher Stimmungen, um den gefühlten Habermas gewissermaßen. Er klopft die vorhandenen Texte, Interviews und Dokumente - Habermas gewährte ihm Zugang zu seinem Vorlass im Frankfurter Universitätsarchiv - auf ihre zeitdiagnostische Symptomatik hin ab, lässt sich den zeittypischen Geschmack ihres "spröden Vokabulars", vom "herrschaftsfreien Diskurs" bis zur "Kolonisierung der Lebenswelt", auf der Zunge zergehen. Das läuft den ursprünglichen philosophischen Absichten nicht unbedingt zuwider; Habermas selbst zitiert er einmal mit der Bemerkung, die Philosophie verdanke ihre Problemstellungen "dem, womit sie auch in die Breite wirkt". Fluchtpunkt dieser Zeitabhängigkeit ist die Bundesrepublik. Je älter Habermas wird, desto offener bescheinigt er ihr "eine große intellektuelle Leistung" - sie habe "zum ersten Mal seit Jahrhunderten" die Deutschen zu "Zeitgenossen des westlichen Europas" werden lassen. Tatsächlich, resümiert Felsch, sei Habermas in dieser Bundesrepublik die "Rolle des Meisterdenkers" zugefallen, "der der verspäteten Zivilisierung seiner Landsleute die Weihen eines philosophischen Systems verlieh".

Darin steckt eine Paradoxie. Habermas bleibt nämlich auch bei der Entwicklung seiner universalistischen Theorie einer idealen politischen Kommunikation, einer postnationalen Zukunft, ganz "innerhalb eines bundesrepublikanischen Horizonts", also unter den extrem partikularen Bedingungen dieses zunächst nicht souveränen Staats unter dem atomaren Schutzschild Amerikas, dessen junge Intellektuellengeneration nach dem nationalsozialistischen Zivilisationsbruch ihre Hauptaufgabe in einer umfassenden Neubegründung der Politik erkannte.

Felsch weist darauf hin, dass bei den von Habermas herausgegebenen "Stichworten zur geistigen Situation der Zeit" von 1979 die Welt außerhalb der deutschen Grenzen so gut wie keine Rolle spielt, und noch nach dem Mauerfall habe für Christa Wolf aus Habermas' Furcht vor ihren unaufgeklärten Landsleuten eine bestürzende Ignoranz gesprochen. Allerdings ist diese Beschränkung auf den bundesrepublikanischen Horizont auch Teil der speziellen Dramaturgie von Felschs Buch und seines Projekts einer Archäologie der geistigen Welt Westdeutschlands, zu dem zuvor auch schon seine brillante Chronik des Merve-Verlags ("Der lange Sommer der Theorie") gehörte. Habermas' globaler Einfluss, etwa auf chinesische Intellektuelle nach seiner Vortragsreise 2001, kommt bei Felsch ebenso wenig vor wie dessen jüngstes großes Buch, "Auch eine Geschichte der Philosophie" von 2019, in dem er sich von Laotse über Buddha bis zu Thomas von Aquin für "Anregungspotentiale" weit jenseits der Grenzen der BRD aufgeschlossen zeigt.

Felschs dialektische Schlussvolte - "vielleicht stellt gerade das, womit Habermas seiner Zeit am stärksten verhaftet war, sein zeitloses Vermächtnis dar" - ist daher etwas unbefriedigend, auch weil sie so unvermittelt auf den zuvor mitgeteilten Eindruck des Philosophen selbst folgt, es gehe zurzeit verloren, was sein Leben ausgemacht habe. Gewiss wird sich Habermas' Philosophie als dauerhafter erweisen als die historischen Umstände, denen sie ihre Entstehung verdankt. Doch was bedeutet diese eher allgemeine Annahme konkret für die Einschätzung der heutigen Lage, dafür, wie sich die Bundesrepublik und ihr Philosoph im gegenwärtigen Moment spiegeln? "In meinem Alter verhehle ich nicht eine gewisse Überraschung", hieß es in seiner von Felsch nicht direkt zitierten Intervention zum Ukrainekrieg im April 2022: "Wie tief muss der Boden der kulturellen Selbstverständlichkeiten, auf dem unsere Kinder und Enkel heute leben, umgepflügt worden sein, wenn sogar die konservative Presse nach den Staatsanwälten eines Internationalen Strafgerichtshofes ruft, der weder von Russland und China noch von den USA anerkannt wird."

In dieser Stellungnahme mischt sich auf raffinierte Weise die Genugtuung über die Verwurzelung universalistischer Normen im kollektiven Bewusstsein der Deutschen, an der er ja seinen nicht geringen Anteil hatte, mit dem Vorwurf, diese Normen im konkreten außenpolitischen Fall fahrlässig naiv beim Nennwert zu nehmen. Es ist noch nicht so lange her, dass er das selber getan hatte. Er hatte die militärischen Interventionen im Irak 1991 und im Kosovo 1999 im Hinblick auf eine künftige "durchgehend verrechtlichte kosmopolitische Ordnung" noch gerechtfertigt. Damals hatte er offenbar nicht mit dem dramatischen Machtverlust des Westens gerechnet, der einer Verwirklichung seiner Philosophie eine realpolitische Grenze ziehen würde. Zwar will er schon seit Langem den Philosophen und den Publizisten scharf voneinander geschieden wissen, doch erst seitdem die NATO dem Universalismus keinen verlässlichen machtpolitischen Schutzschirm mehr bieten kann, scheinen die beiden Rollen sogar in Opposition zueinander treten zu können. Indem er davor warnt, eine illusionär gewordene Weltinnenpolitik mit kriegerischen Mitteln durchsetzen zu wollen, ist der Publizist aus dem Schatten jener Zeit herausgetreten, der der Philosoph seine weiter gültig bleibende Theorie verdankt.

Philipp Felsch: "Der Philosoph. Habermas und wir". Propyläen Verlag, 256 Seiten, 24 Euro.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 16.03.2024

Der letzte
Idealist
Philipp Felsch besucht Jürgen Habermas, um ihn
als Zentralgestirn der deutschen Debattengeschichte
zu porträtieren. Er trifft einen bestürzend
desillusionierten Beobachter unserer Gegenwart.
VON JENS-CHRISTIAN RABE
So hat noch kein Buch über Jürgen Habermas begonnen. Im Stil eines großen amerikanischen Magazin-Porträts, wie man sie etwa im New Yorker findet, beginnt der Berliner Kulturhistoriker Philipp Felsch sein Werk über den berühmtesten lebenden Philosophen und Soziologen deutscher Sprache. Drehbuchhaft, anschaulich – und der Porträtierende ist auch sofort selbst im Spiel: „In den vierzig Minuten, die die Fahrt vom Münchner Hauptbahnhof gedauert hat, scheine ich nach Long Island gelangt zu sein. Der modernistische Bungalow, der einen bewaldeten Abhang überblickt, würde besser in die Hamptons als nach Oberbayern passen; in seinen Chinos und fabrikneuen Reeboks kommt mir der Hausherr wie ein Amerikaner vor. Trotz seines Alters macht Jürgen Habermas einen schlanken, beweglichen Eindruck. Ich kann nicht verhehlen, dass ich ihm mit Ehrfurcht gegenübertrete.“
Das ist sehr gut gemacht, und insbesondere in Deutschland bei Büchern über Philosophen auch sehr unüblich, insbesondere, wenn sie auch noch von Autoren verfasst wurden, die selbst Professor sind. Wie der Untertitel „Habermas und wir“ andeutet, war die Idee des Buches nicht, eine umfassende klassische Theoretiker-Biografie zu verfassen und Leben und Werk möglichst lückenlos aufzuarbeiten. Das hat vor zehn Jahren und durchaus gelungen der Soziologe Stefan Müller-Doohm schon getan, allerdings etwa im dreifachen Umfang.
Felsch, Jahrgang 1972 und im Hauptberuf Professor für Kulturgeschichte an der Berliner Humboldt-Universität, versucht dagegen auf knapp 190 Seiten eher eine Art großes intellektuelles – und ein bisschen persönliches – Profil des 94-jährigen Denkers als Zentralgestirn der deutschen Debatten- und Mentalitätsgeschichte. Der Fokus liegt weniger auf Habermas’ Büchern als auf den publizistischen Interventionen und politischen Positionen des linken öffentlichen Intellektuellen Habermas – und auf den Reaktionen, die sie hervorriefen, in der Öffentlichkeit, in Briefen und einmal auch auf einer Geburtstagsparty von Habermas. Dafür gewährte Habermas Felsch sogar Einblick in unveröffentlichte Tagebücher und Korrespondenzen aus seinem Vorlass, der seit einigen Jahren schon in der Frankfurter Goethe-Uni liegt.
Die vielen berühmten Bücher vernachlässigt zu haben, wurde Felsch umgehend angekreidet. Hätte er es nicht getan, wäre „Der Philosoph“ ein ganz anderes Buch geworden – und sicher ein weniger schwungvolles. Schon im ersten Kapitel macht Felsch keinen Hehl daraus, dass die Lektüre und Relektüre von Habermas’ Monografien bei der Recherche für ihn eine „zwiespältige Übung“ gewesen seien: „Seine Hauptwerke sind immer noch so entmutigend unzugänglich, wie sie mir in Erinnerung waren.“ Der politische Kommentator, Kritiker und Polemiker Habermas dagegen entfalte in der „Kampfzone der Debatten“ eine „stilistische Brillanz“, die er sich in seinen wissenschaftlichen Texten mit ihrem „spröden Nominalstil“ absichtlich zu verbieten scheine.
Zur Verteidigung Felschs lässt sich zudem anführen, dass Habermas’ zweibändiges Opus magnum eine „Theorie des kommunikativen Handelns“ und eben dieses Handeln für ihn im Grunde bis heute auch eine ständige und in der Republik beinahe jedes einzelne Mal viel beachtete Praxis ist. Wenn es also einen Philosophen gibt, dem man auch über die öffentlichen Debatten, deren Teil er war und ist, näherkommen kann, dann Jürgen Habermas.
Man kann sich allerdings gut vorstellen, dass Habermas selbst kein Freund dieses Ansatzes ist, der sich flott lesen lässt (besonders wenn man so gut schreiben kann wie Felsch), aber natürlich immer auch Gefahr läuft, aus Nebensächlichem und zufällig Selbsterlebtem allzu allgemeingültige Schlüsse zu ziehen. Aber das passiert Felsch eigentlich nicht. Im Gegenteil. Vielleicht sogar noch etwas virtuoser als in seinem viel gelobten Buch „Der lange Sommer der Theorie“ von 2015 über die Geschichte des Merve Verlags und des postmodernen linken Denkens in Deutschland, gelingt ihm hier das Kunststück, über einen Denker mitreißend zugänglich zu schreiben, ohne dessen Denken zu verraten. Unterwegs gelingen ihm immer wieder pointierte Zusammenfassungen zur Philosophie Habermas’, die große Vertrautheit mit den ungeliebten Hauptwerken offenbaren. Obwohl für Felschs intellektuelle Prägung, wie er bekennt, die französischen Poststrukturalisten viel wichtiger waren, die Habermas im „Philosophischen Diskurs der Moderne“ unverzeihlicherweise brüsk als verkappte, weil vernunftskeptische „Jungkonservative“ abkanzelte.
Insbesondere für ein Publikum, das nicht knietief im Stoff steht, erweist sich auch Felschs Entscheidung, ausführlich von Gegnern und Kritik zu erzählen, als Geschenk. Gerade Theorie und Philosophie lassen sich oft leichter begreifen, wenn man weiß, wogegen sie einmal entwickelt worden sind, und welche Affekte sie provozierten. Ein guter Teil der intellektuellen Prominenz der vergangenen mehr als 70 Jahre bekommt so einen Auftritt (bis auf Hannah Arendt und Habermas’ Frau Ute tauchen übrigens ausnahmslos Männer auf). Von Heidegger, Adorno und Horkheimer über Martin Walser, Joachim Fest, Max Frisch, Michel Foucault, Jacques Derrida, Gilles Deleuze, Heinrich August Winkler, Oskar Negt, Ralf Dahrendorf, Robert Spaemann, Hans-Magnus Enzensberger und Alexander Kluge bis Peter Sloterdijk, Heinz Bude, Timothy Snyder und viele, viele andere mehr. Vatermorde, Fehden, Versöhnungen, Bündnisse, Freundschaften, Zerwürfnisse.
Einerseits „Die Abschaffung von Tiefsinn“, die Habermas als Aufgabe seiner Generation sah, andererseits Sloterdijks verächtliches Diktum über den um Wissenschaftlichkeit und analytische Nüchternheit bemühten Habermas als „Genie der Paraphrase“: „Es gehört zu den ironischen Volten von Habermas’ Wirkungsgeschichte“, schreibt Felsch, „dass er gerade aufgrund seiner Materialverarbeitungsfreude, die ihm spätere Leser als Mangel an Originalität auslegten, einmal der Mann der Stunde war.“ Weil er mit seiner Lese- und Rezeptionswut wie kein anderer in der Lage zu sein schien, die nach der Nazizeit schwer angeschlagenen deutschen Geisteswissenschaften aus ihrer Provinzialität zu befreien und an den internationalen Forschungsstand heranzuführen.
Aus immer neuen anderen Gründen, das zeigt Felsch beispiellos eindrücklich, ist er aber eigentlich sein Leben lang der Mann der Stunde geblieben. Sei es in den Debatten um die Legitimität der Studentenrevolte, im Kampf um Kommunikation als „herrschaftsfreien Diskurs“ und „zwanglosen Zwang des besseren Arguments“ oder beim Historikerstreit um die Einzigartigkeit des Holocaust und die deutsche Erinnerungskultur. Sei es im Ringen für den Verfassungspatriotismus, bei den Diskussionen mit antiidealistischen, „neokonservativen“ Theoretikern wie Niklas Luhmann um die richtige Gesellschaftstheorie, oder schließlich bei den Auseinandersetzungen um den Kosovo-Einsatz der Nato und den richtigen Kurs in Europa.
Hat hier ein Intellektueller, fragt Felsch, „quasi im Alleingang die politische Kultur eines ganzen Landes umgekrempelt und ihr auf Jahrzehnte seinen Stempel aufgedrückt?“ Einen anderen Schluss lässt das Buch eigentlich nicht zu. Wobei die Pointe natürlich ist, dass die Prägung dieses Stempels eine ganz eigentümliche ist: Habermas’ Vision einer neuen freundlich-postnationalen, demokratischen deutschen Einstellung lässt sich wohl am ehesten als eine Art provinzieller Universalismus bezeichnen. Oder universeller Provinzialismus. Am Schreibtisch im Starnberger Einfamilienhaus zur Vollendung gebracht, aber tief geprägt vom Einfluss bedeutender polyglotter jüdischer Gelehrter wie Gershom Scholem, Arendt oder seinem großen Förderer Adorno. Ihnen begegnet zu sein, nennt Habermas, der als Sohn regimetreuer Eltern (sein Vater war Arbeitgeber-Funktionär und trat gleich 1933 der NSDAP bei) im nordrhein-westfälischen Gummersbach aufwuchs, den „Glücksfall“ seines Lebens.
Schon am Anfang, beim ersten Besuch in Starnberg, fällt Felsch auf, dass Habermas seine Bestürzung darüber kaum verhehlen kann, für seine erste Stellungnahme in der SZ zum Ukrainekrieg, in der er sich kritisch gegenüber Waffenlieferungen des Westens äußerte, zurechtgewiesen worden zu sein. „Zum ersten Mal“ in seinem Leben habe er das Gefühl, die Reaktionen der deutschen Öffentlichkeit nicht mehr zu verstehen. Diese dunkle Note prägt auch den zweiten Hausbesuch, von dem Felsch im letzten Kapitel erzählt: „Mit wachsender Verzweiflung hält Habermas an seiner Überzeugung fest, dass das Bemühen um einen Waffenstillstand und die Suche nach einer Verhandlungslösung im Konflikt mit Russland unumgänglich seien.“ Er hält die Kriegsstimmung in der deutschen Öffentlichkeit für die Begleitmusik einer „fatalen strategischen Fehleinschätzung“ und malt die „düstere Szene vom Abstieg des Westens, der für ihn vom Niedergang der politischen Institutionen der USA nicht zu trennen sei“, so Felsch.
Der durch den Rückzug der USA voranschreitende Zerfall der Unterstützerkoalition für die Ukraine (der Krieg werde etwa Biden zunehmend zum Ballast im Kampf um seine zweite Amtszeit) könnte den Westen in Habermas Augen die letzten Reste von politischer Glaubwürdigkeit und Autorität kosten, über die er noch verfüge. Alle seine Hoffnung auf „weltbürgerliche Verhältnisse“ seien Vergangenheit: „Und dann sagt er einen Satz, der unseren Gesprächsfluss einen Moment lang stocken lässt: All das, was sein Leben ausgemacht habe, gehe gegenwärtig ,Schritt für Schritt‘ verloren.“ Es sei „bestürzend“, Habermas, den letzten Idealisten so fatalistisch zu erleben.
Philipp Felsch:
Der Philosoph –
Habermas und wir.
Propyläen Verlag,
Berlin 2024.
256 Seiten, 24 Euro.
Im August 1981 im Arbeitszimmer seines Hauses in Starnberg.
Foto: Roland Witschel/dpa
Philipp Felsch, geboren 1972, ist Professor für Kulturgeschichte an der Humboldt-Universität
zu Berlin.
Foto: Jan Single
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»Ein Glück auch für den Porträtierten, vor allem aber ein Glück für alle, die sich für Geistesgeschichte interessieren. Denn Felsch besitzt das seltene Talent, komplexe Philosophie in Erzählungen anschaulich machen zu können.« Linus Schöpfer Neue Zürcher Zeitung am Sonntag