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Die Dramaturgin und Essaystin Irina Rostorgueva erzählt in diesem mit großer Intensität verfassten Essay Fakten und Geschichten über die unmögliche und doch sehr lebendige, aktuelle russische Opposition. Sie benennt und beschreibt den parlamentarischen Unterdrückungsapparat, erfundene Fälle und Prozesse, politische Satire, Internet-Trolle und Guerillakrieg. Die absurde, kafkaeske und dystopische russische Realität stellt sie damit ins grelle Licht der Reflexion und wirft einen Blick hinter die endlose Produktion von Fassaden, Schildern und Etiketten: Dahinter herrscht verzweifelte Leere. Die…mehr

Produktbeschreibung
Die Dramaturgin und Essaystin Irina Rostorgueva erzählt in diesem mit großer Intensität verfassten Essay Fakten und Geschichten über die unmögliche und doch sehr lebendige, aktuelle russische Opposition. Sie benennt und beschreibt den parlamentarischen Unterdrückungsapparat, erfundene Fälle und Prozesse, politische Satire, Internet-Trolle und Guerillakrieg. Die absurde, kafkaeske und dystopische russische Realität stellt sie damit ins grelle Licht der Reflexion und wirft einen Blick hinter die endlose Produktion von Fassaden, Schildern und Etiketten: Dahinter herrscht verzweifelte Leere. Die Duma erlässt unnötige Gesetze, es werden nichtexistierende Feinde erfunden, eine Pseudo-Opposition sitzt im Parlament, die echte Opposition sitzt wegen falscher Anklagen im Gefängnis, die Polizei produziert selbst unablässig Terroristen. »Nichts in Putins Russland ist echt«, egal, was man anfasst. Hier sind Wahlen nur eine Simulation, und Proteste nur ein Vorwand für Repressionen. Und die Vergangenheit Russlands ist noch unbekannter als seine Zukunft.
Autorenporträt
Irina Rastorgueva, 1983 in Juschno-Sachalinsk geboren, studierte Philologie an der Staatlichen Universität Sachalin und arbeitete als Kulturjournalistin für mehrere russische Zeitschriften und Radiosender. 2006-2015 war sie Dozentin für Journalistik an der Staatlichen Universität Sachalin. Sie ist Autorin zahlreicher wissenschaftlicher Artikel über die Theorie und Geschichte der Literatur und des Journalismus des 20. Jahrhunderts. 2011 gründete sie das Kulturmagazin ProSakhalin. Von 2011 bis 2017 war sie Dramaturgin am Tschechow-Theater Sachalin und künstlerische Produktionsleiterin des Far Eastern Theatre Forum / Theatre go round Festival in Sapporo 2015. Seit 2017 arbeitet sie frei als Dramaturgin und Regisseurin in Berlin und schreibt u. a. für die Berliner Zeitung, die FAZ und das Magazin Osteuropa. Seit 2021 hält sie Vorlesungen an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg, Department Design.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Rezensentin Franziska Davies zeigt sich beeindruckt von Irina Rastorguevas hochliterarischem Porträt der immer stärker unterdrückten Opposition in Russland. Das Buch ist keine politische Analyse, sondern ein Essay erklärt sie, der die Gewaltausübung der Putin-Regierung für sie nachvollziehbar anhand einer Mischung aus "individuellen Schicksalen, absurden Gesetzen und Gewalt" darstellt. Wie es dazu kommen konnte, wie seit 2011 der Westen immer stärker zum Feind stilisiert wurde und im Inneren durch neue Gesetze eine Willkürherrschaft installiert wurde, liest Davies mit Schrecken. Die Hoffnung, die Rastorgueva dennoch in die Opposition im Land setzt, kann die Kritikerin angesichts der Repressalien und der Apathie in weiten Teilen der Gesellschaft nicht teilen.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 03.12.2022

Kafkaeskes Reich der Repression
Irina Rastorgueva berichtet über das kleine Häuflein der Opposition in Russland und die destruktive Kraft des Putin-Regimes im Inneren. Ein Buch von literarischer Wucht
Die russische Opposition ist in den vergangenen Monaten vom russischen Diktator Wladimir Putin erfolgreich zerschlagen worden. Dass dies lediglich der letzte Schritt eines sich über Jahrzehnte hinziehenden Prozesses ist, darüber ist das nun ins Deutsche übersetzte Buch von Irina Rastorgueva ein Zeugnis. Die russische Essayistin und Dramaturgin schreibt in diesem groß angelegten Essay von den Paradoxien, den Absurditäten, der Gewalt und vor allem der himmelschreienden Ungerechtigkeit der russischen Politik.
Wie eng die mörderische Außenpolitik Russlands mit der aggressiven Innenpolitik zu tun hat, zeigte sich auch in der Vorbereitung des Totalangriffs auf die Ukraine im Februar 2022. Es war vermutlich kein Zufall, dass die Menschenrechtsorganisation Memorial, inzwischen mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet, im Dezember 2021 endgültig von Russland zerschlagen wurde. Kurz nach dem Einmarsch in die Ukraine fielen dann die letzten kritischen Medien der staatlichen Zensur zum Opfer, wobei es bezeichnend war, dass ohnehin nur noch eine sehr überschaubare Zahl zu diesem Zeitpunkt existierte.
Seit dem Machtantritt Putins ist die Anzahl der Bücher, die sich der Verfolgung der Opposition und der freien Presse widmen, stetig gewachsen. Journalisten und Wissenschaftlerinnen haben aus vielen Perspektiven heraus, teils aus einer Doppelperspektive als Betroffene und Analytikerin wie Anna Politikowskaja und Mascha Gessen, über die Systematik der Putin-Politik geschrieben. Das Buch von Rastorgueva zeichnet sich dadurch aus, dass es eben keine strukturierte Analyse leistet (und auch gar nicht leisten will), sondern die destruktive Kraft des Regimes in einer Collage von individuellen Schicksalen, absurden Gesetzen und Gewalt greifbar macht. Das hier ist keine wissenschaftliche Darstellung, dafür aber besitzt dieses Buch eine literarische Wucht, die es ungemein lesbar macht.
Die Autorin verweist auf die Verbindung zwischen der kafkaesken Absurdität des heutigen Russland und der staatlichen Gewalt: Die in der Duma verabschiedeten Gesetze sind im Grunde Freischeine für die Sicherheitsapparate gegen jede Person, die der Illoyalität des Staates gegenüber verdächtigt wird, willkürlich vorzugehen. Bei Protesten prügeln Sicherheitskräfte mit brutaler Gewalt auf Menschen ein, egal wie alt sie sind, egal welchen Geschlechts. Durch das Changieren zwischen den politischen Entscheidungen und deren Auswirkungen auf das Alltagsleben der Menschen in Russland gelingt es der Autorin, ein plastisches Bild der ganzen destruktiven Kraft des Regimes im Inneren zu zeichnen. Etwa, wenn Russland in Reaktion auf die Bombardierung von Stellungen des Assad-Regimes in Syrien durch die USA die Einfuhr bestimmter Medikamente aus den Amerika verbietet, sodass schwer kranke Kinder nun nicht mehr an ihre dringend benötigten Arzneimittel kommen.
An diesem und anderen Beispielen wird auch deutlich, wie verfehlt es ist, die „Stabilität“ und den bescheidenen Wohlstand (der ohnehin nur für gewisse städtische Mittelschichten galt) als eine positive Leistung Putins zu sehen. Prägend für seine Herrschaft ist die Ausbeutung des Landes durch eine mafiöse Elite und der Ausbau eines Unterdrückungsapparats. Wenn Putin und seine Propagandisten nun versuchen, die Rückkehr Russlands zur imperialen Größe als Errungenschaft zu beschwören, dann ist das auch der Versuch zu verschleiern, dass es kaum Investitionen in die Zukunft der russischen Gesellschaft gegeben hat.
Für Rastorgueva ist das Jahr 2011 der entscheidende Zeitpunkt, nach dem eine liberalere, demokratischere Entwicklung endgültig durch den Staat beendet wurde. Wohl nicht zufällig nach den Massenprotesten gegen Putin prognostiziert die Autorin eine Radikalisierung des Regimes, indem dieser den kollektiven „Westen“ zum Feind erklärte. Die vermeintlich „traditionellen Werte“ bekommen nun einen zentralen Platz in der Propaganda, die Schaffung „nicht existierender Feinde“ wird zum staatlichen Programm: „Alles ist eine Lüge, Karneval, ein Theater, nein, ein Zirkus.“ Bezeichnend ist auch, was in dieser essayistisch-literarischen Darstellung der Radikalisierung Putins fehlt: Russlands „legitime Sicherheitsinteressen“ oder die Nato-Osterweiterung, die in deutschen Debatten eine erhebliche Rolle spielten.
Widerstand gegen diese Radikalisierung kommt oft von Künstlerinnen und Künstlern. Auch das wird aber kriminalisiert: Jeder noch so harmlose Akt kann von den Sicherheitsbehörden zur Aggression gegen die staatliche Ordnung umgedeutet werden. Die jungen Künstlerinnen und Intellektuellen, die sich alternative Räume zu schaffen versuchen, scheitern im analogen Leben aber nicht nur am Staat, sondern auch an der Mehrheitsgesellschaft. So verlagert sich die Protestkultur immer mehr ins Internet. Hier entwickelte sich eine Meme-Kultur, die Rastorgueva ausführlich beschreibt, erkennt sie hier doch zumindest einen Kommunikationsraum, in dem sich die Gegner und Gegnerinnen des Regimes ihrer Solidarität versichern können. Bekanntermaßen ist das Internet inzwischen auch in einem noch viel höheren Maße reguliert und staatlich kontrolliert.
Die Zukunft Russlands, so Rastorgueva, sei noch ungewisser als seine Vergangenheit. Und doch endet das Buch mit einer optimistischen Note, die sich bisher aber nicht erfüllt hat. Der Totalüberfall auf die Ukraine, diese Hoffnung äußert die Autorin, werde von der russischen Gesellschaft nicht akzeptiert werden. Immerhin beanspruchen viele Russen, trotz der auch in der Gesellschaft anzutreffenden imperialen Arroganz, eine besonders innige Beziehung zur Ukraine. In der Tat gab es offene Proteste zu Beginn des Kriegs, doch inzwischen sind weite Teile der Opposition geflohen, und größere Straßenproteste finden kaum noch statt. Diejenigen, die weiter mit der Ukraine solidarisch sein wollen, versuchen dies auf andere Weise, etwa durch die Unterstützung von Ukrainerinnen und Ukrainern, die nach Russland verschleppt wurden. Aber weite Teile der Gesellschaft bleiben apathisch, tun so, als ginge der Krieg sie nichts an, ignorieren ihn, solange er ihre Lebenswirklichkeit nicht berührt. Ein anderer Teil trägt ihn mit, entweder weil sie die Lügen von den „Nazis“ in der Ukraine glauben oder weil sie – zumindest so lange sie nicht selbst kämpfen müssen – die nationalimperiale Ideologie Putins unterstützen. Diese Apathie klingt bei Rastorugeva zwar an, aber in erster Linie handelt es sich doch um ein Porträt der kleinen aktiven Opposition.
Zugleich hat der russische Angriff auch eine andere Wirklichkeit enthüllt: dass es eben nicht nur Putins, sondern auch Russlands Krieg ist. Damit einher ging die Frustration vieler Menschen aus der Ukraine über die Sehnsucht vieler im Westen, nicht zuletzt in Deutschland, nach dem „guten Russen“. Die meisten Ukrainer haben verständlicherweise jeden Glauben an die russische Gesellschaft verloren, inklusive der Putin-kritischen Opposition, von denen ein bestimmter Teil ebenfalls von einem imperialen Mindset nicht frei ist.
Trotzdem aber bleibt es eine Tatsache, dass es auch in Russland Menschen gibt, die solidarisch sind mit der Ukraine, die diesen Krieg nicht mittragen und die schon zuvor das Putin-Regime ablehnten. Diese Menschen dürfen wir nicht vergessen, sie verdienen unsere Solidarität und Unterstützung. Hätten einige deutsche Politiker schon viel früher auf die russische Opposition gehört, als sie bereits zu Beginn von Putins Herrschaft eindringlich vor diesem warnten – sie wären im Februar 2022 vielleicht nicht ganz so überrascht gewesen.
FRANZISKA DAVIES
Die Gesetze
sind Freischeine
für Willkür der Polizei
Irina Rastorgueva:
Das Russlandsimulakrum.
Kleine Kulturgeschichte
des politischen Protests
in Russland.
Matthes & Seitz,
Berlin 2022.
274 Seiten, 20 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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