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Ein augenöffnender philosophischer Beitrag zur Debatte um Umwelt und Kapitalismus: Der französische Philosoph Pierre Charbonnier gilt als »der neue philosophische Kopf einer politischen Ökologie« (so die französische Zeitschrift Libération). In »Überfluss und Freiheit« entwirft er die erste philosophische Ideengeschichte zum Verhältnis zwischen Mensch und Natur. Die ökologische Krise der Gegenwart sieht er als Chance, sozial und politisch umzudenken und als Gesellschaft neue Wege zu gehen. Dabei setzt Charbonnier auf eine radikal andere Politik, die nicht notwendig mit Verzicht verbunden…mehr

Produktbeschreibung
Ein augenöffnender philosophischer Beitrag zur Debatte um Umwelt und Kapitalismus: Der französische Philosoph Pierre Charbonnier gilt als »der neue philosophische Kopf einer politischen Ökologie« (so die französische Zeitschrift Libération). In »Überfluss und Freiheit« entwirft er die erste philosophische Ideengeschichte zum Verhältnis zwischen Mensch und Natur. Die ökologische Krise der Gegenwart sieht er als Chance, sozial und politisch umzudenken und als Gesellschaft neue Wege zu gehen. Dabei setzt Charbonnier auf eine radikal andere Politik, die nicht notwendig mit Verzicht verbunden ist.

Bei jedem Klimagipfel werden Ziele formuliert - doch die vereinbarten politischen Regelungen genügen nicht, um diese zu erreichen. Warum ist das so? In einem Gang durch 300 Jahre Ideengeschichte von John Locke und Adam Smith über Saint-Simon, Karl Marx und Herbert Marcuse bis zum Club of Rome und den Klimaaktivisten von Extinction Rebellion und Greta Thunberg zeigt Pierre Charbonnier: Die Erde wird seit dem 17. Jahrhundert als unerschöpfliche Quelle von Wohlstand und Wachstum gesehen. Alle seither entwickelten politischen Ideen beruhen darauf, vor allem die zentralen Begriffe von Freiheit und Gleichheit, von Autonomie und von Wachstum bzw. Überfluss. Doch das ist eine fatale Sicht auf das Verhältnis von Mensch und Natur. Wir brauchen eine philosophische Neudefinition dieser Beziehung, wenn wir nachhaltige politische, soziale und wirtschaftliche Ideen und Konzepte wollen. Pierre Charbonnier liefert die Grundlage dafür - klug und anregend, optimistisch und radikal!
Autorenporträt
Pierre Charbonnier, geboren 1983, ist promovierter Philosoph und lebt in Saint-Denis bei Paris. Sein Studium absolvierte er an der École Normale Supérieure in Paris. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Centre National de la Recherche Scientifique. Die große französische Tageszeitung 'Libération' bezeichnete ihn 2020 als den neuen philosophischen Kopf einer politischen Ökologie. Dabei setzt Charbonnier auf eine radikal andere Politik, die nicht notwendig mit Verzicht verbunden ist. Die ökologische Krise der Gegenwart sieht er als Chance, sozial und politisch umzudenken und als Gesellschaft neue Wege zu gehen. In Frankreich erschien sein Buch 'Abondance et liberté' im Januar 2020. Andrea Hemminger ist promovierte Philosophin. Sie übersetzt seit vielen Jahren philosophische und sozialwissenschaftliche Literatur aus dem Französischen, darunter Werke von Michel Foucault, Esther Duflo, Manon Garcia und Pierre Charbonnier. Sie lebt in Frankreich.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.07.2022

Fertig machen zur Totalkehre
Pierre Charbonnier setzt denkbar grundsätzlich an, um eine letzte Abzweigung vom westlichen Weg in die ökologische Katastrophe zu finden

In der Politik hat es sich bewährt, ein großes Vorhaben, bei dem man weiß, dass jeder Schritt Auswirkungen auf sämtliche Lebensbereiche hat, in möglichst viele kleine Schritte zu untergliedern, um nicht so-gleich am geballten Widerstand aus allen Bereichen der Gesellschaft zu scheitern. Das hat zur Folge, dass Zielrichtung und Dauer des Projekts zumeist nur schemenhaft zu erkennen sind, und zwar nicht nur für jene, die davon betroffen sind, sondern auch für die, die als politische Steuerleute auftreten und in eine ungefähre Richtung lossegeln wollen, um zu sehen, wie weit sie kommen. Wüssten sie, wie lange die Reise dauern und mit welchen Risiken sie verbunden sein wird, würden sie wahrscheinlich nicht losfahren - und wenn Mannschaft und Passagiere davon erführen, würden sie meutern oder das Schiff verlassen.

Solches Losfahren ohne Zielangabe und genaue Kursbestimmung, wie es die Politiker pflegen, hat den politischen Intellektuellen seit jeher missfallen, weswegen vor allem die Philosophen unter ihnen über die Voraussetzungen der Fahrt und deren Zielangaben nachgedacht und dabei noch vor Beginn der Reise eine Kartographie ihres prospektiven Verlaufs in Umlauf gebracht haben. Aber weil auch sie bei aller Gedankenschärfe die Ungewissheit des Zukünftigen nicht aufzulösen vermögen, untersuchen sie frühere, ähnliche Vorhaben, und darunter insbesondere solche, die in eine ganz andere Richtung gingen, um so eine Vorstellung von den Herausforderungen des angesagten Projekts zu bekommen.

Auf diese Weise ist auch der französische Philosoph Pierre Charbonnier an das Projekt eines ökologischen Umbaus der Industriegesellschaften und der Weltwirtschaft herangegangen: Er hat sich auf einen Streifzug durch die Ideengeschichte der europäischen Neuzeit begeben und sich dabei keineswegs, wie der Untertitel seines Buches nahelegt, auf die genuin politischen Ideen beschränkt, sondern auch soziologische und ökonomische Theorien einbezogen und sich obendrein mit der philosophischen Anthropologie, Arbeiten zur Struktur nichtlinearen Denkens und post-colonial studies auseinandergesetzt. Außerdem hat er historische Arbeiten zum Stand der Produktivkraftentfaltung und zur jeweiligen Technologie und Wissenschaft herangezogen, um den materiellen Resonanzraum der Theorien auszuleuchten. Ein wahrlich groß angelegtes Projekt, aus dem ein ideengeschichtlich bemerkenswertes Buch hervorgegangen ist, das die Frage unseres Verhältnisses zur Natur auch noch mit dem Verhältnis zwischen den Geschlechtern und dem Ende des Ausbeutungsverhältnisses zwischen globalem Norden und globalem Süden verbindet.

Charbonniers Buch ist in mancher Hinsicht ein Gegenentwurf zu den um die Jahrtausendwende vermehrt vorgelegten Studien, in denen es um die Ursachen der (zeitweiligen) europäischen Weltherrschaft und die Gründe für den Reichtum im Westen und die Armut im Rest der Welt ging. Charbonnier zeigt, wie eine spezifische Art des Denkens, die er mit Europa und den Vereinigten Staaten verbindet, zu einer Verkettung von Autonomie und Überfluss beziehungsweise, präziser, zur Begründung von politischer wie persönlicher Autonomie auf sozioökonomischem Überfluss, zur Dichotomie von Natur und Gesellschaft und zu tief liegenden epistemischen Voraussetzungen der ökologischen Krise geführt haben. Ändern sich die Grundkategorien unseres Denkens nicht, werden wir den Weg in Richtung ökologische Katastrophe nicht verlassen.

Charbonnier polemisiert zwar gegen Millenaristen und Apokalyptiker, ist aber zugleich auf deren Botschaften angewiesen, um das Erfordernis der von ihm eingeforderten "Totalkehre" plausibel zu machen. Und zugleich mokiert er sich über die politischen Konzepte einer Kreislauf-wirtschaft oder des Ökomodernismus, weil sie bloß an den Symptomen der Naturüber-forderung herumdoktern würden, während es doch darum gehe, den Entwicklungspfad des westlichen Denkens zu verlassen. Charbonnier argumentiert also in genau entgegengesetzter Richtung zur politikpragmatischen Kleinteilung der Probleme und setzt auf eine Generalrevision unseres Selbstbildnisses und der Art unseres Denkens. Damit positioniert er sich jenseits aller ökologischen Politik als Autor, der alle bisherigen politischen wie intellektuellen Bemühungen zur Rettung des Lebens auf der Erde mit äußerster Skepsis beurteilt.

Die mangelnde politische Anschlussfähigkeit von Charbonniers Überlegungen ist das eine. Auf sie mag ein Intellektueller bewusst verzichten, wenn es ihm um Grundsätzliches geht. Etwas anderes ist dagegen die Frage nach der Stimmigkeit der intellektuellen Herleitung dieses epistemischen Prinzipialismus, die Charbonnier bei seinem Gang durch die Ideen- und Theoriegeschichte von Hugo Grotius und John Locke bis Claude Levi-Strauss und Bruno Latour für sich in Anspruch nimmt.

Charbonniers Schlüsselbegriff dabei lautet "Affordanz", ein der Psychologie entstammender Begriff, der zuletzt, nachdem er von James Gibson auf die Wahrnehmung der Umwelt übertragen worden ist, in den Kulturwissenschaften größere Verbreitung gefunden hat und so viel wie den Aufforderungscharakter eines Natürlichen bedeutet. Die noch unbearbeitete Natur selbst fordert danach den sich in ihr Bewegenden auf, einen bestimmten Gebrauch von ihr zu machen. Die "Affordanz" des Bodens etwa liegt für Charbonnier darin, dem Menschen seine Aneignung nahezulegen. Was Charbonnier dabei nicht erklären kann, aber erklären müsste, um sein Konzept plausibel zu machen, ist der Umstand, dass die Jäger-und-Sammler-Gesellschaften über Jahrtausende diese Affordanz nicht wahrgenommen haben, sondern die Natur erst, so Charbonniers Darstellung, mit dem Aufkommen von Ackerbau und Viehzucht die "Affordanz" des Teilens und Aneignens an den Tag gelegt hat.

Charbonnier entwickelt den Gedanken der Affordanz im Kontext der Theorien von Hugo Grotius, der das teilbare und insofern eigentumsfähige Land von dem unteilbaren und darum allen gehörenden offenen Meer unterschied, und John Locke, der Eigentum auf der Bearbeitung des Bodens und nicht auf dessen erster Inbesitznahme begründete. Ideengeschichtlich treffen wir bei Grotius und Locke auf die für die bürgerliche Gesellschaft grundlegenden Überlegungen zu Eigentum und Teilbarkeit auf der einen und zum Gemeineigentum der Menschheit auf der anderen Seite - was Charbonnier gegeneinanderstellt, um seine Grundidee, wonach die Verbindung von Sozialismus und Ökologie die letzte Chance der Menschheit sei, plausibel zu machen. Denn erst Teilung und Aneignung hätten den Prozess der Naturzerstörung in Gang gesetzt.

Wäre das richtig, müssten wir uns über die Verschmutzung der Meere, ihre Überfischung und vieles mehr keine Gedanken machen. Dass gerade das Gemeineigentum eine besonders nachlässige bis zerstörerische Behandlung erfährt, hätte Charbonnier bei der Beschäftigung mit den ökologischen Herausforderungen eigentlich auffallen müssen. Sein Problem ist, dass er die spezifischen Rechtskonstruktionen von Gesellschaftsformationen in einen Aufforderungscharakter der Natur verwandelt hat, dessen Spezifität und Historizität er nicht erklären kann.

Tatsächlich geht es ihm in den einschlägigen Passagen jedoch um die bald zehntausend Jahre zuvor stattgefundene neolithische Revolution, also den Übergang von Jäger-und-Sammler-Verbänden zu sesshaft betriebenem Ackerbau und zur Viehzucht, mit denen sich frühe Eigentumsvorstellungen verbanden. Deren Fortentwicklung verfolgt Charbonnier bis hin zur industriellen Produktion und den mit ihr verbundenen Theorien, um dabei ein ums andere Mal auf die jeweiligen Affordanzen der Natur zu sprechen zu kommen.

Letztlich dreht sich dabei alles um die Frage, ob Gesellschaften dieser Affordanz erliegen oder ihr die kalte Schulter zeigen und der Natur damit Eigenrecht und Eigenentwicklung lassen. Affordanz ist bei Charbonnier ein sich wissenschaftlich gebendes Konstrukt für die biblische Erzählung von der Versuchung der Eva im Paradies. Eva erlag ihr, womit die Unterwerfung der sich dafür anbietenden unbearbeiteten Natur begann - in diesem Fall durch den Apfel vom Baum der Erkenntnis. Es ist ein Holzweg, auf den Charbonnier die Ökologiebewegung locken will, nicht nur politikpragmatisch, sondern auch intellektuell. HERFRIED MÜNKLER

Pierre Charbonnier:

"Überfluss und Freiheit". Eine ökologische Geschichte der politischen Ideen.

A. d. Französischen von A. Hemminger. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 2022. 506 S., geb., 36,- Euro.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension

Rezensentin Annette Jensen scheint enttäuscht von Pierre Charbonniers Versuch, die Geschichte umzuschreiben. Wie der Philosoph zunächst 400 Jahre Ideologiegeschichte von Locke bis Marcuse nachzeichnet, liest Jensen mit Interesse, auch wenn der Autor sie eher pflichtschuldig arbeitet, wie sie findet. Wenn Charbonnier nach neuen Sichtweisen auf Begriffe wie Demokratie oder Freiheit schielt, wird es laut Jensen allerdings dünn. Spätestens hier wird für die Rezensentin spürbar, dass Charbonnier rein ideengeschichtlich vorgeht und reale Erfahrungen scheut.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.09.2022

Unsere Schuld
Woran liegt es, dass der Mensch
Erde und Klima veränderte, nun aber unfähig ist,
die Katastrophe zu verhindern?
Pierre Charbonnier hat eine Antwort
VON OLIVER WEBER
Die Kunst, es nicht gewesen zu sein“ ist eine moderne Errungenschaft. Alle Großideologien seit der Aufklärung (sie eingeschlossen) verstehen sich auf sie, um selber nicht die Verantwortung übernehmen zu müssen, sobald die Geschichte mal wieder einen anderen Weg nimmt als den geplanten – so die 50 Jahre alte These des Philosophen Odo Marquard. Einen Feind zu haben – dieser Glücksfall befreit davon, für das Misslingen des Menschheitsprojekts angeklagt zu werden, dem man sich „im Namen und Zeichen der Autonomie“ verschrieben hat. Schuldig sind immer die anderen. Was aber, wenn schlechterdings kein Feind mehr aufzufinden ist? Wenn wir, die „autonomen Täter der Geschichte“, wirklich einsehen müssten, in die ärgste Unfreiheit spaziert zu sein? Auf diese Frage will das Buch „Überfluss und Freiheit“ des Pariser Philosophen Pierre Charbonnier die richtige Antwort sein. Der 39-Jährige hat in einer Windeseile die akademischen Eliteinstitutionen Frankreichs durchlaufen und steht prominenten Intellektuellen wie Philippe Descola und Bruno Latour nahe. Sein jüngstes Werk, das vor zwei Jahren jenseits des Rheins veröffentlicht wurde und Andrea Hemminger nun ins Deutsche übersetzt hat, ist aber weder eine anthropologische Untersuchung im Stile Descolas noch gehört es dem Genre soziologischer Zeitdiagnosen an wie viele Bücher Latours. Charbonniers „ökologische Geschichte der politischen Ideen“ will auch keine Ideengeschichte der Umweltbewegung sein. Sondern – umgekehrt –, die verborgene ökologische Seite unseres politischen Vokabulars hervorkehren: eben den Zusammenhang von „Überfluss und Freiheit“.
Im Mittelpunkt des Buches steht das „Paradoxon“, dass wir, die wir die „Gestalt der Erde und des Weltklimas“ völlig verändert haben, dennoch unfähig sind, „uns dieser Aktivitäten zu bemächtigen, um sie in eine Richtung zu lenken“, die sich der „blinden Dynamik von Extraktion und Akkumulation widersetzt“. Wir sind, mit Marquard gesprochen, „Täter von Untaten“, ohne die Fähigkeit zur Resozialisation.
Der Autor taucht zur Ergründung dieses Widerspruchs weit in die politische Ideengeschichte. Dabei hüpft er etwas zu gerne zwischen den Gipfeln der Klassiker herum, springt von Hugo Grotius und John Locke zu Adam Smith, Alexis de Tocqueville und Karl Marx und von dort weiter zu Émile Durkheim, ohne sich auf das Geschehen am Boden, auf politische Auseinandersetzungen unterhalb des Kanon-Radars einzulassen. Ein bloßes Luftschloss also? Nein. Der großzügige Rückgriff auf wirtschaftshistorische Kontextualisierung, vor allem aber die Fähigkeit Charbonniers, die gesellschaftlichen Weichenstellungen auf den Punkt zu bringen, die sich in den Quellen ausdrücken, machen das Buch dennoch zu einer aufschlussreichen Darstellung jener „materiellen Geschichte der Freiheit“, die dem Autor vorschwebt.
Seine wichtigste Beobachtung: Ein Bruch in der Entwicklung des Liberalismus, den dessen Verehrer wie Feinde gerne übersehen. Aus der aufklärerischen Gesamtbewegung ging der Liberalismus seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts mit dem Anspruch hervor, die Grenzen der jahrtausendealten Agrargesellschaft in Richtung Überfluss zu verschieben. Wenn einmal die Gewerbeschranken gefallen, die Zünfte und die Monopole abgeschafft, die Feudalfesseln abgestreift sind, so der damalige Glaube, wird sich die natürliche Freiheit des Menschen endlich über jene alte Welt hinaus erheben, in der auf gute Ernten immer schlechte Ernten folgten und jeder Kinderreichtum eine potenzielle Hungerkrise bedeutete. Entscheidend aber ist: Dieser Liberalismus entstand ganz überwiegend vor der Industrialisierung. Das Wachstum, das er vor Augen hatte, war, wie Charbonnier anführt, ein „intensives“. Es sollte von Arbeitsteilung und Arbeitsproduktivität getrieben werden.
Schon damals schloss der Liberalismus mit einer bestimmten Vorstellung freien Wirtschaftens einen folgenreichen Pakt. Nur so war es ihm möglich, sich trotz Zensuswahlrecht und Bildungsdünkel zum Vertreter allgemeiner Freiheit und Gleichheit zu erklären – weil erwartet werden durfte, das durch ihn vorbereitete Wachstum mehre das allgemeine Menschenglück. Die Natur, die man immer ertragreicher zu bestellen lernte, so Charbonnier, war Grundlage dieser Erwartung. Aber die natürliche Unvermehrbarkeit des Bodens erlaubte noch keinen Verschleiß.
Dieser „liberale Pakt“ überlebte allerdings seine vorindustrielle Ausgangssituation. Die Zukunftsbezogenheit des Liberalismus, sein Hoffen auf die Selbstentfaltung der Produktivkräfte, hat ihn anfällig dafür gemacht, zur Doktrin einer Welt zu werden, „die nicht die war, in der sie geboren wurde“. Zwischen der, vom Autor so benannten, „organischen Aufklärung“ und dem „fossilen Liberalismus“ liegt ein Bruch, den man als die Umstellung auf ein System „extensiven Wachstums“ deuten kann. Unter dem Druck der Demografie und angezogen von uneingelösten Autonomieversprechen erhob er die „Eröffnung materieller Möglichkeiten durch den Zugang zu neuen Energien“ zum Programm. Die in der Erde schlummernde Kohle sollte den Freiheitsgewinn beschleunigen. Wald, Wasser, Wiesen und nicht zuletzt die Atmosphäre sollten kostenlose und unbegrenzte Zulieferer der Produzenten werden – der Liberalismus trat eine „Flucht nach vorne“ an. An genau dieser Stelle ist laut Charbonnier das verdrängte ökologische Wagnis unserer modernen Gesellschaft zu verorten. Das allgemeine Ziel Freiheit wird seit dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts zum Preis der ungehinderten Ausbeutung der Natur erkauft. Erstaunlich unerforscht lässt das Buch dagegen leider wie dieser Übergang ablief. Was genau befähigte den Liberalismus, sich schützend vor ein Industriesystem zu stellen, das seine Emanzipationsrenditen paradoxerweise einer „anderen Art von Abhängigkeit“ verdankt, einer beinahe untilgbaren Schuld gegenüber den gestörten Selbstregelungskreisläufen der Natur?
Entschädigt wird der Leser dagegen mit einer aufmerksamen Rekonstruktion des weiteren Ehelebens nach dieser zweiten Hochzeit von Überfluss und Freiheit. An den Schriften der frühen Sozialisten, anhand von Saint-Simon, Proudhon, Marx und später Durkheim will Charbonnier zeigen, dass sie das Problem zwar wahrgenommen haben – allerdings vorrangig als Spannung zwischen den armen Massen und den reichen Wenigen auslegten. Ihre politische Maxime – „der Überfluss muss vergesellschaftet werden“! – trat also das Erbe der ökologischen Schuld des Liberalismus an, wonach Freiheitsgewinne nur durch Naturausbeutung möglich sind. In den 30 Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg, als diese Maxime zum ersten Mal gesamtgesellschaftlich realisiert wurde und dank Öl und Atom Vollbeschäftigung und Lohnwachstum herrschten, stieg die ökologische Ausweglosigkeit dann zum demokratischen Gemeinbesitz auf.
Schwerer zu verstehen ist, welchen Ausweg aus dieser selbst verschuldeten Unfreiheit das Buch vorschlägt. Nicht, dass es sich mit dieser Frage nicht aufhalten würde: stattliche 100 Seiten sind ihr gewidmet. Doch der gewundene Stil, der das Buch dominiert und den auch die Übersetzerin leider nicht bereinigen konnte, lässt – und das ist das dritte Manko – die Zielanalyse ausfransen und symbolisch werden. Klar ist, dass Charbonnier die Abhängigkeit unserer Autonomie von Praktiken des planetarischen Selbstmords beenden will, ohne der Versuchung einer antikapitalistischen Ökodiktatur zu erliegen. Die politische Freiheit soll eine echte werden, indem wir unsere ökologische Verstrickung einsehen und wertzuschätzen lernen.
Um dieses Ziel zu erreichen, hofft der Autor auf einen „antiproduktionistischen Sozialismus“ und mit ihm – in Analogie zur alten Sozialen Frage und den heutigen postkolonialen Bewegungen – auf die „Mobilisierung eines neuen kollektiven Subjekts, dessen Name und Handlungsmodalitäten in ökologischen Konflikten ausgearbeitet werden“. Die Unklarheit der Worte verdeutlicht hier die Verworrenheit der Sache. Man erahnt, was gemeint sein könnte, verliert aber jeden realistischen Anknüpfungspunkt. Das mag die ideengeschichtliche Gesamtleistung des Buches kaum schmälern – aber es veranschaulicht, wie lang, schwierig und vor allem dunkel der Weg ist, der noch vor uns liegt. Es wäre immerhin ein erster Schritt getan, würde man diese Selbstanklageschrift des „autonomen Täters der Geschichte“ ganz ohne Feindesdenken zur Verhandlung zulassen.
Wie kann, ohne Ökodiktatur, die
Abhängigkeit unserer Freiheit
von Naturausbeutung enden?
Pierre Charbonnier, geboren 1983, lebt bei Paris. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Centre National de la Recherche Scientifique. Libération bezeichnete ihn als Kopf einer neuen politischen Ökologie. Foto: privat / S. Fischer
Die Freiheit wird seit 200 Jahren mit der ungehinderten Zerstörung der Natur erkauft: Ölkatastrophe vor der indonesischen Insel Java 2001.
Foto: dpa
Pierre Charbonnier:
Überfluss und Freiheit. Eine ökologische Geschichte der politischen Ideen. Aus dem Französischen von Andrea Hemminger.
S.-Fischer-Verlag,
Frankfurt a. M. 2022.
512 Seiten, 36 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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ein ideengeschichtlich bemerkenswertes Buch Herfried Münkler Frankfurter Allgemeine Zeitung 20220713