Ausgewogene Blicke auf eine unausgewogene Persönlichkeit
Rowohlts Bildmonographien zu den Philosophen fallen, was das Verhältnis zwischen Darstellung von Leben und Einführung ins Denken angeht, unterschiedlich aus. Wer sich von Wiedmanns Monographie zu Hegel Einblicke in dessen Gedankenwelt
verspricht, wird enttäuscht sein. Biemels Buch zu Heidegger hingegen legt den Schwerpunkt auf die…mehrAusgewogene Blicke auf eine unausgewogene Persönlichkeit
Rowohlts Bildmonographien zu den Philosophen fallen, was das Verhältnis zwischen Darstellung von Leben und Einführung ins Denken angeht, unterschiedlich aus. Wer sich von Wiedmanns Monographie zu Hegel Einblicke in dessen Gedankenwelt verspricht, wird enttäuscht sein. Biemels Buch zu Heidegger hingegen legt den Schwerpunkt auf die Vermittlung von dessen Philosophie. Die von Wuchterl und Hübner verfasste Monographie zu Wittgenstein ist eher biographisch angelegt. Hierfür gibt es Grund genug, kann man doch Wittgensteins Leben als äußerst abwechslungsreich und seine Persönlichkeit als schillernd bezeichnen: Als Sohn eines der reichsten Männer der Donaumonarchie wächst er in einem Milieu auf, das von kulturellen Impulsen geprägt ist. Im Hause Wittgenstein verkehren bedeutende Komponisten wie Gustav Mahler und Johannes Brahms. Das Vermögen, das Wittgenstein erbt, verschenkt er. Von seinen Brüdern begehen drei Selbstmord; Paul, der jüngere Bruder, wird berühmter Pianist. Von der philosophischen Lehrtätigkeit abgesehen, nimmt er die unterschiedlichsten Stellen an, vom Volksschullehrer über den Job eines Klostergärtners zum Krankenpfleger. Als Soldat im ersten Weltkrieg schreibt er den in die Philosophiegeschichte eingehenden "Tractatus logico-philosophicus", dessen Inhalte er später teilweise als Irrtum bezeichnen wird, um seine neue Auffassung von der Sprache in den "Philosophische Untersuchungen" niederzulegen, die zu den bedeutendsten sprachphilosophischen Werken des zwanzigsten Jahrhunderts gehören werden.
Hinzu kommt Wittgensteins Persönlichkeit, in der Wuchterl und Hübner nicht zu Unrecht "widerspruchsvolle[n] Charakterzüge", "Ungereimtes, ja Paradoxes" entdecken (7).
Stoff genug also für jeden Biographen. Gefahr allerdings auch zur Legendenbildung, zu Übertreibungen und Verklärungen. Obwohl sie von Wittgenstein als einer Existenz "erregender Faszination" (132) sprechen, verfallen die Autoren dieser Verführung nicht; sondern widmen sich ihrem "Gegenstand" aus sachlicher Distanz. Dabei wird Wittgensteins Bedeutung nicht durch die Feststellung geschmälert, dass "Erkenntnisse, die man zunächst Wittgenstein zugeschrieben hat [...] als Weiterentwicklungen oder als Parallelismen von Gedanken anderer erkannt" wurden (80). Aus seinem Verzicht auf das Millionenerbe auf eine sozialistische Gesinnung zu schließen, sei abwegig, zumal er das Vermögen "nicht für karitative Zwecke" verwendete (85), was sicher nicht dadurch erschüttert wird, dass Wittgenstein Teile seines Vermögens an Künstler gab (52f). Zu den Voraussetzungen des Versuchs, ein objektives Bild Wittgensteins zu entwerfen, gehört das Quellenmaterial. Hier erfuhren die Autoren Unterstützung durch Thomas Stonborough-Wittgenstein, der neben seinem Wissen über Familienverhältnisse Familienchroniken, Briefe und sonstige Dokumente zur Verfügung stellte (8).
Von Wittgensteins Philosophie erhält der Leser eine eher skizzenhafte Vorstellung. Die Bedeutung des Tractatus bestehe darin, dass hier "die Philosophie ganz im Medium der Sprache erscheint" (74). Dabei handele es sich um eine "Grenzziehung zwischen klar Sagbarem und Unsinn" (75). Auch in der Spätphilosophie gehe es um "die Aufklärung von sprachlichen Mißverständnissen in allen möglichen philosophischen Fragestellungen" (83). Für Wittgenstein entstehen diese Scheinprobleme vor allem durch Hypostasierungen und falsche Analogien (117f und 124). Bei einem Buch dieses Formats kann bei der Wiedergabe der Philosophie vieles nur gestreift werden. Manko ist vielleicht, dass das Problem des Regelbefolgens völlig ausgelassen wird - vielleicht ist das damit zu erklären, dass die Bedeutung dieses Theorems erst später durch Kripke erkannt wurde. Jedem, der sich einen kompetenten Überblick über Leben und Persönlichkeit von Wittgenstein verschaffen möchte, kann das exzellent recherchierte und mit Augenmaß geschriebene Buch auch nach dreißig Jahren empfohlen werden.