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Christian Rother

Bewertungen

Insgesamt 4 Bewertungen
Bewertung vom 18.11.2023
Boris Reitschuster - Meine Vertreibung
Reitschuster, Boris

Boris Reitschuster - Meine Vertreibung


schlecht

Ein Dokument des Scheiterns

Boris Reitschuster war vor Jahren Russlandkorrespondent bei "Focus“. Nach seinem Jobverlust arbeitet er sich an Journalisten und Institutionen ab, denen er eine Nähe zur Regierungspolitik unterstellt. Mit vielen hatte er juristische Auseinandersetzungen, die er, wie er in seinem neuen Buch schreibt, fast alle verlor. Der Rauswurf aus der Bundespressekonferenz scheint seinen Frust auf (ehemalige) Kollegen noch mal deutlich gesteigert zu haben.

Das Buch ist der Versuch einer Abrechnung mit Menschen und Institutionen, die der Blogger schon seit Jahren als Unterdrücker von Meinungsfreiheit darstellt. Auch vor dem Hintergrund der Tatsache, dass er in sozialen Medien dafür bekannt ist, Kritik an ihm durch Blocken zu unterbinden, erscheint dies unredlich. Fast nichts an dem Buch ist neu, man kennt das Meiste von seinem Blog, was daran liegt, dass der Großteil eine Übernahme von Artikeln eben dieses Blogs ist. Wie dort schon macht der Leser auch in dem Buch wieder Bekanntschaft mit einer Reihe namenlos bleibender Bekannter: "gute Freunde", "erfahrene Juristen" usw.

Auch an der Sprache hat sich nichts geändert. Sie erscheint, gelinde gesagt, gewöhnungsbedürftig: Der Ausdruck "In meinen Augen" kommt gefühlt auf jeder zweiten Seite vor. Die Angewohnheit, Haupt- und Nebensätze durch Punkt zu trennen empfinde ich als eine Unart, z.B.: „ein Wink mit dem Zaunpfahl. Der dazu führte...“ Oder: „Auch mich haben die Polizisten festgehalten. Weil sie verhindern wollten...“ Einmal findet sogar eine syntaktische Vierteilung statt: “Aber der Psychoterror erreicht Ausmaße, die ich mir vor kurzem noch nicht vorstellen konnte. Und die sich sicher sehr viele Menschen in unserem Land bis heute nicht vorstellen können. Obwohl sie nur die Spitze des Eisbergs sind. Und es anderen Kritikern der Regierung und des Zeitgeists noch viel schlimmer ergeht.“

Reitschuster geht mit missliebigen Personen nicht zimperlich um. Oftmals diffamiert er, etwa wenn er vom "Auftrags-Rufmörder Jan Böhmermann" spricht, manchmal ist die Sprache schlicht ungelenk, z.B. wenn er sein Buch als eine "intellektuelle Reise durch den Wahnsinn unserer Zeit" beschreibt.

Zu Beginn des Buches bezeichnet Reitschuster den Satz „Ein Journalist darf sich nie selbst in den Mittelpunkt stellen" als "eine der wichtigsten Lehren, die mir mein langjähriger Chef Helmut Markwort mit auf den Weg gegeben hat." Das klingt nicht wahrhaftig, da Reitschuster seinen Blog nach seinem eigenen Namen benannt hat, dort, in Videos und auch in seinem neuen Buch immer wieder über einen „polit-medialen Komplex“ lamentiert, dessen Opfer er sei, und Reklame für einen Shop macht, der Fanartikel zu seiner Person vertreibt.

Zurecht verwahrt sich der Autor dagegen, als Nazi beschimpft zu werden. Dieser Vorwurf ist ungerechtfertigt und wird heutzutage wie der, Faschist zu sein, inflationär benutzt. Etwas konterkariert wird Reitschusters Bemerkung allerdings dadurch, dass er selbst ständig beklagt, etwas würde ihn an finsterste Zeiten erinnern. Das Mittelalter wird er damit wohl kaum meinen. Offenbar sieht er sich selbst allerdings nicht bloß als Opfer, sondern auch als Held. Das an Wilhelm Tell gemahnende Titelbild, auf dem Reitschuster einen Apfel auf dem Kopf hat, lässt das zumindest vermuten.

Auf seinem Blog bewirbt Reitschuster sein Produkt übrigens wie folgt: "Die wahre Geschichte. Jetzt vorbestellen – bevor das Buch verboten wird!" In einem Video beklagt er, dass er mit diesem Buch nicht viel verdiene. Wer ihn wirklich unterstützen wolle, möge ihm doch lieber (zusätzlich) Geld spenden. Man kann natürlich auch beides unterlassen.

4 von 7 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 12.04.2009
Ludwig Wittgenstein
Wuchterl, Kurt;Hübner, Adolf

Ludwig Wittgenstein


ausgezeichnet

Ausgewogene Blicke auf eine unausgewogene Persönlichkeit

Rowohlts Bildmonographien zu den Philosophen fallen, was das Verhältnis zwischen Darstellung von Leben und Einführung ins Denken angeht, unterschiedlich aus. Wer sich von Wiedmanns Monographie zu Hegel Einblicke in dessen Gedankenwelt verspricht, wird enttäuscht sein. Biemels Buch zu Heidegger hingegen legt den Schwerpunkt auf die Vermittlung von dessen Philosophie. Die von Wuchterl und Hübner verfasste Monographie zu Wittgenstein ist eher biographisch angelegt. Hierfür gibt es Grund genug, kann man doch Wittgensteins Leben als äußerst abwechslungsreich und seine Persönlichkeit als schillernd bezeichnen: Als Sohn eines der reichsten Männer der Donaumonarchie wächst er in einem Milieu auf, das von kulturellen Impulsen geprägt ist. Im Hause Wittgenstein verkehren bedeutende Komponisten wie Gustav Mahler und Johannes Brahms. Das Vermögen, das Wittgenstein erbt, verschenkt er. Von seinen Brüdern begehen drei Selbstmord; Paul, der jüngere Bruder, wird berühmter Pianist. Von der philosophischen Lehrtätigkeit abgesehen, nimmt er die unterschiedlichsten Stellen an, vom Volksschullehrer über den Job eines Klostergärtners zum Krankenpfleger. Als Soldat im ersten Weltkrieg schreibt er den in die Philosophiegeschichte eingehenden "Tractatus logico-philosophicus", dessen Inhalte er später teilweise als Irrtum bezeichnen wird, um seine neue Auffassung von der Sprache in den "Philosophische Untersuchungen" niederzulegen, die zu den bedeutendsten sprachphilosophischen Werken des zwanzigsten Jahrhunderts gehören werden.
Hinzu kommt Wittgensteins Persönlichkeit, in der Wuchterl und Hübner nicht zu Unrecht "widerspruchsvolle[n] Charakterzüge", "Ungereimtes, ja Paradoxes" entdecken (7).
Stoff genug also für jeden Biographen. Gefahr allerdings auch zur Legendenbildung, zu Übertreibungen und Verklärungen. Obwohl sie von Wittgenstein als einer Existenz "erregender Faszination" (132) sprechen, verfallen die Autoren dieser Verführung nicht; sondern widmen sich ihrem "Gegenstand" aus sachlicher Distanz. Dabei wird Wittgensteins Bedeutung nicht durch die Feststellung geschmälert, dass "Erkenntnisse, die man zunächst Wittgenstein zugeschrieben hat [...] als Weiterentwicklungen oder als Parallelismen von Gedanken anderer erkannt" wurden (80). Aus seinem Verzicht auf das Millionenerbe auf eine sozialistische Gesinnung zu schließen, sei abwegig, zumal er das Vermögen "nicht für karitative Zwecke" verwendete (85), was sicher nicht dadurch erschüttert wird, dass Wittgenstein Teile seines Vermögens an Künstler gab (52f). Zu den Voraussetzungen des Versuchs, ein objektives Bild Wittgensteins zu entwerfen, gehört das Quellenmaterial. Hier erfuhren die Autoren Unterstützung durch Thomas Stonborough-Wittgenstein, der neben seinem Wissen über Familienverhältnisse Familienchroniken, Briefe und sonstige Dokumente zur Verfügung stellte (8).
Von Wittgensteins Philosophie erhält der Leser eine eher skizzenhafte Vorstellung. Die Bedeutung des Tractatus bestehe darin, dass hier "die Philosophie ganz im Medium der Sprache erscheint" (74). Dabei handele es sich um eine "Grenzziehung zwischen klar Sagbarem und Unsinn" (75). Auch in der Spätphilosophie gehe es um "die Aufklärung von sprachlichen Mißverständnissen in allen möglichen philosophischen Fragestellungen" (83). Für Wittgenstein entstehen diese Scheinprobleme vor allem durch Hypostasierungen und falsche Analogien (117f und 124). Bei einem Buch dieses Formats kann bei der Wiedergabe der Philosophie vieles nur gestreift werden. Manko ist vielleicht, dass das Problem des Regelbefolgens völlig ausgelassen wird - vielleicht ist das damit zu erklären, dass die Bedeutung dieses Theorems erst später durch Kripke erkannt wurde. Jedem, der sich einen kompetenten Überblick über Leben und Persönlichkeit von Wittgenstein verschaffen möchte, kann das exzellent recherchierte und mit Augenmaß geschriebene Buch auch nach dreißig Jahren empfohlen werden.

Bewertung vom 25.03.2009
Wittgenstein
Grayling, A. C.

Wittgenstein


sehr gut

„Verschlungene, undurchsichtige Äußerungen“: A.C. Grayling vermisst bei Wittgenstein Argumente anstelle von Metaphern

Nach eigenem Bekunden geht es dem Autor darum, „einer fachlich nicht vorgebildeten Leserschaft die Grundzüge von Wittgensteins Denken nahe[zu]bringen“, zum anderen solle „der Platz von Wittgensteins Denken in der analytischen Philosophie des 20. Jahrhunderts verdeutlicht werden“ (7). Was das erste Ziel angeht, ist festzustellen, dass es Grayling gelungen ist, dem philosophischen Laien alle zentralen Elemente von Wittgensteins Denken auf eine verständliche Art und Weise zu erklären, ohne sie dabei zu entstellen.
Nach einem Überblick über die wichtigsten Stationen von Wittgensteins Leben (Kap.1) widmet sich Grayling dem „Tractatus“ (Kap.2). Dabei stellt er zunächst dessen Grundideen vor, darunter auch Kerngedanken der gesamten Philosophie Wittgensteins, etwa dass „die Probleme der Philosophie durch ein angemessenes Verständnis der Funktionsweise der Sprache lösbar sind“ (25). Klar herausgearbeitet ist auch Wittgensteins Auffassung über das Verhältnis von Denken und Sprache, dass also “das, was gesagt werden kann, dasselbe ist wie das, was gedacht werden kann“ (27). Nimmt man noch die These von der Isomorphie von Sprache und Welt hinzu, gewinnt der philosophisch Unbedarfte ein Verständnis davon, warum für Wittgenstein die Untersuchung der Sprache von so großer Bedeutung ist. Der Darstellung der Spätphilosophie (Kap. 3) vorangestellt ist ein Abriss der Phase zwischen „Tractatus“ und „Philosophischen Untersuchungen“, für Grayling eine „Übergangszeit“, in der sich „die Themen seiner Spätphilosophie aus der kritischen Abgrenzung zum Tractatus entwickelten“ (83). Die bekanntesten Theoriestücke der „Philosophischen Untersuchungen“ werden von Grayling anschaulich dargestellt, dies einerseits dadurch, dass er sie in Zusammenhang bzw. Kontrast stellt zur Frühphilosophie als auch durch sein ausgeprägtes Gespür fürs Wesentliche. Dieses erblickt er offensichtlich in Wittgensteins Anti-Mentalismus, so etwa wenn er betont, dass für Wittgenstein die Regelbefolgung keine innere geistige Tätigkeit (105) und das Verstehen durch einen Ausdruck nicht das Durchlaufen eines inneren geistigen Prozesses sei (97).
So sehr Graylings Wiedergabe von Wittgensteins Denken aufgrund seiner Klarheit zu loben ist, so enttäuschend weil überzogen erscheint seine kritische Würdigung. An seine Absicht, Wittgensteins Stellung innerhalb der analytischen Philosophie einzuschätzen, hält er sich nicht. Stattdessen ist er bemüht, Wittgensteins Bedeutung generell herunterzuspielen. Wittgenstein sei „keineswegs eine Schlüsselgestalt der Philosophie des 20. Jahrhunderts“ (149), was Grayling durch eine Kritik zu begründen versucht, die oftmals recht oberflächlich ist: Wittgensteins Schlüsselbegriffe würden „verschiedene Deutungen zulassen“, und daher sei „ein großer Teil der Wittgensteinliteratur nach wie vor mit Klarstellungs- und Erklärungsversuchen beschäftigt“ (148). Dieses Schicksal – so darf man sagen - teilt er sicher mit einer Reihe weiterer Philosophen. Was Grayling insbesondere stört, ist Wittgensteins Gebrauch von Metaphern. Habe man sich erst der „Faszination seiner Metaphern […] entzogen, findet man […] viel weniger Argumentation und sehr viel weniger Bestimmtheit in den entscheidenden Begriffen, als von einer philosophischen Untersuchung erwartet werden kann und muß“ (151). Wittgensteins Hauptbegriffe seien „entweder vage oder metaphorisch oder beides“ (126). Das Resultat sei, dass „die Reise durch Wittgensteins verschlungene, metaphorische, manchmal undurchsichtige Äußerungen lang, die zurückgelegte Entfernung aber kurz“ sei (S.152). Hier wäre zu fragen, ob Wittgensteins Metaphern nicht selbst argumentative Kraft zukommt.
Es sei festgehalten, dass es Grayling gelingt, dem Nichtfachmann einen Zugang zu den Ideen Wittgensteins zu verschaffen, seine Kritik jedoch bisweilen ungerecht(fertigt) und unangemessen trivial daherkommt.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 25.03.2009
Ludwig Wittgenstein
Schulte, Joachim

Ludwig Wittgenstein


sehr gut

Einblicke in den Terminus ad quem

Als Autor mehrerer Bücher und Aufsätze über Ludwig Wittgenstein und einer seiner Nachlaßverwalter darf Joachim Schulte zu den wichtigsten deutschsprachigen Wittgensteinforschern zählen. Entsprechend zeugt sein bei Suhrkamp in der Reihe "BasisBiographie" erschienenes Buch "Ludwig Wittgenstein" von großer Sachkenntnis und souveränem Umgang sowohl mit der komplexen Philosophie wie auch der nicht minder komplizierten Persönlichkeit Wittgensteins.
Von letzterer erhält der Leser im ersten (biographischen) Teil einen plastischen Eindruck. Neben der Wiedergabe wichtiger Episoden aus Wittgensteins Biographie tragen hierzu insbesondere auch Erinnerungen von Zeitgenossen bei, so etwa wenn Herbert Feigl über Wittgensteins Impulsivität während eines Streits mit Carnap berichtet (S.31) oder Friedrich Waismann an Schlick schreibt, wie schwer eine Zusammenarbeit mit Wittgenstein aufgrund seines abrupt-intuitiven Denkens sei (S.37).
Anschaulich auch die Beschreibung der Ambivalenz von Wittgensteins Charakter, der allen "Selbstzweifeln zum Trotz" am 7.2. 1931 notiert: "Wenn mein Name fortleben wird, dann nur als der Terminus ad quem der großen abendländischen Philosophie. Gleichsam wie der Name dessen, der die Alexandrinische Bibliothek verbrannt hat" (S.40). Dass Wittgenstein nicht unbedingt an falscher Bescheidenheit litt, wird demnach nicht bloß durch jene bekannte Sentenz aus dem Vorwort des "Tractatus" belegt, in welcher er meint, "die Probleme im Wesentlichen endgültig gelöst zu haben."
Der zweite Teil gibt auf knapp 60 Seiten einen konzisen Überblick über die wichtigsten Theoriebestände von Wittgensteins Philosophie(n). Schulte folgt dabei nicht der in Deutschland seit Stegmüller häufig vertretenen Unterscheidung zwischen einem frühen Wittgenstein des "Tractatus" (Wittgenstein I) und einem späten der "Philosophischen Untersuchungen" (Wittgenstein II), sondern fordert eine höhere Beachtung der dazwischen liegenden "mittleren Periode" ("Blaues" und "Braunes Buch", "Big Typescript", "Philosophische Grammatik" und "Philosophische Bemerkungen"), deren Bedeutung sich nicht darin erschöpfe, Übergang und Vorstufe des späten Wittgensteins zu sein (S.124).
Von dieser Betrachtung abgesehen, hält sich Schulte, der ja auch Mitherausgeber der kritischen Editionen von Wittgensteins Hauptwerken ist, glücklicherweise aus werkgeschichtlichen Spezialfragen heraus und beschränkt sich auf das für ein einführendes Werk Wesentliche. Die recht ausführliche Beschreibung der mittleren Phase bringt es allerdings mit sich, dass einige derjenigen Konzepte und Ideen, die zu den bedeutendsten Theoriestücken der Wittgensteinschen Philosophie insgesamt zu zählen sind, etwas zu knapp erläutert werden, so etwa das Privatsprachenargument und das Problem der Empfindungssprache (S.95ff).
Die Darstellung von Wirkung und Rezeption der wittgensteinschen Werke beschließt als dritter Teil Schultes Buch, dessen Gebrauchswert durch eine Zeittafel, eine ausführliche Bibliografie sowie ein Personen- und ein Werkregister noch erhöht wird.
In Format, Aufmachung und Umfang ähnelt die BasisBiographie übrigens fast zum Verwechseln den bekannten Bildmonographien von Rowohlt. Man hat sich bei Suhrkamp noch etwas mehr um Lesefreundlichkeit bemüht: Längere Zitate finden sich, farblich unterlegt, in Kästchen. An den Seitenrändern dienen Stichworte zum schnellen Auffinden der jeweiligen Inhalte.
Von den genannten Einschränkungen abgesehen, kann das Buch jedem empfohlen werden, der sich einen ersten Einblick in Wittgensteins Biographie und Denken verschaffen möchte.

3 von 3 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.