Alice Munros miteinander verknüpfte Geschichten von Flo und Rose (1978) erscheinen als Hardcover neu in durchgesehener Übersetzung. -
Als Reaktion auf die Vergabe des Nobelpreises an Alice Munro waren einige enttäuschte Reaktionen zu vernehmen, warum eine Autorin ausgezeichnet würde, die 'nur'
Kurzgeschichten und die auch noch über Alltägliches schreiben würde. Die Nachzeichnung des Lebens…mehrAlice Munros miteinander verknüpfte Geschichten von Flo und Rose (1978) erscheinen als Hardcover neu in durchgesehener Übersetzung. -
Als Reaktion auf die Vergabe des Nobelpreises an Alice Munro waren einige enttäuschte Reaktionen zu vernehmen, warum eine Autorin ausgezeichnet würde, die 'nur' Kurzgeschichten und die auch noch über Alltägliches schreiben würde. Die Nachzeichnung des Lebens einer jungen Frau aus dem ländlichen Ontario in Einzelgeschichten ähnelt in ihrer Aneinanderreihung von Episoden Munros 'Wozu wollen sie das wissen'. Die kanadische Autorin erzählt auch in diesem Buch alltägliche Ereignisse aus dem Alltag von Mädchen und Frauen so exakt und stilistisch abgezirkelt, dass ihre Leser vermeintlich Vertrautes aus einem neuen Blickwinkel wahrnehmen. - Rose bekommt nach dem Tod ihrer Mutter eine Stiefmutter, Flo, und der kleine Halbbruder Brian wird geboren. Das Pflichtbewusstsein, mit dem Flo in der Zeit vor dem zweiten Weltkrieg ihre Aufgabe anpackt, könnte an eine Vernunftehe denken lassen. Damals war das nichts Ungewöhnliches. Flo nimmt den Kampf mit der widerspenstigen Rose auf; sie zeigt sich aber auch als geduldige Geschichtenerzählerin. Erwachsene waren in der geschilderten Zeit noch davon überzeugt, mit der Prügelstrafe nur das Beste für die Zukunft ihre Kinder zu tun. Munro beschreibt fein beobachtet den Kontrast zwischen dem mit Inbrunst strafenden Vater und Flo, die nur widerwillig und zum Schein schlägt. Sowie der Vater den Rücken gekehrt hat, tröstet Flo ihre Stieftochter und verwöhnt sie mit besonderen Leckerbissen. Diese Szene, in der Flo sich mit harmlosem Blick in ihrem Handeln weit von der herrschenden Meinung entfernt, finde ich charakteristisch für Munros listige Art des Erzählens. Roses Kindheit ist inzwischen Vergangenheit und ihr ist im Rückblick klar, dass Flo sich stets dem Vater unterordnete und ihre Ansichten durch passiven Widerstand ausdrückte. Flo wirkte nach außen nicht zu klug und war damit die ideale Frau für Roses Vater. - Auch Roses Lehrerin weicht Konflikten aus, indem sie ihre Schüler in der Pause sich selbst überlässt und vorgibt, nichts von Quälereien der Kinder untereinander mitzubekommen. Und doch bereitet diese so passiv wirkende ältere Frau in jedem Jahrgang einige Schüler für die Aufnahmeprüfung zur Oberschule vor. Auch Rose überquert in doppelter Bedeutung die Brücke vom Dorf in die Stadt und muss als Oberschülerin zum ersten Mal spüren, wie abgeschieden, ärmlich und ungebildet sie bisher gelebt hat. Einen Unterschied zwischen Stadt und Land hat sie bisher nicht gekannt. Rose ist ein Landei durch und durch, als sie als Stipendiatin mit viel Glück in den Haushalt ihrer Mentorin Dr. Henshawe einzieht. Ob Roses Begegnung mit dem Doktoranden Patrick ein Glücksfall für sie ist, darüber kann man geteilter Meinung sein. Durch seine Beziehung zu einem 'Bettlermädchen' rebelliert Patrick zugleich gegen die Normen seiner wohlhabenden Familie und gegen das Erwachsenwerden. Rose und Patrick verstricken sich in eine komplizierte gegenseitige Abhängigkeit, in der Überzeugung, der andere Partner könnte nicht allein existieren. Als beide längst ein gemeinsames Kind haben, ist das Beziehungsdrama noch längst nicht beendet. - Wer sich auf Munros anspielungsreichen Erzählton einlassen kann, bekommt von ihr sehr viel mehr als den Lebenslauf einer Aufsteigerin aus einfachen Verhältnissen erzählt. Viele Frauen haben zu Roses Zeit den ersten Schritt aus der Enge der Provinz vollzogen und viele Mütter wollen mit ihren Mitteln das Beste für ihre Kinder erreichen. In ihrer Beschreibung von Alltäglichem versteckt Alice Munro auch hier sprachliche Schätze und verschlüsselten Spott. Wie es sich in der Kriegs- und Nachkriegszeit in Flos Haut und der 'der Lehrerin' lebte und ob der Gang über die Brücke sich als Roses erster Schritt ins Unglück entpuppen würde, diese Frage hat mich bis zur letzten Seite nicht losgelassen. Ein zeitloser Text, der mir viel Stoff zum Nachdenken gegeben hat.