Von einem anderen Erdteil kehrt Gregor zurück in die Heimat. Das »vormalige Vieldörferland« ist eine städtische Agglomeration geworden, vertraut und zum Verirren fremd zugleich. Auch die Familie hat sich verändert: Zwar wartet der Vater wie früher mit den Spielkarten, doch hat die Schwester überraschend einen Säugling auf dem Arm. Er, der große, ältere Bruder, soll der Taufpate des Kindes werden. Vom jüngeren Bruder Hans bleiben derweil nur die Todesnachricht, vom älteren der Familie verschwiegen, und Erinnerungen, zum Beispiel an den Unfall in den Brennesseln. Selbst der Obstgarten ist ein anderer geworden, noch immer an Ort und Stelle, aber längst nicht mehr zu retten. Es zieht ihn also in die Straßen und Gassen, ins Kino, ins Fußballstadion, in den Wald, und er geht und geht immer weiter.
In Peter Handkes neuem Buch durchdringen sich Gegenwart und Vergangenheit, scheint das eine ins andere zu kippen, steht alles »auf Messers Schneide«. Auf seinem Weg zurück zur Familie, durch einstmals bekannte Landschaften hält der Erzähler immer wieder inne, Kindheitserlebnisse werden wachgerufen, innere Stimmen treten ins Zwiegespräch. Was einmal war, hat sich unwiderruflich verändert – und bleibt dennoch vertraut.…mehr
Von einem anderen Erdteil kehrt Gregor zurück in die Heimat. Das »vormalige Vieldörferland« ist eine städtische Agglomeration geworden, vertraut und zum Verirren fremd zugleich. Auch die Familie hat sich verändert: Zwar wartet der Vater wie früher mit den Spielkarten, doch hat die Schwester überraschend einen Säugling auf dem Arm. Er, der große, ältere Bruder, soll der Taufpate des Kindes werden. Vom jüngeren Bruder Hans bleiben derweil nur die Todesnachricht, vom älteren der Familie verschwiegen, und Erinnerungen, zum Beispiel an den Unfall in den Brennesseln. Selbst der Obstgarten ist ein anderer geworden, noch immer an Ort und Stelle, aber längst nicht mehr zu retten. Es zieht ihn also in die Straßen und Gassen, ins Kino, ins Fußballstadion, in den Wald, und er geht und geht immer weiter.
In Peter Handkes neuem Buch durchdringen sich Gegenwart und Vergangenheit, scheint das eine ins andere zu kippen, steht alles »auf Messers Schneide«. Auf seinem Weg zurück zur Familie, durch einstmals bekannte Landschaften hält der Erzähler immer wieder inne, Kindheitserlebnisse werden wachgerufen, innere Stimmen treten ins Zwiegespräch. Was einmal war, hat sich unwiderruflich verändert - und bleibt dennoch vertraut.…mehr
Der Österreicher Peter Handke wurde 1942 in Kärnten geboren. Er wuchs in Österreich auf und verbrachte kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs drei Jahre in Berlin. Nach seinem Schulabschluss in Klagenfurt begann er 1961 ein Studium der Rechtswissenschaften in Graz. Während seines Studiums entwickelte er Leidenschaften fürs Kino, für Rockmusik und fürs Schreiben. Er verbrachte viel Zeit in Cafés, in denen er lernte, Musik hörte und auch erste Texte verfasste. Seinen Debütroman "Die Hornissen" veröffentlichte er 1966 - und traf damit auf Anhieb auf ein begeistertes Publikum. Er beschloss, sein Studium vor der dritten Staatsprüfung abzubrechen und sich ganz dem Schreiben zu widmen.
Peter Handkes Werk umfasst heute über 70 Erzählungen und Prosawerke, zahlreiche Bühnenstücke, außerdem Lyrik, Drehbücher, Briefwechsel und Übersetzungen bedeutender Autoren wie Shakespeare oder Marguerite Duras.
Den Nobelpreis für Literatur erhielt Peter Handke 2019 "für ein einflussreiches Werk, das mit sprachlichem Einfallsreichtum Randbereiche und die Spezifität menschlicher Erfahrungen ausgelotet hat". Weiterhin lobte die Nobelpreis-Jury Handkes "außergewöhnliche Aufmerksamkeit für Landschaften und die materielle Präsenz der Welt, die Kino und Malerei zu zwei seiner größten Quellen der Inspiration werden ließen." Die Preisvergabe an Handke traf einerseits auf Begeisterung, andererseits regten sich kritische Stimmen: Dem Schriftsteller wurde vorgeworfen, Verbrechen während der Kriege im ehemaligen Jugoslawien verharmlost zu haben und Sympathien für Slobodan Milosevic gezeigt zu haben. Handke hat sich seitdem in mehreren Interviews von dieser Haltung distanziert.
Modernes meditatives Buch, das durch außergewöhliche Naturbeschreibungen besticht
Es ist das erste Buch, dass ich von Peter Handke gelesen habe. Und ich kann verstehen, dass dieser Autor seine Leserschaft spaltet. Mich hat er überwiegend begeistert.
Bei Handke ist der Inhalt schnell erzählt. Zunächst reist der Ich-Erzähler aus der Niemandsbucht, gemeint ist Paris, in die Picardie, dann wechselt die Perspektive und wir begleiten die Obstdiebin auf eine Wanderung von den Paris Vorstädten in die Picardie, wo sie zu guter Letzt einen Familienfeier besucht.
Doch viel wichtiger als die Handlung ist die Beschreibung der Natur dessen, was dem jeweiligen Hauptdarsteller so alles begegnet und was er denkt. Ich habe dieses Buch als eine Sammlung lauter Kurzgeschichten, mitunter einfach kurz und wunderbar. So als die Obstdiebin einer Freiluftmesse begegnet. Wie die Überalterung der Teilnehmer beschrieben wird, das habe ich so nie zuvor gelesen.
Thomas Gottschalk konnte im Literarischen Quartett aufzählen, wieviel Obst die Obstdiebin tatsächlich geklaut hat. Alle Achtung!
Ein Wermutstropfen muss dennoch loswerden. Ich habe das Ende, insbesondere den Sinn der Rede des Vaters nicht verstanden. Will er die Heilige Ehe retten? Ich weiß es einfach nicht.
Auch ist mir nicht klar geworden, warum die Erzählperspektive auf S.137 vom Ich-Erzähler zur Obstdiebin wechselt. Ist vielleicht der Ich-Erzähler der Vater der Obstdiebin?
Dennoch 4 Sterne. Mindestens.
Poetologischer Obstklau
Als «Letztes Epos» hat Peter Handke sein neuestes Werk «Die Obstdiebin» bezeichnet, darauf anspielend, dass seine Geschichte mit dem Untertitel «Einfache Fahrt ins Landesinnere» kein Roman sei, auch der Verlag meidet konsequent diesen Gattungsbegriff. Als Merkmale des Epos gelten in der Wissenschaft der für alle Leser gleichermaßen verbindliche Sinnhorizont, ein allgemeingültiges Weltverständnis also, sowie als literarische Themen Verlust des Naturzustands und Selbstfindung. Es geht mithin um das innerste Menschsein in dieser Geschichte, wobei Handke sich auch hier, wie üblich bei ihm, radikal von allen narrativen Konventionen gelöst hat.
«Diese Geschichte hat begonnen an einem jener Mittsommertage, da man beim Barfußgehen im Gras zum ersten Mal im Jahr von einer Biene gestochen wird», heißt es im ersten Satz. Ein Zeichen, wie es der Autor als Ich-Erzähler deutet, für Aufbruch, in seinem Fall dafür, sich auf den Weg zu machen aus seiner Niemandsbucht, mit unklarem Ziel. Ins Landesinnere vielleicht, der «Obstdiebin» folgend, die er von Ferne gesehen hat. Eine dreißigjährige Frau, die dort herumstreift auf ihrer dreitägigen Reise, unstet, zu Fuß zumeist, von Paris aus in die Picardie, der Region nördlich von Paris. Sie will, erfahren wir dann ziemlich spät, zu einem kleinen Familientreffen, und in gottverlassener Gegend, auf der Hochebene des Vexin trifft sie schließlich die Eltern und den Bruder in einem bescheidenen Cateringzelt.
Es ist, wie man sehen kann, nicht leicht, so etwas wie eine Handlung aus den 559 Buchseiten heraus zu destillieren, die im Zeichen des Eskapismus stehen. Die Anklänge an Parzival sind unübersehbar, Wolfram von Eschenbach wird öfter zitiert, und so kann man die seltsame Geschichte der Obstdiebin am treffendsten denn auch als eine abenteuerliche Reiseerzählung bezeichnen, wundersam und mythisch, ein stiller Lobgesang auf das einfache, naturverbundene, arglose Leben. Und im letzten Absatz der immer wieder wundersam schwebend erscheinenden Geschichte steht geschrieben: «Was sie doch auf ihrer Fahrt ins Landesinnere alles erlebt hat, und wie jede Stunde dramatisch gewesen war, auch wenn sich nichts ereignete, und wie in jedem Augenblick etwas auf dem Spiel gestanden hatte … Nein seltsam. Bleibend seltsam. Ewig seltsam.»
Und in der Tat, Handkes poetische Erzählung einer surrealen Tour lebt von der Magie des Augenblicks, vom Zauber zufälliger Geschehnisse, von der Unbestimmtheit ihrer Figuren, von den Wundern der Natur. Zu denen leitmotivisch natürlich das Obst gehört, welches die mystische Heldin aber nur dann begehrt, wenn es fast unerreichbar ist, am besten als Zufallsfund auf einem bereits abgeernteten Baum oder als erste reife Frucht, immer aber als Mundraub in freier Natur. Handke benutzt diese Wanderung durch die Picardie, diese Landschaft seiner Sehnsucht, um sinnierend und reflektierend seinen ureigenen Gedankenkosmos vor dem Leser auszubreiten, um aphoristisch gekonnt und sprachmächtig ein Weltbild der Erleuchtung zu entwickeln. Ein Dichter, der behutsam gegen ein ungutes Weltgeschehen anschreibt, so als wollte er die Zeit anhalten. Was sind denn nun die Lesefrüchte in einem Epos ohne Plot, in dem nichts erklärt wird, dessen Figuren keine Psyche zu haben scheinen, die der Rede wert wäre? Sprachlich hat Handke seinen ureigenen Stil gefunden, benutzt altmodische Wendungen in langen Satzgebilden, lässt, wenn überhaupt mal, seine wundersamen Figuren eher kryptische Sätze sprechen oder, wie am Ende der Vater bei seiner Festrede, überlange pathetische Monologe. Zur Höchstform läuft der Autor auf, wenn er detailliert und wunderbar anschaulich die Natur beschreibt oder seine lebensechten, sympathischen Figuren. Es sind die kleinen Dinge mithin, und die kleinen Leute auch, die im Fokus stehen, die hier zu Literatur werden, wenn man die unbedingt erforderliche Geduld mitbringt beim Lesen und den Sinn für die erzählerischen Flickflacks eines originären Schriftstellers.
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