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© BÜCHERmagazin, Sonja Hartl (sh)
Anita Nairs Inspektor Gowda ermittelt in Bangalore
Die Geschichte spielt in Bangalore, der drittgrößten Stadt Indiens im Südwesten des Landes. Es ballen sich in der wuchernden Metropole um die zehn Millionen Menschen auf engstem Raum: bitterste Armut und Reichtum in gated communities, Verbrechen und machtlose Obrigkeit, ungebrochen patriarchalische Regeln und verzweifelte Auflehnung, Gewalt gegen Frauen, Mädchen, Kinder und Helfer, deren Einsatz wie ein Tropfen auf dem heißen Stein anmutet.
Davon erzählt Anita Nair, 1966 im indischen Bundesstaat Kerala geboren und in Bangalore lebend, die ihre Romane auf Englisch schreibt und mit ihnen internationale Anerkennung findet. Sie tut das mit vollem Einsatz an Sentiment, das auch die Sitten ihres Landes schlaglichtartig erhellt, in manchmal brutalen Schilderungen, um auf Untaten aufmerksam zu machen. Auf Deutsch heißt ihr im Original als "Chain of Custody" 2016 erschienener Roman "Gewaltkette".
Borei Gowda ist der Inspektor im Zentrum des Geschehens, ein Polizist aus Leidenschaft, so um die fünfzig. Man muss ihn mögen, schon seiner Unzulänglichkeiten halber - und ein bisschen, weil er auf seiner Royal Enfield Bullet durch die Straßen rast. Dauernd eckt er irgendwo an. Im Privatleben bekommt er seine zerrüttete Ehe samt dem schwierigen Sohn nicht mit den Bedürfnissen seiner eleganten vermögenden Geliebten unter einen Hut.
Auf dem Revier macht ihm sein unberechenbares Temperament immer wieder Probleme mit Unfähigkeit und Korruption, nicht zuletzt wegen seiner gelegentlich erratischen Ermittlungsmethoden. Gowda hat aber ein paar Getreue um sich geschart, er und die Seinen kämpfen bis zur körperlichen und seelischen Erschöpfung. Im vorliegenden Fall wird Gowda an einen Tatort gerufen: Ein bekannter Anwalt liegt mit zertrümmertem Schädel in seinem Haus in einer Luxusenklave, ertrunken in der Lache seines Bluts. Dass es sich um Mord handelt, ist evident. Gleichzeitig erreicht den Inspektor die Nachricht, dass die kleine Tochter seiner Hausbesorgerin verschwunden ist.
Was die beiden Geschehnisse miteinander zu tun haben, kristallisiert sich im Lauf der Story heraus. Die Verkettung der Gewalt führt zu Machenschaften des Kinderhandels, sie erfasst depravierte Existenzen und verschont nicht die Oberschicht, für die es um die Zwangsprostitution minderjähriger Mädchen geht, die für zahlende Kunden bereitgehalten werden.
Leider ist es nicht ganz einfach, die Fäden der Handlung samt den vielen Personen, die sich innerhalb von neun Tagen miteinander verschlingen, im Griff zu behalten. Zumal eine "Ich"-Figur, die sich Krishna nennt, eingesponnen ist und die einem aus dem Dunkeln heraus befehlenden "Thekedar" hörig ist. Es ist hilfreich, dass die Übersetzerin Karen Witthuhn im Anhang ein Glossar bereitstellt, das auch diesen indischen Begriff als "jemand, der daran verdient, Arbeitskräfte oder Material zu vermitteln", klarstellt.
Die Lösung des Knotens am Ende ist, nicht nur für die tapferen Ermittler, etwas unbefriedigend. Die Bekanntschaft mit dem schroffen Inspektor Gowda ist immerhin charmant.
ROSE-MARIA GROPP
Anita Nair: "Gewaltkette".
Aus dem Englischen von Karen Witthuhn.
Argument Verlag + ariadne, Hamburg 2017.
352 S., geb., 19,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Anita Nair erzählt von Entführung und Kindersklaverei in Indien
Ein Kater hat sich eingestellt, bei Inspektor Borei Gowda, der im südindischen Bangalore sein Dasein fristet. Der knurrige Mittfünfziger entspricht beinahe schablonenhaft dem modernen sympathisch-soziopathischen Ermittlertypus mit chaotischem Privatleben, ungesunder Trinkgewohnheit und unkonventionellen Ermittlungsmethoden. Diesmal recherchiert er also nicht in Stockholm oder London, sondern im indischen Silicon Valley, wie das Gebiet um Bangalore auch heißt.
Die Luft scheint zu vibrieren vor Aufbruchstimmung, doch Gowda ist, seiner Rolle gemäß, Berufspessimist und blickt mürrisch in den Schatten dieser Entwicklung. Nicht weit von den Slums und dem florierenden Rotlichtmilieu leben die Neureichen, Tech-Millionäre in Gated Communities und Luxusvillen. Nirgends ist die Hierarchie des ehemaligen Kastensystems so präsent wie hier, das Gefälle zwischen Arm und Reich. Anita Nair schickt ihren Inspektor auf seinen zweiten Einsatz. In „Gewaltkette“ prallt die hierarchische Bürokratie der Polizei von Bangalore auf die verworrene Vernetzung der Stadt als Umschlagplatz für Menschenhandel. Doch geht Gowda in den sozialen wie ökonomischen Widersprüchen seiner Umgebung gänzlich auf, und das macht aus dem Typus eine glaubhafte Figur. So ungestüm, wie er auf seinem Retro-Motorrad durch die immer moderner werdende Stadt braust, stürzt er sich auch in zwei Fälle gleichzeitig, ohne die Auswirkungen abschätzen zu können. Die zwölfjährige Tochter seiner Haushälterin ist verschwunden, und beinahe zur gleichen Zeit wird ein berühmter Anwalt erschlagen in seiner Villa aufgefunden. Hartnäckig entwirrt Gowda die Verstrickungen der Oberschicht in der Sklaverei heute, muss sich dabei geschickt durch ein Netzwerk manövrieren aus Korruption, Vertuschungsversuchen und der abgestumpften Gleichgültigkeit der Kollegen.
Wie Gowda seinen Fall Stück für Stück zusammenpuzzelt, montiert Anita Nair aus einer Vielzahl von Schlaglichtern ein düsteres Bild der indischen Gesellschaft. Da ist Gowdas Partner Santosh, der den ersten Fall nur knapp überlebt hat. Das verschwundene Mädchen Nandita wurde auf dem Schulweg gekidnappt und wird nun von der sechzehnjährigen Moina auf ihren ersten Einsatz im Bordell vorbereitet. Die siebzehnjährige Rekha wird von einem Loverboy angeworben und soll Kunden wie den Anwalt Dr. Rathore als Escortgirl betreuen.
Krishna bezirzt mit seinem entwaffnenden Lächeln unbedarfte Kinder und sorgt so für neue „Ware“. Seine Ich-Erzählung sticht unter all den Perspektiven heraus, obwohl er nur eine Figur am Rande ist. Der Kaltschnäuzigkeit, mit der er als „großer Bruder“ das Vertrauen der Minderjährigen ausnutzt, steht die Geschichte der zwölfjährigen Tina gegenüber. Sie wurde brutal vergewaltigt und somit für die Zwecke der Zuhälter gebrochen. Nüchtern spult sie die Fakten ab – als erzählte sie von einer Fremden. Wenn sie Glück haben, werden die entführten Kinder als Haussklaven oder Fabrikarbeiter vermittelt, ansonsten landen sie in einem Hinterzimmerbordell.
An vielen Stellen überlagern sich die Perspektiven, lassen die Handlung beinahe zum Stillstand kommen. Eine Entschleunigung, die der nervenzerrenden Verlangsamung der Ermittlungen durch bürokratische Hürden und Hierarchieketten im Polizeiapparat entspricht, die Gowda in geheime und nur halb legale Recherchen treiben. Doch sind diese klassische Thrillerhandlung und ihr beinahe durchschnittlicher Inspektor nur das Gefäß für Anita Nairs bedrückende Studie der Maschinerie, die in Indien wie am Fließband Kindersklaven produziert und das Getriebe des wirtschaftlichen Aufschwungs am Laufen hält.
SOFIA GLASL
Anita Nair: Gewaltkette. Aus dem Englischen Von Karen Witthuhn, Ariadne/Argument Verlag, Hamburg 2017. 350 S., 19 Euro. E-Book 14,99 Euro.
Die siebzehnjährige Rekha wird
von einem Loverboy angeworben
und soll als Escortgirl arbeiten
Im Hinterhof von L.A. lag die „Main Street“, die übelste Straße der Stadt,
mit ihren zahlreichen Tattoo-Studios, hier um 1943.
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