Jacques und Friederike sind in eine altengerechte Wohnung gezogen. Das Leben des betagten Paars ähnelt dem vorsichtigen Balancieren auf einem Seil, das jederzeit mit dem Absturz in die Pflegebedürftigkeit enden kann. Friederike nimmt in Raten Abschied von Kompetenzen; wegen ihrer brüchigen Stimme
hat sie ihren geliebten Chor aufgegeben. Nicht zu fallen, absorbiert einen großen Teil ihrer…mehrJacques und Friederike sind in eine altengerechte Wohnung gezogen. Das Leben des betagten Paars ähnelt dem vorsichtigen Balancieren auf einem Seil, das jederzeit mit dem Absturz in die Pflegebedürftigkeit enden kann. Friederike nimmt in Raten Abschied von Kompetenzen; wegen ihrer brüchigen Stimme hat sie ihren geliebten Chor aufgegeben. Nicht zu fallen, absorbiert einen großen Teil ihrer Aufmerksamkeit. Friederike braucht keine Anregungen mehr von außen, sie ist sich selbst Last genug. Ehemann Jacques scheint das verletzlich wirkende Arrangement noch zusammenzuhalten, auch wenn ihn beschäftigt, wie er einmal sterben wird. Zwischen beruflichen Terminen eilt Tochter Kathrin zu Kurzbesuchen herbei, die ihren Eltern kaum Unterstützung bieten. Rhetorische Manöver sollen beide Seiten beruhigen, doch längst ist nichts mehr zu beruhigen. - . Die Patchwork-Struktur ließ mich ab und zu innehalten, um mich zu fragen, von wessen Tochter mir da gerade erzählt wird. Den zeitlichen Rahmen bilden historische Ereignisse, weitausholend von Friederikes deutschem Vater als Teilnehmer des Zweiten Weltkriegs, über die Mondlandung (1968) bis zum Attentat von Utøya (2011). Dem spürbaren Altern des Elternpaars im Prolog folgt das Schicksal der als Babyboomer geborenen Generation und ihrer Nachkommen. 1964, im Jahr von Kathrins Geburt, hat Jacques mit seiner Geliebten Helena eine weitere Tochter gezeugt, die von ihrem leiblichen Vater zunächst nichts weiß. Kathrin und ihre Halbschwester gehören zu einem zahlenmäßig starken Geburtsjahrgang, der einem sich abzeichnenden "Pflegenotstand" entgegen altert. Helena ist bereits verstorben, in beiden Familien gibt es erwachsene Enkel. - Das Altern der mittleren Generation war für mich das eigentliche Thema dieses Familienromans. Kathrin ist mit rund 50 Jahren beruflich zwar auf dem Höhepunkt ihres Erfolgs und ihrer Leistungsfähigkeit angekommen. Sie hat lange vor der Lebensmitte aber bereits den frühen Tod Gleichaltriger erlebt, den Abschied von Träumen und den Punkt, von dem an alles nur noch abwärts zu gehen scheint. Ein roter Faden im Buch war für mich die finanzielle Abhängigkeit dieser mittleren Generation von den Eltern. In beiden der von Jacques begründeten Familienzweige scheitert die folgende Generation daran, sich und ihre Kinder aus eigener Kraft zu ernähren. Erst Brennan, Iris Sohn, distanziert sich von der finanziellen Abhängigkeit und will unabhängig von seiner Mutter leben. Die Kinder scheinen nicht erwachsen zu werden, ihre Eltern können in hohem Alter immer noch nicht aufhören, sich um sie zu sorgen. Doch der Kokon zeigt erste Risse. Eine Gesellschaft von Erben, die Demokratie und Menschenrechte nach dem Zweiten Weltkrieg nicht selbst erkämpft hat, ruht sich auf den von den Eltern gewonnenen Lorbeeren aus, zu kraftlos, um für sich selbst zu sorgen. Die Symbolik einer kindlich-fordernden, gefräßigen Göre als amerikanische Noch-nicht-Schwiegertochter verursachte mir eine Gänsehaut. Aufwachsen ohne Vater setzt sich in Jacques Clan über die Generationen fort. Kindern werden Lügen über ihre abwesenden Väter erzählt; Heimlichkeiten, Süchte, Selbstzerstörung und psychische Krankheiten prägen die Familienbeziehungen. - Ruh Schweikerts Bilder und Symbole haben mich sehr nachdenklich zurückgelassen: Der fast verlassene Ort in Italien, in den die ausgewanderten Bewohner nur noch in den Ferien zurückkehren, die Figur des Hausarztes, der einst als Flüchtling in die Schweiz kam; das Bild eines Elternhauses, das alles für einen aufbewahrt, das die eigenen Kinder einmal brauchen könnten - oder auch nicht. Ruth Schweikert sprachlich erzählt dicht, mit origineller Symbolik und liebevoll beobachteten Details aus einer Familie, deren Kinder zu den letzten geburtenstarken Nachkriegsjahrgängen gehören. Einer der besten Romane dieses Jahres.