Marktplatzangebote
8 Angebote ab € 2,00 €
  • Gebundenes Buch

In "Kain" schreibt José Saramago die Bibel kurzerhand um und lässt den Brudermörder eine ganz eigene Reise durchs Alte Testament antreten. Mit Phantasie, Ironie und einem Schuss Boshaftigkeit führt der große Romancier die göttliche Allmacht ad absurdum."Portugals bedeutendster Romancier" (DIE ZEIT) hat seinen Lesern mit seinem letzten Werk ein kraftvolles, provozierendes Vermächtnis hinterlassen.
Das Vermächtnis des Nobelpreisträgers
José Saramago war bekennender Atheist und eckte regelmäßig bei der katholischen Kirche an. In seinem letzten Roman schreibt er die Bibel kurzerhand um und
…mehr

Produktbeschreibung
In "Kain" schreibt José Saramago die Bibel kurzerhand um und lässt den Brudermörder eine ganz eigene Reise durchs Alte Testament antreten. Mit Phantasie, Ironie und einem Schuss Boshaftigkeit führt der große Romancier die göttliche Allmacht ad absurdum."Portugals bedeutendster Romancier" (DIE ZEIT) hat seinen Lesern mit seinem letzten Werk ein kraftvolles, provozierendes Vermächtnis hinterlassen.
Das Vermächtnis des Nobelpreisträgers

José Saramago war bekennender Atheist und eckte regelmäßig bei der katholischen Kirche an. In seinem letzten Roman schreibt er die Bibel kurzerhand um und lässt den Brudermörder Kain eine ganz eigene Reise durchs Alte Testament antreten. Mit Phantasie, Ironie und einem Schuss Boshaftigkeit führt der große Romancier die göttliche Allmacht ad absurdum.

»Die Geschichte der Menschheit ist die Geschichte ihrer Uneinigkeit mit Gott, weder versteht er uns, noch verstehen wir ihn«, heißt es in Saramgos Kain, und es könnte das Motto des Buches sein. Saramago schickt seinen Kain an die unterschiedlichsten Schauplätze des Alten Testaments und lässt ihn aktiv an den biblischen Episoden teilhaben. So ist Kain dabei, als Abraham aufgefordert wird, seinen Sohn Isaak zu opfern, wobei er ihm überzeugend die Unsinnigkeit dieses Unternehmens vor Augen führt und Schlimmeres abwendet. Er interpretiert auf seine Weise die Zerstörung von Sodom und Gomorrha, ist fassungslos angesichts der Babel'schen Sprachverwirrung und findet sich am Ende auf der Arche Noah wieder. "Portugals bedeutendster Romancier" (Die Zeit) hat mit Kain ein kraftvolles, provozierendes letztes Werk geschrieben.

Autorenporträt
José Saramago (1922-2010) wurde in Azinhaga in der portugiesischen Provinz Ribatejo geboren. Er entstammt einer Landarbeiterfamilie und arbeitete als Maschinenschlosser, technischer Zeichner und Angestellter. Später war er Mitarbeiter eines Verlags und Journalist, bevor er Schriftsteller wurde. Während der Salazar-Diktatur gehörte er zur Opposition.1998 erhielt er den Nobelpreis für Literatur.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.08.2011

Der liebe Gott muss dringend in Therapie

Im Anfang waren Sex, Macht und Korruption: Der im vorigen Jahr verstorbene Nobelpreisträger José Saramago schickt in seinem letzten Roman den Brudermörder Kain zurück in die Zukunft.

Gott hat eine Schraube locker. Anders kann sich Kain keinen Reim auf all das machen, was er auf jahrzehntelangen Irrfahrten erfuhr. Leichen pflastern Gottes Weg. Sei es nach den skrupellosen Landnahme-Massakern wie in Jericho. Sei es bei undifferenzierten Strafoperationen wie in Sodom, wo mit der sündhaften Bevölkerung auch die unschuldigen Kinder vernichtet werden, oder durch die Sintflut sogar fast die gesamte Menschheit. Sei es durch sadistische Spielchen mit seinen Getreuesten, etwa Hiob, dem er mitleidlos Besitz, Gesundheit, Familie raubt, nur um zu prüfen, ob ihm seine Knechte treu zur Seite stehen. Dazu verlangt er ihnen, wie Abraham, gern sogar die Hinrichtung des eigenen Sohns ab.

Solch ein "abgefeimter Hurensohn" - so nennt Kain gleichermaßen den bereitwillig-kritiklosen Kindesmörder wie seinen Auftraggeber - gälte normalerweise als Personifikation des Bösen. Der Haken ist nur: Das Böse ist kein Alleinstellungsmerkmal. Dafür hat Gott ja schon Satan in die Welt geschickt. Und in seiner unbändigen Eitelkeit könnte er es wohl kaum ertragen, dass seine Funktion bereits von einem Subalternen ausgefüllt wird. Also bleibt nur die besagte Folgerung: "Dass unser Gott, der Schöpfer von Himmel und Erde, komplett verrückt ist. Weil nur ein Verrückter, der sich seines Handelns nicht bewusst ist, zugeben würde, für den Tod von Hunderttausenden von Menschen verantwortlich zu sein, und sich anschließend so verhält, als wäre nichts geschehen."

Dass es vor dem Lissabonner Erdbeben von 1755 Denkern der Neuzeit kaum in den Sinn kam, die Allmacht und Güte Gottes fundiert anzuzweifeln, obwohl es schon davor an Indizien nicht mangelte, ist eine der Wunderlichkeiten unserer Geistesgeschichte. Nicht weniger überraschend ist es allerdings, wenn ein Vierteljahrtausend später mit José Saramago ein - zufällig in Lissabon aufgewachsener - Schriftsteller der Gegenwart am Ende seines Lebens, das ihn durch fast ein ganzes Jahrhundert der Kriege, Diktaturen und Genozide führte, die Theodizee-Frage aufs Neue aufwirft: in aller Naivität - so als sei das eine neue Idee, auf die vorher niemand kam. Anders als Voltaire und seine Zeitgenossen konfrontiert Saramago Gott jedoch nicht mit den von ihm nur geduldeten, aber vom Menschen oder den Naturgewalten verursachten Greueln der Gegenwart. Vielmehr konzentriert er sich auf die Untaten, die "der Herr, bekannt auch unter dem Namen Gott", im Anschluss an den Schöpfungsakt persönlich verübte oder in Auftrag gab - und zudem, als behaupteter Autor der Heiligen Schrift, eigenständig dokumentierte.

Im letzten Roman seiner Laufbahn fängt der im vergangenen Jahr verstorbene Nobelpreisträger insofern im wahrsten Sinne wieder bei Adam und Eva an. Und scheut nicht vor der Vermessenheit zurück, das Alte Testament neu zu erzählen: als ein Best of (besser wohl: Worst of) auf 170 Seiten. Bereits der Schöpfungsbericht und die Paradieserzählung werden gründlich gegen den Strich gebürstet. Spätestens bei der Begegnung mit dem Cherub am Eingang von Eden, den Eva zur Herausgabe von Früchten aus dem Garten bewegen will, wird klar, dass es in der Geschichte der Menschheit von Anfang an vor allem um Sex, Macht, Geschäft und Korruption geht. Als eigentlichen Protagonisten und Titelhelden wählt Saramago insofern den ersten von Gott zum Bösewicht stigmatisierten Menschen: Kain. Seitdem der Herr ihn für eine recht klägliche Übersprungshandlung aus dem Land seiner Familie verbannt hat - den Mord an seinem Bruder Abel, mit dem er seiner Frustration darüber Luft machte, nicht Gott höchstpersönlich umbringen zu können -, streift er ziellos durchs Land. Zugleich durch die Jahrhunderte, denn Saramago verlegt die Verbannung und Irrfahrt seines Helden auch auf die chronologische Achse. So macht er Kain zum Vater aller Zeitreisenden, wie sich auch überhaupt sein Bibel-Remake zusehends als ironisch-eklektisches Potpourri unterschiedlichster Literaturgenres entpuppt.

In typischer Science-Fiction-Manier springt Kain in der biblischen Geschichte vorwärts und zurück durch die Jahrhunderte und liefert dem - sich in der von Saramago gewohnten Manier ständig durch ironisch-ketzerische Kommentare zu Wort meldenden - Erzähler damit den Vorwand, jenseits gewohnter Ordnungsprinzipien eine durchgehende Hauptfigur im Schweinsgalopp durch den Pentateuch und die Prophetenbücher zu scheuchen: als Türhüter und Liebhaber von Lilith, beim Turmbau von Babel, mit Josua in Jericho, mit Lot in Sodom, mit Moses am Fuß des Sinai und mit Aaron beim Goldenen Kalb. Sogar kurz vor der Sintflut schmuggelt Kain sich ungewollt in den Bau von Noahs Arche und muss wohl oder übel mit an Bord genommen werden - um als Fruchtbarkeitsprotz auf Gottes Geheiß die Frauen an Bord zu vernaschen und schließlich seiner Rache an Gott endgültige Gestalt zu geben: indem er eigenhändig die übrig gebliebene Menschheit ausrottet.

Und Gott? Was sagt Gott dazu? Der hat gerade keine Zeit. Er ist "damit beschäftigt, das hydraulische System des Planeten zu überprüfen" und darüber zu jammern, dass er sich in letzter Zeit "nicht so richtig wie ein Gott, eher wie ein Polier der Arbeiterengel" fühlt, die wie Obelix oder die Superhelden mit bloßen Fingern riesige Nägel in den Rumpf der Arche versenken. Dass er von Kain zum Sündenbock für das Elend der Welt gemacht wird, empfindet der Herr als ungerecht: "Gott ist unschuldig, alles wäre genau so, wenn es ihn nicht gäbe." Vielleicht, so möchte man schließen, müssten Gott und Mensch sich einer gemeinsamen Paartherapie unterziehen. Denn vieles scheint verursacht durch Kommunikationsbarrieren: "Die Geschichte der Menschheit ist die Geschichte ihrer Uneinigkeit mit Gott, weder versteht er uns, noch verstehen wir ihn."

Wohin allerdings führt all der blasphemische Spott? Denn auch Gotteslästern ist kein Alleinstellungsmerkmal. In puncto Meisterschaft im bibelschänderischen Witzereißen kann Saramago den Monty Pythons und dem "Leben des Brian" nicht das Wasser reichen. Kains satirische Dialoge mit dem Herrn und seinen Engeln verblassen gegenüber dem trocken absurden Humor von Ahnes "Zwiegesprächen mit Gott", seines Zeichens Mieter einer Einraumwohnung am Prenzlauer Berg. Und dass der Siegeszug des Monotheismus und seiner patriarchalischen Ideologie Unheil in die Welt gebracht hat, ist als Gedanke zuvor stringenter hergeleitet worden. Als Provokateur konnte Saramago mit seinem Roman allein auf der katholischen Iberischen Halbinsel einen kleinen Skandal hervorrufen. Hierzulande aber wird er allenfalls den Wählern der Partei Bibeltreuer Christen die Haare zu Berge stehen lassen.

Dennoch besitzt "Kain" einen Charme, der Saramagos vorausgehenden Büchern abging: lakonische Eleganz. Stetig die Stilregister wechselnd, die Grenzbereiche von Ernst und Humor, von Nüchternheit und Agitation, von Reflexion und Erzählfreude auslotend, erreicht Saramago bei aller Polemik eine fragile Heiterkeit, die sich stets des drohenden Abgrunds bewusst ist. Was hat Hiob davon, wenn ihn der Herr für das entschädigt, was er ihm raubte, indem er ihm das Doppelte zurückerstattet? Kehren dadurch etwa die zehn getöteten Söhne wieder ins Leben zurück? Ist der Glaube so viel Elend wert? Dergleichen bohrende Fragen machen Kain zum Schutzpatron der Skeptiker, und somit auch zum Alter Ego des Autors, der sich stets als skeptischen Pessimisten charakterisiert hat.

Tatsächlich ist Pessimismus in "Kain" allerorts spürbar. Wie Saramago selbst einmal äußerte, richtet das Buch sich nicht gegen Gott, sondern gegen die Menschheit, die ihn erfunden hat. Ob Christen, Juden oder Muslime: sie alle legten ihrem Glauben dasselbe anthropomorph-patriarchalische Scheusal zugrunde. Wer im Alter von fast neunzig Jahren, im Angesicht des nahenden Todes, dem Bankrott Gottes und seiner Heilsversprechen mit einer ähnlich unverschämten Gelassenheit entgegenblickt, hat zweifellos das epikureische Ideal der Ataraxie erreicht. Aus dieser angstlosen Ruhe heraus setzt Saramago bei den Wurzeln der abendländischen Überlieferung an und versucht, sie spielerisch zu dekonstruieren - um aufzudecken, dass die Seligkeit, die der monotheistische Gott verheißt, eigentlich die Hölle ist. Erst recht die Opfer, die sie kosten soll.

"Die Geschichte ist zu Ende, mehr gibt es nicht zu erzählen": Sarkastisch macht sich Saramago mit diesem Schlusssatz des Romans seinen eigenen Reim auf geschichtsphilosophische Spekulationen. Wenn die Menschheit schon auf Noahs Arche ums Leben kann, gibt es danach auch keine Literatur mehr. Schon gar kein Neues Testament. Zugleich aber ist dieser Satz Saramagos Testament: Es sollte der letzte seines gesamten OEuvres als Romancier bleiben.

FLORIAN BORCHMEYER.

José Saramago: "Kain". Roman.

Aus dem Portugiesischen von Karin von Schweder-Schreiner. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2011. 176 S., geb., 19,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 29.08.2011

Die Not des Brudermörders
Vermächtnis eines Unversöhnten: „Kain“, der letzte Roman des portugiesischen Nobelpreisträgers José Saramago
„Die Geschichte ist zu Ende, mehr gibt es nicht zu erzählen.“ So lakonisch schließt der letzte Roman José Saramagos, der nun posthum auf Deutsch erschienen ist. Selbst im biblischen Alter von 88 Jahren präsentierte Saramago kurz vor seinem Tod seine ganz eigene Version der ersten biblischen Familientragödie. Kains Brudermord ist ein schwerer, bedeutungsvoller Stoff, den Saramago allerdings mit einer virtuosen, anstrengungslosen Lässigkeit bewältigt, wie sie nur ganz großen und sehr alten Autoren vorbehalten ist.
Das fängt schon mit dem Erzähler an, der Kain offenbar immer sehr nahe war, was eigentlich nicht stimmen kann, weil zum Zeitpunkt des Brudermords bekanntlich erst vier Menschen auf der Erde wandelten: Adam und Eva, Kain und, für kurze Zeit noch, Abel. Und eigentlich dürfte es diesen Erzähler gar nicht geben, denn nach seiner Darstellung hat Kain auf der Arche Noah ein fürchterliches Gemetzel angerichtet, das er als einziger Mensch überlebte, von Gott dazu verflucht, einsam bis ans Ende seines Lebens auf dem entvölkerten Planeten auszuharren. Damit sollte die Geschichte zu Ende sein, sollte es nichts mehr zu erzählen geben, was natürlich auch bedeutet, dass kein Leser, kein Hörer, dass niemand je etwas von dieser Geschichte erfahren würde. Ein Erzähler, der so etwas erzählt, hat die Glaubwürdigkeit seiner Geschichte schon verspielt.
Aber nicht nur der Erzähler hat ein Glaubwürdigkeitsproblem. Was nämlich hat Gott geritten, so taktlos und unmissverständlich zu demonstrieren, dass ihm Abels Brandopfer immer besonders gut gefallen hat? Man versteht Kain, dass er darüber in Rage gerät, auch wenn das selbst nach damaligen Maßstäben noch keinen Brudermord rechtfertigen muss. Gottes Ungerechtigkeit und dass er tatenlos dabei zugesehen hat, wie Kain seinen Bruder tötete, demonstriert an dieser sehr frühen Stelle des Alten Testaments zum ersten Mal, dass sich der Schöpfer und seine Geschöpfe ziemlich fremd gegenüberstehen: „Die Geschichte der Menschheit ist die Geschichte ihrer Uneinigkeit mit Gott, weder versteht er uns, noch verstehen wir uns mit ihm.“
Saramagos Fassung dieser Geschichte unterscheidet sich ganz wesentlich von der im Alten Testament überlieferten Version. Nachdem ihm Gott nach dem Brudermord das Mal auf die Stirn gezeichnet hat, flieht Kain in die Fremde und verdingt sich als Arbeiter auf der Baustelle des Palasts der Lilith, die bei Saramago nicht als Adams erste Frau, sondern als Gattin Noahs auftritt. Der wurde ihren erotischen Bedürfnissen noch nie gerecht, ganz im Gegensatz zu Kain, den sie von der Baustelle weg in ihr Bett engagiert, zu beiderseitigem Vergnügen. Als nun aber Lilith schwanger wird (was ihr mit Noah noch nie passiert ist), sieht Kain den Zeitpunkt gekommen, sich aus dem Staub zu machen.
Sein weiterer Weg führt ihn kreuz und quer durch die Bücher Moses und der Propheten. Er wird Zeuge, wie Abraham sich daran macht, seinen Sohn zu opfern, erlebt die babylonische Sprachverwirrung und den Untergang Sodoms, beobachtet den Tanz um das goldene Kalb und die Eroberung Jerichos. Am Ende kehrt er zu Noah und Lilith zurück, just in dem Moment, da Noah den Bau der Arche vollendet. Kain darf mit ins rettende Boot, was Noah noch bitter bereuen wird, denn sein Gast wandelt sich zum Berserker, der am Ende der großen Flut seinem Schöpfer alleine gegenübersteht: am Ende aller Geschichten, am Ende allen menschlichen Lebens.
Gott hat den Menschen aufgegeben und der letzte Mensch hat Gott aufgegeben, weil er erkennen musste, dass dieser Gott ein gnadenloser Tyrann ist, der Unschuldige sterben lässt, Gemeinheiten belohnt, der vor Gewalt nicht zurückschreckt und offenbar keine Idee für ein friedvolles Leben auf Erden hat. So weit, so blasphemisch.
Wirklich blasphemisch? Die Frage, wie sich die Erfahrung von Leid und Ungerechtigkeit mit der Behauptung eines allmächtigen, ja gütigen Schöpfers vereinbaren lässt, beschäftigt als Theodizee spätestens seit der Aufklärung Philosophen und Theologen. Trotz seiner polemischen Wendung dieser Frage sollte man dieses Buch nicht auf das Manifest eines leidenschaftlichen Atheisten reduzieren, der Saramago tatsächlich war, was übrigens in seiner portugiesischen Heimat bis vor ein paar Jahrzehnten einige Standfestigkeit verlangte. Zuallererst ist dies ein Roman, und zu bewundern ist an ihm, wie viel Leben Saramago dem archaischen Stoff einhaucht.
Man schwitzt mit Kain auf seinen Wanderungen von einem Abenteuer zur nächsten, erschrickt vor Abrahams unbedingtem Gehorsam, zuckt zusammen, wenn die Posaunen von Jericho dröhnen. Und weil der Erzähler diese Schilderungen immer wieder aus ironischer Distanz kommentierend unterbricht, haben sie nichts mit pathetischem Bibel-Kino gemein.
Dieser Erzähler freilich geht, anders als der Autor Saramago, nicht so weit, die Existenz Gottes überhaupt zu bestreiten. Aber auch er macht kein Hehl daraus, dass er von diesem Schöpfer keine gute Meinung hat – wie auch von der Idee eines jüdischen Staats. An mindestens zwei Stellen schimmert in Nebensätzen Saramagos Kritik an der Rolle Israels im Nahen Osten durch, wie er sie explizit in seinem Blog formuliert hat. (Offenbar wollten ihm dabei nicht alle Verlage folgen. Zumindest in Deutschland erscheinen die letzten beiden Romane eben nicht, wie das übrige Werk, bei Rowohlt.) Ganz suggestiv bietet der Erzähler den Lesern einen Common Sense an: Wussten wir nicht schon immer, dass an dieser Geschichte vom lieben Gott und seinem auserwählten Volk etwas faul ist?
Man kann Saramagos Abrechnung mit dem Gott der Juden und Christen aber auch ganz anders lesen: Als Erinnerung an den strafenden und zürnenden Gott, der in der heutigen Glaubenspraxis einen schweren Stand hat gegenüber dem gütigen, gnädigen Vater. Die Zeiten, da unsere heutigen Angst- und Krisenerfahrungen diese dunkle Seite Gottes heraufbeschworen hätten, sind, historisch gesehen, noch gar nicht so lange her – aber sie erscheinen unendlich fern. Diesem widersprüchlichen, oft unverständlichen Gott verdankte das Christentum über Jahrhunderte den nicht geringsten Teil seiner Faszination, eine Faszination, wie sie auch von großen literarischen Stoffen ausgeht. Mit dieser biblischen Kontrafaktur findet ein episches Lebenswerk von europäischem Rang seinen Abschluss. Die Geschichte ist zu Ende, mehr gibt es nicht zu erzählen.
TOBIAS HEYL
JOSÉ SARAMAGO: Kain. Roman. Aus dem Portugiesischen von Karin von Schweder-Schreiner. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2011. 175 Seiten, 19,99 Euro.
Der Leser schwitzt mit Kain,
erschrickt vor Abrahams Gehorsam
In José Saramagos letztem Roman ist der biblische Brudermörder ein Opfer Gottes: Wolfgang Mattheuers „Kain“ aus dem Jahr 1965. Foto: AKG
José Saramago (1922-2010). Foto: Alberto Cristofari/A3/laif
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Als "Vermächtnis eines Unversöhnten" würdigt Tobias Heyl den letzten Roman von Jose Saramago, der jetzt posthum auf Deutsch erschienen ist. Der Stoff, den der Literatur-Nobelpreisträger dafür gewählt hat, scheint ihm düster und schwer: die alttestamentliche Geschichte um den Kains Mord an seinem Bruder Abel. Freilich unterscheidet sich die Fassung des Atheisten Saramago, der Kain kreuz und quer durch die Bücher Moses und der Propheten schickt, nach Ansicht Heyls ganz erheblich von der Fassung des Alten Testaments. Auch wenn die Theodizee-Frage eine Rolle spielt, liest er das Buch nicht als atheistisches Manifest, sondern als Roman, der dem archaischen Stoff "viel Leben" einhaucht und packend umsetzt. Überhaupt lobt Heyl die Umsetzung des Stoffs als unangestrengt, ja virtuos. Für ihn ist der Roman fraglos ein würdiger Abschluss von Saramagos Lebenswerk.

© Perlentaucher Medien GmbH
»Portugals bedeutendster Romancier hat seinen Lesern mit seinem letzten Werk ein kraftvolles, provozierendes Vermächtnis hinterlassen.« Buch aktuell, 06.09.2011