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Verena Lueken im Frankfurter Literaturhaus
Sie hat keine Scheu vor handfesten Metaphern. Erfrischend frei von literaturwissenschaftlicher Terminologie erklärt sie, wie aus dem Nukleus der ersten 20 Seiten ihres Romans am Ende 200 wurden: "Da habe ich von allen Seiten etwas reingestopft." Und obwohl das weitere Gespräch über Verena Luekens Debüt "Alles zählt" dann doch an vielen Stellen sehr komplex die Entstehungsgeschichte des Romans nachvollzog, fanden sie und Moderator Paul Ingendaay im Frankfurter Literaturhaus immer wieder zurück zu einem angenehm unakademischen Ton.
So war diese Buchpremiere Lesung und Werkstattgespräch zugleich. Denn Verena Lueken, Redakteurin im Feuilleton dieser Zeitung, und Paul Ingendaay, bis 2013 Kulturkorrespondent dieser Zeitung in Madrid, begegneten sich nicht als Journalisten und Interviewpartner, sondern es entspann sich schnell der Dialog zweier befreundeter Schriftsteller, die die Entdeckung des literarischen Schreibens als tiefen Einschnitt in ihrem Leben als Kulturjournalisten wahrgenommen haben. Ingendaay, dessen Romandebüt "Warum du mich verlassen hast" vor einigen Jahren zum Überraschungsbestseller wurde, wies immer wieder darauf hin, wie das Schreiben die Wahrnehmung verändere. Einig waren sich beide in der Ablehnung der Klischeeformel "sich etwas von der Seele schreiben". Erst durch das Schreiben werde das, was vorher nur schemenhaft in uns ist, fassbare Wirklichkeit. Ingendaay nannte "das Leben schreibend festzuhalten" das "stille Programm" des Romans.
Dabei ist Verena Luekens Roman, aus dem sie, "absolut einmalig nur für diesen Abend", bearbeitete und kondensierte Passagen vorlas, zugleich ein Buch über das Leben wie über das Sterben. Die namenlose weibliche Hauptfigur, die sich in New York zum wiederholten Mal in eine Krebstherapie begeben muss, setzt sich während ihrer Zeit im Krankenhaus intensiv mit ihrer verstorbenen Mutter und deren großer Lebenslust und Kraft auseinander. Stufenlos wechselt der Text dabei zwischen sehr konkreter Beschreibung und Reflexion. Und immer wieder blitzt inmitten der Klinik-Tristesse ein wunderbar lakonisch umgesetztes Gespür für das Komische und das Groteske der Situation auf. Dabei ist "Alles zählt" zugleich Krankheitsbuch wie Familiengeschichte, voller reportagehafter Szenen aus dem Alltag New Yorks und ebenso essayistisches Nachdenken über Künstler und ihre Werke. Ein schmales, aber vielschichtiges Buch, an dem man, so Ingendaay, "mal wieder sieht, dass die Romanform alles kann".
Nicht zuletzt aber ist der Roman eine erzählerische Hommage an James Salter. Es waren Sätze aus seinen Romanen, die am Anfang des Schreibens von Verena Lueken standen. Salters Zugang zur Welt, seine Lust an der sinnlichen Wahrnehmung, die Wärme, die er für seine Figuren, vor allem die weiblichen, empfindet, setzte bei Verena Lueken den eigenen Schreibprozess in Gang: "Das ist eine Haltung, die mich sehr anspricht: Alles vom Leben haben wollen, ohne dass es gierig ist."
MATTHIAS BISCHOFF
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Stopper-Socken
Mit Lou Reed und Lauren Bacall gegen den
Krebs: Verena Luekens Roman „Alles zählt“
VON MEIKE FESSMANN
Es sollte eine Auszeit in New York werden, der einzigen Stadt, in der sie sich je heimisch fühlte. Sie wollte ihrem Leben einen neuen Dreh geben, womöglich auch anders schreiben als bisher. Literarisch vielleicht, weniger journalistisch. Aber klar war das noch nicht. Die Heldin des ersten, autobiografisch gefärbten Romans von Verena Lueken, die lange als Kulturkorrespondentin der FAZ in New York gelebt hat, bezieht im Sommer 2013 ein Penthouse in Harlem. Freunde haben es ihr überlassen. Um diese Jahreszeit ist es ihnen zu heiß in der Stadt.
Kaum hat sie die Gegend erkundet, Jazzclubs, französische Restaurants, Kneipen, die ihre Stühle einfach auf die Straße stellen, bekommt sie hohes Fieber. Die Untersuchung im Krankenhaus ergibt, dass sie nicht nur einen Infekt hat. Auch der Lungenkrebs ist zurückgekehrt. Es ist die dritte Diagnose in fünfzehn Jahren. Zweimal wurde sie schon operiert, relativ kurz hintereinander. Nach einer langen Ruhepause muss sie jetzt zurück in eine Welt, die sie schon kennt und von der sie hoffte, sie müsste sie nie mehr betreten.
Offenbar inspiriert von der nüchternen Präzision der jederzeit aus dem Stand ins Existenzielle abhebenden Prosa des großen amerikanischen Autors James Salter, dessen souveränes Alterswerk „All That Is“ gerade erschienen ist, als ihr Alter Ego in die Stadt kommt, gelingt Verena Lueken etwas Erstaunliches. Ihr Roman erzählt auf eine ruhige, jeden Effekt vermeidende Weise vom Martyrium, das ein Mensch auf sich nehmen muss, wenn er durch die moderne Medizin geheilt werden will.
„Alles zählt“ ist als Triptychon angelegt. Wie der Titel signalisiert, will sich die namenlose Hauptfigur des in der dritten Person erzählten Romans auf keinen Fall mit ihrer Erkrankung identifizieren. Also erzählt er auch von anderen Dingen: von Harlem und steigenden Immobilienpreisen, von alten Filmen und Lauren Bacall, die sie bei einem früheren Aufenthalt einmal heimlich beim Geschirrabtrocknen beobachtete, von den Rolling Stones, Laurie Anderson und Lou Reed. Selbsthilfegruppen sind ihr ebenso ein Gräuel wie psychologische Erklärungen. Sie teilt die Haltung Susan Sontags, Krebs sei keine Metapher für etwas anderes, sondern eine Krankheit, die man überwinden will, ohne ihr weitere Bedeutung zuzuschreiben. Doch das sagt sich so.
Die Chirurgin erinnert sich noch an sie und begrüßt sie wie eine Wiedergängerin aus der Vergangenheit. Absurderweise war sie immer in New York, wenn sich der Krebs bemerkbar machte. Ihrer Liebe zur Stadt tat das keinen Abbruch. Außerdem ist die Krebsklinik berühmt. Hundertachtzehntausend Dollar muss sie auftreiben, bevor sie operiert wird. Dreitausend Dollar kostet allein die erste Konsultation. Es ist die Zeit vor der Verabschiedung von ObamaCare. Doch die bürokratischen und medizinischen Hürden sind Kokolores gegen das, was auf die Operation folgt.
Die erste Woche nach der Operation ist noch vergleichsweise erträglich. Vollgepumpt mit Morphium und mit einer Schüssel für Erbrochenes im Arm, absolviert sie die täglich geforderte Meile auf klinikeigenen Stopper-Socken, deren Noppen den ganzen Fuß umsäumen. Im Pulk der anderen Krebspatienten hat das eine groteske Komik. Noch glaubt sie an das Versprechen der Chirurgin, die Schmerztherapie habe seit ihrer letzten Operation Fortschritte gemacht. Doch nach dem Rückflug von New York nach Frankfurt trifft es sie mit voller Wucht.
Trotz Morphium sind die Schmerzen unerträglich, auch der Geist lässt sich nicht mehr ablenken, er dämmert nur noch vor sich hin. „Die Schmerzen waren tief in ihren Torso hineingekrochen und stachen von innen mit scharfen Klingen in ihre Brust, als wollten sie die Brustwarzen herausschälen (. . .). Gleichzeitig drückte irgendetwas ihren Magen nach oben, in den sie kaum noch etwas hineintat, und von der Seite, an der die Chirurgin ohne Charisma mit Autorität und eisernen Händen ein Stück Rippe abgeschabt hatte, das sie auf ihrem Weg behinderte, durch das verklebte, verstrahlte Gewebe zur Lunge vorzudringen, kreischte ein Schmerz mit vielfachem Echo durch den Bauchraum, der sie taub machte für alles andere.“
Nichts hilft, auch nicht die Lieblingserinnerungen ihrer Kindheit: das Baden im Baggersee, die Ausflüge nach Kärnten, das nächtliche Nachzeichnen der rilligen Strumpfabdrücke auf den Waden, die Nähe zur geliebten Mutter, einer höchst eigenwilligen Frau, die dreimal verheiratet war. Sie hat Angst, die „Wunderkammer ihrer Kindheit“, das letzte Refugium, für immer zu zerstören, wenn das Fluidum ihrer momentanen Situation dort eindringt. Nichts fürchtet sie so sehr, wie die „Bitterkeit“ nicht mehr loszuwerden, von der sie sich an Leib und Seele vergiftet fühlt. Schon im Flugzeug hatte sie die Empfindung, ein Teil von ihr sei abgestorben. Sie hat keine Ahnung, wie sie jemals wieder die Person werden soll, derentwegen sie die Tortur auf sich nahm. Das Morphium beschert ihr Albträume und Wahnvorstellungen. Sie fühlt sich als „Überlebende“, seltsam ort-, zeit- und gefühllos, weder dem Leben noch dem Tod zugehörig.
Dieser Mittelteil ist beides zugleich: Herzstück und Transitzone des Romans, den die Autorin so gebaut hat, dass der Leser im letzten Teil wieder zu Atem kommt. So wie „Alles zählt“ als weiteres New-York-Buch beginnt (zwei hat Verena Lueken früher schon geschrieben, 2002 „New York. Reportage aus einer alten Stadt“ und 2005 „Gebrauchsanweisung für New York“), reist ihre Heldin am Ende, als sie den Schmerz schließlich ebenso überwunden hat wie die Drogensucht, nach Myanmar.
Dort hofft sie, jenen Masseur wiederzufinden, der einige Jahre zuvor erschöpft an ihrem Bein eingeschlafen war, während er sie am Strand massierte. Zum Abschied bedankte er sich mit den Worten: „You are kind.“ Mehr als die Verse von Robert Frost, die Sätze von James Salter, Wallace Stegner, Toni Morrison, Harold Brodkey und J. M. Coetzee waren es diese drei Worte, die sie immer wieder aufgerichtet haben. Diese Frau wollte sie wieder werden – eine Frau, zu der ein fremder Mann sagen kann: „You are kind.“
Verena Lueken: Alles zählt. Roman. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2015. 208 Seiten, 18,99 Euro. E-Book 16,99 Euro.
Die namenlose Hauptfigur des
Romans will sich mit ihrer
Krankheit nicht identifizieren
Die „Wunderkammer
der Kindheit“ muss als letztes
Refugium geschützt werden
Lou Reed, hier in einer Ausstellung mit „Polaroids“ von Julian Schnabel, starb im Oktober 2013. Für die Heldin von Verena Luekens Roman „Alles zählt“ gehört er zu den Konkurrenten ihrer Krankheit.
Foto: Alessandra Schellnegger
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
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