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Napoleons Feldzug in Russland war das vielleicht größte militärische Desaster aller Zeiten und eine menschliche Tragödie von beispiellosen Ausmaßen - das erste historische Beispiel eines totalen Krieges. 1812 ist das meisterhafte Epos über die Hybris eines Eroberers, den Wahnsinn des Krieges und einen der dramatischsten Wendepunkte der Weltgeschichte. Adam Zamoyski hat eine Vielzahl von Augenzeugenberichten in französischer, russischer, deutscher, polnischer und italienischer Sprache, oft erstmals, ausgewertet und eine unerhört lebendige, prägnant urteilende und brillant geschriebene histoire…mehr

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Produktbeschreibung
Napoleons Feldzug in Russland war das vielleicht größte militärische Desaster aller Zeiten und eine menschliche Tragödie von beispiellosen Ausmaßen - das erste historische Beispiel eines totalen Krieges. 1812 ist das meisterhafte Epos über die Hybris eines Eroberers, den Wahnsinn des Krieges und einen der dramatischsten Wendepunkte der Weltgeschichte.
Adam Zamoyski hat eine Vielzahl von Augenzeugenberichten in französischer, russischer, deutscher, polnischer und italienischer Sprache, oft erstmals, ausgewertet und eine unerhört lebendige, prägnant urteilende und brillant geschriebene histoire totale, ein "Krieg und Frieden" der Militärgeschichte, geschrieben. Das Ergebnis ist ein unvergessliches Buch, das Geschichte so hautnah erzählt, wie es nur wenigen Autoren gelingt.

"Mitreißend... Ein brillantes Stück narrativer Historie, voll schillernd komponierter Einzelbeschreibungen, ein rundum faszinierender Bericht über eines der wahrscheinlich größten militärischen Desaster aller Zeiten ... Zamoyskis Darstellung des Feldzugs von 1812 ist ein Musterbeispiel an Eleganz und Klarheit."
T.J. Binyan

"Ein absolut bewundernswertes Buch."
Antony Beevor
Autorenporträt
Adam Zamoyski lebt als freier Autor und Historiker in London. Seine Bücher «1812. Napoleons Feldzug in Russland» und «1815. Napoleons Sturz und der Wiener Kongress» waren international erfolgreich und wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.03.2012

Kälter als der Tod

Eine Million Opfer: zwei neue Bücher erforschen den grausam gescheiterten Feldzug Napoleons nach Russland im Jahr 1812

Der 6. Dezember 1812 war ein guter Tag zum Sterben in der Ebene westlich der weißrussischen Kleinstadt Molodetschno, auf halber Strecke zwischen Smolensk und Wilna, wo sich die Überlebenden der Grande Armée ein sicheres Quartier nach sechs Wochen Strapazen erhofften. Am Abend zuvor hatte sich ihr Anführer in aller Stille von seinen Generälen verabschiedet, um in der kaiserlichen Kutsche nach Paris vorauszufahren. Das Bulletin, das nach Napoleons Ankunft veröffentlicht werden sollte, lag schon bereit; es endete mit den Worten: "Die Gesundheit Seiner Majestät war nie besser."

Davon konnte bei seinen Truppen keine Rede sein. Am Morgen zeigte das Thermometer des Armeearztes Lagneau 37 Grad unter null. Als die Sonne über der Schneewüste aufging, sahen die um ihre Biwakfeuer gekrümmten Soldaten, wie das ganze Land bis zum Horizont rubinrot zu schimmern begann. Die Kälte hatte den Nebel in der Luft zu winzigen Eissplittern gefrieren lassen, die die Gesichter der Menschen und Tiere blutig schnitten, sobald der leiseste Windhauch ging. Der Speichel der Pferde fror an den Mäulern zu langen Eiszapfen, während die Marschierenden ihre vereisten Wimpern mit den Fingern zusammendrücken mussten, um wieder sehen zu können. Viele wurden schneeblind. Andere starben aufrecht an Baumstämmen und Kanonen, wo sie Wache gehalten oder eine Stütze gegen die Müdigkeit gesucht hatten.

Kollaps im Frost

Doch dieser Tod war nicht der schlimmste. Heinrich von Brandt, ein deutscher Hauptmann in der polnischen Weichsellegion des kaiserlichen Heeres, sah, wie Männer im Gehen von der Kälte buchstäblich niedergestreckt wurden. "Sie verlangsamten ihre Schritte, torkelten wie Betrunkene und fielen dann", wobei ihnen Blut aus Mund und Nase, Augen und Ohren lief. Andere gerieten in jenen Zustand des Außersichseins, für den in den Vernichtungslagern des 20. Jahrhunderts der Begriff des "Muselmanns" geprägt wurde - apathisch, empfindungslos, ausgezehrt, mit starren, leeren Augen, hatten sie jedes Gefühl für sich selbst und ihre Umgebung verloren. "In der Menge, in der sie in tiefstem Schweigen wie die Automaten mitliefen, konnte man sie sofort erkennen." Einige liefen geradewegs in die Lagerfeuer oder versuchten sogar, sich zum Schlafen hineinzulegen.

So endete der Russlandfeldzug der Großen Armee, der gut fünf Monate zuvor mit schmetternden Fanfaren und blendender Siegeszuversicht am Grenzfluss Njemen - der deutschen Memel - begonnen hatte. Es war die größte Truppenkonzentration, die die Welt bis dahin gesehen hatte, und die internationalste: Italiener, Spanier, Portugiesen, Polen, Österreicher und Schweizer dienten in ihren Reihen. Dazu kamen die Kontingente der deutschen Verbündeten Napoleons: Preußen, Sachsen, Hannoveraner, Württemberger, Bayern, Hessen, Westfalen und andere mehr. Von den (je nach Zählung) fünf- bis sechshunderttausend Mann, die Ende Juni den Njemen oder weiter südlich den Bug überschritten, stammte nur etwa die Hälfte aus Frankreich selbst. Die wenigsten von ihnen kamen zurück.

Die Hauptarmee, die von Moskau über Smolensk und die Beresina zurückgeflutet war und dabei laufend Verstärkungen aufgesogen hatte, zählte Ende Dezember noch zwanzigtausend Kämpfer. Bei den zur Flankendeckung aufgestellten Hilfskorps, zu denen die Preußen unter dem Kommando Yorcks und die Österreicher unter Schwarzenberg zählten, gab es etwa doppelt so viele Überlebende. Hunderttausend Soldaten fielen in russische Gefangenschaft, aus der ein Fünftel von ihnen zurückkehrte.

Das war alles: ungefähr achtzigtausend Mann und ein paar tausend Zivilisten, die wie der Dichter Stendhal mit ins Zarenreich gezogen waren und wieder rechtzeitig ihre Koffer gepackt hatten. Den Rest - vierhunderttausend Erschossene, Zerstückelte, Erfrorene, am Typhus Erstickte, dazu dreihunderttausend russische Soldaten und ebenso viele Zivilisten, insgesamt eine Million Tote - deckte die russische Erde. Es war "der erstaunlichste Eselstritt, den der Zufall je einem Sterblichen versetzt hat", wie der britische Historiker Adam Zamoyski den österreichischen Feldherrn Schwarzenberg zitiert, und im Grunde ist der analytische Ertrag von Zamoyskis 700Seiten-Buch über den Untergang der Grande Armée mit diesem Zitat auch schon ausgeschöpft.

Heer an Erinnerungen

Was aber durchaus kein Schaden ist. Denn Zamoyski hat nicht vor, das Heer der wissenschaftlichen Studien zum Thema um eine weitere zu vermehren. Ihm geht es darum, das Geschehen, mit allen seinen strategischen Voraussetzungen und politischen Konsequenzen, so genau wie möglich nachzuerzählen - vor allem anhand der Berichte von Zeitgenossen, die es auf beiden Seiten in Hülle und Fülle gibt. Denn so gut wie jeder Offizier und schreibkundige Rekrut, dem nicht zwischen Moskau und Wilna die Finger abfroren (was Hunderten widerfuhr), hat Erinnerungen an die Katastrophe hinterlassen, von russischen und französischen Generälen bis hin zu dem Maurer Jakob Walter, der mit dem 4. württembergischen Infanterieregiment von Ellwangen zum Kreml und wieder zurück marschierte.

In diesen klug ausgewählten und montierten Beschreibungen liegt die Qualität des Buchs, zumal dort, wo Zamoyski die Erfahrungen der kämpfenden Truppen einander gegenüberstellt. So ließ Napoleon vor der Schlacht bei Borodino vor seinem Zelt das Porträt des einjährigen Königs von Rom ausstellen, seines Sohns und Thronfolgers, während die Russen eine Prozession mit der Ikone der Muttergottes von Smolensk durch ihre Reihen schickten. Vier Wochen später erholten sich Kutusows Truppen im Feldlager von Tarutino von ihrer Niederlage, während die Franzosen im ausgebrannten Moskau um die Weine, Juwelen und Seidenstoffe aus den Palästen des Adels stritten, statt sich mit warmer Kleidung einzudecken und ihre Pferde mit rutschfesten Hufeisen zu beschlagen. Mehr als vom Gegner wurde die Grande Armée von ihrer eigenen Überheblichkeit bezwungen - und von den Illusionen Napoleons, der an den Friedenswillen des Zaren und an die Beständigkeit des schönen Wetters glaubte, bis es zu spät war.

Ob der Korse, wie Zamoyski etwas freihändig mutmaßt, an einem Versagen der Hypophyse litt, was sein Übergewicht und seine Lethargie erklären würde, oder ob er bloß vom dauernden Kriegführen genug hatte - jedenfalls war Napoleon in entscheidenden Momenten seines Feldzugs nicht auf dem Posten. Bei Borodino vergab er die Chance, die Armee Kutusows zu zerschlagen, in Moskau verschwand er wochenlang in der Versenkung, und auf dem Rückzug ließ er bei Krasny die Nachhut seines treuesten Gefolgsmanns Ney schmählich im Stich.

Dennoch gelang es den russischen Truppen nie, die Franzosen im offenen Gefecht zu besiegen. Beim Übergang über die Beresina, der bis heute als Inbild der französischen Niederlage gilt, zogen in Wahrheit die Russen den Kürzeren, weil sie die Chance verpassten, Napoleon und seine Marschälle gefangen zu nehmen. Für die Soldaten und Zivilisten, die auf den Pontonbrücken bei Studenka zertrampelt wurden oder im eisigen Fluss ertranken, war das kein Trost; aber es erklärt immerhin, warum Frankreich 1813 und 1814 jeweils seine letzten Reserven gegen die vereinigten Russen, Preußen und Österreicher mobilisierte, statt auf einen Verhandlungsfrieden zu hoffen.

Bis zu den Vernichtungsschlachten des 1. und 2. Weltkriegs, bis zu Stalingrad und der Somme war die Niederlage der Grande Armée der Inbegriff des militärischen Debakels - und ein Lehrstück darüber, "wie Hybris am Ende von ihrer Nemesis eingeholt wird" (Zamoyski). Aber niemand wäre auf die Idee gekommen, das Ergebnis des Feldzugs der russischen Kriegskunst gutzuschreiben. Außer Leo Tolstoi: In "Krieg und Frieden" verwendet er einen beträchtlichen Teil seiner epischen Energie darauf, den Sieg über Napoleon auf die besonderen Eigenschaften des russischen Volkes und seines Feldherrn Kutusow zurückzuführen: seine Tapferkeit, sein Gottvertrauen, seine Fähigkeit, abzuwarten und den Winter die Arbeit des Tötens verrichten zu lassen. Bei Tolstoi ist Kutusow nicht der faule, verlotterte Weiberheld, als den ihn seine Untergebenen stets dargestellt haben, sondern der Russe schlechthin.

Langer, bitterer Sieg

Das alles, sagt jetzt Dominic Lieven, Professor für russische Geschichte in London, ist reine Erfindung. Ja, mehr noch: Es ist heillos verkürzt! Denn der "lange, bittere, aber am Ende siegreiche Weg von Wilna im Dezember 1812 bis nach Paris im März 1814" spiele bei Tolstoi keine Rolle. Um diesen Gedanken näher auszuführen, hat sich Lieven in das zaristische Militärwesen des frühen 19. Jahrhunderts vertieft, die Schlachtfelder von Borodino, Großgörschen, Bautzen, Kulm und Leipzig persönlich abgelaufen und ein weiteres 700-Seiten-Buch geschrieben, das von Details zu Gefechtsverläufen und Charakterbildern russischer Granden strotzt (wobei ihm dennoch die von Zamoyski gelieferte Pointe entgeht, dass Rostoptschin, der fanatisch antifranzösische Gouverneur von Moskau, in seiner Toilette eine Bronzebüste von Napoleon stehen hatte, die "niedrigsten Funktionen" diente, sprich: als Klobürste in Gebrauch war).

Alexander I., der russische Zar, so Lievens These, hat Napoleon nicht zufällig besiegt, er hatte einen großen Plan. Das klingt zunächst plausibel oder wenigstens interessant, aber je mehr das Buch voranschreitet, desto deutlicher merkt man, dass sein Autor einer Einbildung aufgesessen ist. Denn Alexander wollte, wie jeder absolutistische Herrscher, vor allem seinen Thron retten, und als sich ihm nach 1812 die Gelegenheit bot, im Verein mit den Herrschern Preußens und Österreichs die Spuren der Französischen Revolution in Europa zu tilgen, hat er sie ergriffen. Weil aber die These nicht greift, hängen auch Lievens Kriegsschilderungen in der Luft; ihre besseren Passagen kann man als Fortsetzung zu Zamoyskis Erzählung lesen, ihre schlechteren muss man überspringen.

Was also lernen wir aus dem Martyrium der Großen Armee, was feiern wir im Herbst 2012? Vielleicht nur die ewige Wahrheit des Satzes, den Napoleon nach seiner Rückkehr aus Russland gebetsmühlenartig wiederholte und als dessen Schöpfer er in die Sprüchesammlungen einging: "Vom Erhabenen zum Lächerlichen ist es nur ein Schritt." Dafür mussten Hunderttausende sterben. Die Geschichte besitzt einen Humor, an dem man erfrieren kann.

ANDREAS KILB

Adam Zamoyski: "1812. Napoleons Feldzug in Russland". Aus dem Englischen von Ruth Keen, Verlag C. H. Beck, 720 Seiten, 29,95 Euro. Dominic Lieven: "Russland gegen Napoleon. Die Schlacht um Europa". Aus dem Englischen von Helmut Ettinger, Bertelsmann-Verlag, 763 Seiten, 34 Euro

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.03.2012

In der Polarnacht der Bestialität
Napoleons kurzer Russlandfeldzug des Jahres 1812 wurde eine der größten Katastrophen des 19. Jahrhunderts. Er forderte mindestens eine Million
Menschenleben. Aus Hunderten Augenzeugenberichten setzt Adam Zamoyski seine Geschichte dieses Krieges zusammen  Von Gustav Seibt
Napoleons Russlandfeldzug von 1812 dauerte ein halbes Jahr. Am 22. Juni überschritt die Grande Armée den Njemen, am 14. September erreichte sie Moskau, das sie am 20. Oktober wieder verließ. Am 27. November war sie an der Beresina, am 9. Dezember in Wilna. Da befand Napoleon sich bereits auf der berühmten Schlittenfahrt, die ihn bis zum 18. Dezember zurück nach Paris beförderte. Der kurze Krieg forderte, beide Seiten, die russische und die napoleonische, zusammengerechnet mindestens eine Million Menschenleben, meist Armeeangehörige. Allein in der Schlacht von Borodino kurz vor Moskau fielen 80 000 Männer, in der dreitägigen Kältekatastrophe an der Beresina starben noch einmal 40 000 Menschen. Das sind Zahlen, die in so kurzer Zeit auf so engem Raum erst hundert Jahre später wieder erreicht wurden, an der Somme in Frankreich 1916.
Das ist der Stoff der großen Darstellung von Adam Zamoyski, die in englischer Sprache 2004 erschien und jetzt auf Deutsch vorliegt, gut übersetzt von Ruth Keen und Erhard Stölting; sie haben sich die Mühe gemacht, die vielen schon seit langem auch auf Deutsch vorliegenden Quellen, die Zamoyski zitiert, in den originalen Versionen aufzusuchen. Der Leser erfährt die aus Hunderten Augenzeugenberichten zusammengesetzte Geschichte oft im Zungenschlag der Zeitgenossen. Wie den Briten Dominic Lieven, dem wir eine neue diplomatisch-militärische Geschichte von Russlands Kampf gegen Napoleon zwischen 1807 und 1814 verdanken ( SZ vom 20. 2. 2012 ), verbinden Zamoyski familiäre Wurzeln mit dem Boden seiner Geschichte: Lieven stammt aus baltischem Adel, Zamoyski aus einer polnischen Aristokratenfamilie, die 1939 vor Deutschen und Sowjets nach England fliehen konnte. Dass Europa wieder zusammengewachsen ist, erfährt man in solchen Konstellationen: Die Geschichtserinnerung hat sich zurückgedehnt in die „Bloodlands“ seines Ostens. Das verändert auch den Blick auf jenen „Westen“ und seine „Moderne“, die als „normatives Projekt“ nach dem Kalten Krieg zu einer neuen historiographischen Leitidee aufstieg. Nach den gewaltsamen Reformen Zar Peters des Großen und seiner Nachfolgerin, der Deutschen Katharina, war Napoleons Einmarsch der dritte Kontakt Russlands mit der westlichen Moderne.
Zamoyskis Thema ist der erlebte Krieg, sein Alltag, seine Sozialgeschichte, die geographischen, klimatischen, technischen, logistischen, hygienischen, medizinischen, humanitären Bedingungen, unter denen er stattfand. Diplomatie und Strategie kommen zu ihrem Recht, bilden aber nur den Rahmen. Der äußere Ablauf der Operationen und wenigen Schlachten wird übersichtlich und mit hilfreichen Karten geschildert. In der kurzen Sicht sieht es so aus, als habe das Russland von Zar Alexander I. den Krieg provoziert: Es sammelte drohend Truppen an den rheinbündischen Rändern des Herzogtums Warschau und verlangte von Napoleon den Rückzug seiner Kräfte bis hinter die Oder. Napoleon entschloss sich zum Einmarsch, um Russland endgültig in den Festlandsblock gegen England hineinzuzwingen, dem Russland seit dem Frieden von Tilsit 1807 nur halbherzig angehörte.
Die eigentliche, langfristige Ursache ist die Eskalationsdynamik von Napoleons Eroberungspolitik: Sie kannte am Ende nur Sieg oder Niederlage im Kampf mit England, jedes Zurückweichen an den Rändern hätte über kurz oder lang den Machtblock im Inneren aufbröckeln lassen. Auch für Russland ging es ums Überleben: Ein Dasein als Satellit Frankreichs in der Kontinentalsperre hätte seine wirtschaftliche Existenz zerstört. Der kurze Sommer des augusteischen Friedens, als Napoleon die Habsburgerin Marie-Louise geheiratet hatte und Goethe seine Karlsbader Ode an den Kaiser öffentlich machte, war trügerisch.
Mit der Begabung des großen Epikers beginnt Zamoyski seine Geschichte in diesem strahlenden Moment. Und damit setzt er ein Motiv, das er bis zum Schluss durchhält: François Gérards Bild des Königs von Rom, des Sohnes von Napoleon und Marie-Louise, erreicht den Kaiser unmittelbar vor der Schlacht von Borodino, wo es in einem Zelt aufgestellt wird; in der Nacht des 18. Dezember sehen wir den Weltkaiser das Gemach seiner Frau in den Tuilerien wieder betreten.
Die Geschichte dazwischen aber passt nicht mehr in den goldenen Empire-Rahmen. Sie zeigt die Überbietungsdramaturgie eines modernen Katastrophenfilms: Über Hunderte von Seiten wird jede Schrecklichkeit immer noch einmal überboten und wir erleben eine Menschheit, die ihrer zivilisatorischen Hüllen Schicht für Schicht entkleidet wird, bis zu dem Punkt, wo nicht nur erfrierende Gliedmaßen und Fußsohlen von den kältetauben, weitermarschierenden Menschenwesen abfallen, sondern wo sie auch anfangen, sich gegenseitig zu verspeisen. Die Unheimlichkeit dieses kollektiven Riesenvorgangs besteht darin, dass er keinem Plan folgte, sondern sich aus zusammenschließenden Umständen unaufhaltsam zu entwickeln scheint.
Warum brach Napoleon so spät auf? Er brauchte genügend Heu für seine Pferde, musste also auf den Sommer warten. So blieben ihm nur wenige Monate für den Sieg. War das konstante Zurückweichen der Russen eine überlegene Strategie? Das ist nicht eindeutig: Der erste Oberbefehlshaber, Barclay de Tolly, war dafür, andere am Hof und in den Stäben hetzten deshalb gegen ihn; sein Nachfolger Kutusow lieferte dann vor Moskau doch die ersehnte Schlacht, aber wohl eher pro forma, damit die alte Hauptstadt nicht kampflos aufgegeben wurde. Moskau zu räumen, galt vielen als undenkbar; es geschah trotzdem. Unheimlich der Moment, in dem Napoleon in den leeren Straßen erschien, ohne dass ihn wie sonst überall ein Stadtregiment mit dem Schlüssel empfangen hätte. Schon flackerten die ersten Brände, aber keine Feuerwehr war mehr da.
Dem dreitägigen Feuersturm folgt wochenlanges trügerisches Schwelgen: Zwar sind kaum Vorräte in der Riesenstadt, aber die von einem abwechselnd glühend heißen und sintflutartig nassen Anmarsch ausgelaugten Truppen können sich mit Alkohol und Delikatessen erholen, Gold, Kunstschätze, teure Kleider, Pelze zusammenrauben, bevor ein strahlend schöner, recht kalter Oktober einfällt. Könnte man bleiben? Nein, die Pferde würden sich nicht über den Winter bringen lassen, und dann säßen die immer noch vielen Zehntausende mit ihren Kanonen, Feldschmieden, Feldküchen, Feldlazaretten, Proviantwagen und Marketenderfuhren in der Falle. Ans Beschlagen der Pferdehufe mit Spornen fürs bevorstehende Eis denkt niemand. Winterausrüstung kennt diese Epoche in Mitteleuropa gar nicht. Kosaken dagegen leben im Winter wie Fische im Wasser.
Der Winter 1812 fällt zunächst nicht besonders streng aus; doch irgendwann erreicht er unvermeidlich die hier üblichen Minusgrade zwischen 30 und 40. Auf den letzten Schritten wanken die übriggebliebenen, entsetzlich stinkenden, oft mit grotesken Lumpen aus gestohlenen Frauenkleidern behängten Jammergestalten über von der Morgensonne surreal rot gefärbte Schneeweiten, gegen einen mit winzigen Eispartikeln in die Gesichter schneidenden Wind: Es ist der Moment, in dem die Augen vieler Menschen der Belastung nicht mehr standhalten, erfrieren, ihr Weißes dunkel wird und aufplatzt. Da sind von Napoleons großer Armee vielleicht noch 20 000 Männer übrig.
Fortschreitend mit der Entfaltung der Katastrophe schreibt Zamoyski seine Geschichte aus der Sicht des Fußvolks, zu dem irgendwann alle werden, auch die Marschälle mit ihren Königs- und Herzogstiteln. Die Ernährung, die hygienischen und medizinischen Umstände sind ekelerregend. Bald müssen noch lebende Pferde ausgeweidet werden, die toten nämlich würden sofort steinhart frieren. Soldaten, denen die Finger abgegefroren sind, die also ihre Hosen nicht mehr knöpfen können, lassen sich für ihre Notdurft Löcher in die Beinkleider schneiden. Wenn niemand sie füttert, schlagen sie Zähne in Pferdevenen, um Blut zu trinken. Nasen und Ohren fallen ab, wenn man sie nicht rechtzeitig zu schützen verstand. Man hört von schreienden Säuglingen – es gibt Geburten mitziehender Frauen –, die die Ruhebedürftigen, wenn sie einmal eine warme Hütte erreichen, so stören, dass jemand sie ertränkt.
Zamoyskis Thema ist die Humanität im Krieg, nicht die von „Regeln“, die hier längst keine Gültigkeit mehr haben, sondern der ungezählten Einzelnen und der kleinen Verbände. Und da findet sich in der Polarnacht der Bestialität immer wieder auch der rührendste Edelmut, Hilfe, Wärme, Solidarität. Die Katastrophe legt den Kern der Menschen frei, sagt Zamoyski, und dabei zeigt sich, wie sie beschaffen sind: Die einen betrügen, töten oder essen sich gegenseitig auf. Andere jedoch „bewahrten ihre menschliche Würde und ihr Pflichtgefühl oder erhofften sogar ihr Glück. Während in der Nacht des 30. November in Pleschtschenize Tausende erfroren und einige zu Kannibalen wurden, sang ein Ordonnanzoffizier Napoleons in den Ruinen eines Gutshauses seinen vor Kälte zitternden Kameraden mit seiner schönen Stimme Lieder vor.“
Die Schwelle zwischen diesen Möglichkeiten war, so Zamoyski, „eine Eigenschaft der jeweiligen Persönlichkeit“. Und das ist der Grund, warum sein Epos zwar ein paar Hauptpersonen kennt, aber vor allem von den Namen ungezählter Unbekannter beherrscht ist, deren Augenzeugenberichte, Briefe, Erinnerungen er in bisher unerreichter Fülle ausgewertet hat. Der Bericht von einer Million Toten und ein paar tausend Überlebender vermittelt keine Thesen, aber unzählige Erfahrungen. Es ist alles ganz nah.
Napoleons Eroberungspolitik
kannte nur Sieg oder
Niederlage. Er musste vorwärts
Die Katastrophe legt den Kern
der Menschen frei, dabei zeigt
sich, wie sie beschaffen sind
Adam Zamoyski
1812
Napoleons Feldzug in Russland. Aus dem Englischen von Ruth Keen und Erhard Stölting. Verlag C. H. Beck, München 2012. 720 Seiten, 29,95 Euro.
Die Reste der Grande Armée auf dem Rückzug: wankende, verlorene oft mit grotesken Lumpen behängte Jammergestalten. Abb.: bpk / Kunstbibliothek, SMB
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

"Meisterstück der Geschichtsschreibung", verkündet Rezensent Cord Aschenbrenner und stimmt damit in die Hymne der bisherigen Rezensenten ein. Wie Adam Zamoyski hier die Machtpolitik Frankreichs und Russlands aus Sicht beider Länder beschreibt, wie er zugleich den Krieg aus der Perspektive von oben (Generäle) und unten (einfache Soldaten) beschreibt, das ringt dem Rezensenten höchste Bewunderung ab. Er mochte das Buch nicht mehr aus der Hand legen, was nicht zuletzt auch am "sprachlichen Können" des polnisch-amerikanischen Historikers und seiner Übersetzer lag.

© Perlentaucher Medien GmbH
"Längst ist der Londoner Historiker zum Meistererzähler für die Epoche avanciert. (...) der erste Band ist mit seinen Nahaufnahmenwohl der berührendste."
Spiegel

"Seit langer Zeit hat sich keine so glänzende historische Darstellung mehr auf eine deutsche Bestsellerliste verirrt."
Denis Scheck, Der Tagesspiegel, 3. Juni 2012

"Zamoyski verwebt die Unzahl persönlicher Tragödien und die fast unerträgliche Leidensgeschichte einer Armee zur meisterhaften Gesamtdarstellung."
hb, Wiener Zeitung, 22. Mai 2012

"Was von nationalen Geschichtsschreibungen lange mystifiziert und verbogen wurde, rückt Adam Zamoyski gerade. '1812' ist ein großes Werk, unbestechlich im Urteil und unübertrefflich in der Darbietung."
Günter Müchler, Deutschlandfunk, 20. Februar 2012

"Vor allem (...) erzählt er mit einer literarischen Intensität vom Schicksal der einfachen Soldaten, die einem beim Lesen schier das Herz zerreißt."
Pallasch, September 2012

"Es dürfte auf lange Sicht das Standardwerk zum Krieg von 1812 bleiben."
Klaus-Jürgen Bremm, literaturkritik.de, August 2012