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Ausgehend von einem Renaissancegemälde untersucht László F. Földényi in diesem meisterhaften Essay unheimliche Arten des "lebendigen Todes", die er der schönen Literatur, den bildenden Künsten und der Architektur entnimmt. Er schlägt dabei einen überraschenden Bogen von der Utopie zur Dystopie, vom Aufbruch der Revolutionsarchitektur über den Campanile von Riva bis zum Schornstein des Krematoriums von Auschwitz. Földényi nimmt so den Dialog mit Franz Kafka, Georges Bataille und Jean Baudrillard auf, und führt dem Leser das Allgemeinmenschliche in seiner ganzen unausweichlichen Abgründigkeit vor Augen.…mehr

Produktbeschreibung
Ausgehend von einem Renaissancegemälde untersucht László F. Földényi in diesem meisterhaften Essay unheimliche Arten des "lebendigen Todes", die er der schönen Literatur, den bildenden Künsten und der Architektur entnimmt. Er schlägt dabei einen überraschenden Bogen von der Utopie zur Dystopie, vom Aufbruch der Revolutionsarchitektur über den Campanile von Riva bis zum Schornstein des Krematoriums von Auschwitz. Földényi nimmt so den Dialog mit Franz Kafka, Georges Bataille und Jean Baudrillard auf, und führt dem Leser das Allgemeinmenschliche in seiner ganzen unausweichlichen Abgründigkeit vor Augen.
Autorenporträt
László F. Földényi, 1952 in Debrecen (Ungarn) geboren, ist Kunsttheoretiker, Literaturwissenschaftler und Essayist. Er zählt zu den bedeutendsten ungarischen Intellektuellen und leitet als Professor den Lehrstuhl für Kunsttheorie an der Akademie für Theater und Film, Budapest. Er ist Herausgeber der gesammelten Werke von Heinrich von Kleist in ungarischer Sprache und u.a. Friedrich-Gundolf-Preisträger. Seit 2009 ist er Mitglied der der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Für sein Werk Lob der Melancholie. Rätselhafte Botschaften wird er mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung 2020 ausgezeichnet.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.08.2017

Der Gottesblick und seine Bauten
Die Idealstädte der italienischen Renaissance, Albert Speers „Große Halle“ und der Jäger Gracchus:
László F. Földényi schreibt einen abgründigen Essay über utopische Bauten
VON THOMAS STEINFELD
Bilder von idealen Städten gibt es seit dem Ende des 15. Jahrhunderts. In Urbino, im Palazzo Ducale, gibt es eine solche Vedute zu sehen, die manchmal Piero della Francesca zugeschrieben wurde, in Baltimore hängt eine Variante, die wahrscheinlich von Fra Carnevale stammt, in der Berliner Gemäldegalerie wird eine ideale Stadt der italienischen Renaissance von Francesco di Giorgio Martini gezeigt. Allen diesen Bildern ist gemeinsam, dass sie den Blick des Betrachters durch eine symmetrische Anlage von Gebäuden und Plätzen zu einem Punkt führen, der hinter dem Sichtbaren zu liegen scheint, während alle Dinge, die auf einem solchen Gemälde zu sehen sind, auf diesen „Fluchtpunkt“ bezogen sind. Eine „Zentralperspektive“ nennt man diese Art der Darstellung. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass sie keine freien Elemente kennt. In der Zentralperspektive, einer Errungenschaft der frühen Neuzeit, verbirgt sich die Vision einer Gesellschaft, in der jeder Einzelne auf jeden anderen Einzelnen verweist und alle Einzelnen ein Kollektiv bilden, das alles Einzelne weit übersteigt.
Warum aber gibt es kein Leben auf den Bildern der idealen Stadt, fragt der ungarische Kunsthistoriker László Földényi in einem Essay, in dem er die Geschichte der utopischen Architektur von der italienischen Renaissance bis ins 20. Jahrhundert verfolgt. Warum diese vielen Entwürfe einer Architektur, die von deren Nutzern, den Menschen, offenbar nichts wissen will? Göttlich sei der Blick, der auf diesen Szenen ruhe, erklärt László Földényi, und das bedeutet: ausschließlich auf den Plan bezogen, sodass Ordnung und Kontrolle immer zusammenfallen. Deswegen sehen ideale Städte so aus, als wäre das Leben in ihnen immer schon zum Erliegen gekommen, und deswegen unterhält das Utopische eine so innige Beziehung zum Toten. Über eine Reihe von Beispielen verfolgt László Földényi die Geschichte dieser Bindung des Idealen an das Leblose, und am Ende sind es so viele Utopien, gemalte, entworfene und tatsächlich gebaute, dass der Leser einen Augenblick innehält und sich fragt, warum die Architekten und ihre Auftraggeber nicht irre wurden an ihren Projekten, da das Tödliche und Todbringende an ihnen doch so offensichtlich ist: Der Wille zur Herrschaft muss immer wieder stärker gewesen sein als das Zurückweichen vor der Stille eines Friedhofs.
Der Wille zur Bemächtigung denkt symmetrisch, er verlangt nach einfachen geometrischen Formen und nach Blickachsen, die eine Welt durchdringen. So ist das Gefängnis entworfen, das Ferdinand IV., König von Neapel, im Jahr 1795 auf der Insel Santo Stefano vor Gaeta errichten ließ, so ist die Saline des Architekten Claude-Nicolas Ledoux im französischen Département Doubs projektiert, aus der etwa zur selben Zeit eine Fabrikstadt namens Chaux hätte entstehen sollen. Vom selben Idealismus zeugen schließlich die zahllosen Satelliten- und Trabantenstädte, die in großen Teilen nicht nur der westlichen Welt im Zuge einer erweiterten Industrialisierung im 20. Jahrhundert gebaut wurden. Aber ist es nicht zugleich so, dass der Wille zur Ordnung von vornherein einherging mit dem Verlangen nach Humanität? Und dass die Herausbildung der modernen Gesellschaft (der Gesellschaft, in der es keine freien Elemente mehr gibt) zusammenfällt mit der Emanzipation des Individuellen?
Dass den Bildern des idealen Gemeinwesens stets das Lebendige fehlt, dass sie die Grenze zwischen Zeit und Zeitlosigkeit festhalten und Dokumente absoluter Verlassenheit sind – diese Beobachtung bildet für László Földényi die Brücke zu einer Melancholie, wie er sie prototypisch in den Bildern Giorgio de Chiricos oder etwa in Franz Kafkas Erzählung vom „Jäger Gracchus“ (1917) festgehalten findet. Doch zwischen dem politischen Tatendrang, der sich in den Idealstädten der Renaissance und, wahrlich überwältigend, im Totalitarismus von Albert Speers „Großer Halle“, ausdrückte, und der Melancholie in der Kunst des 20. Jahrhunderts ist darüber hinaus nur unter Schwierigkeiten zu vermitteln: Verdankt sich die Menschenleere auf den Städtebildern Giorgio de Chiricos tatsächlich dem Willen zu einer göttlichen Ordnung? Oder waltet darin nicht vielmehr die Unheimlichkeit einer Art existenzieller Mittagsstunde, in der man sich plötzlich in bodenloser Einsamkeit wiederfindet? Herrschsucht und Melancholie finden, wenn man beide Motive nur nebeneinanderstellt, eher schlecht zusammen.
Es wäre denn, man dächte über die Utopien der Architektur nicht als Projekte nach, die hätten realisiert werden sollen, also im Hinblick auf eine noch zu gestaltende Zukunft, sondern als Unternehmungen einer vergangenen Reflexion auf die Zukunft, zu der notwendig ein gewisses Maß an Unwirklichkeit gehört (so brutal sie in der Wirklichkeit benutzt worden sein mögen). „Denn es gehört zur Realität der Geschichte, dass sie stets den Eindruck erweckt, nicht mehr real zu sein.“ So betrachtet, tritt dann tatsächlich der Melancholiker in die Geschichte der Orte des lebendigen Todes. Er ist es, dem sich der vergangene Bemächtigungswille offenbart, in seiner Ruchlosigkeit wie in seiner Abwegigkeit, als gäbe es ihn auch deswegen, weil der Kahn eines Jägers Gracchus von seiner Route abkam und den Bestimmungsort verfehlte. Für diese Spannung zwischen Wirklichem und Unwirklichem, zwischen totalitärer und rettender Fantasie eine Form gefunden zu haben – darin besteht die große Leistung dieses Essays.
László F. Földény: Orte des lebendigen Todes. Kafka, de Chirico und die anderen. Aus dem Ungarischen von Akos Doma. Matthes & Seitz, Berlin 2017. 90 Seiten, 10 Euro.
Hier ist eine Form gefunden für
die Spannung zwischen
Wirklichem und Unwirklichem
Aus dem Generalplan für ein humanes Leben: Entwurf eines Gärtnerhauses nach Claude-Nicolas Ledoux (1785).Foto: akg-images/Manuel Cohen
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