In der Höhle des Minotaurus
Romeo und Julia würden noch leben, hätte es zu Shakespeares Zeiten bereits Mobiltelefone gegeben. Schnelle Informationsübermittlung kann Leben retten, das wissen wir seither. Aber um wie viele ergreifende Theateraufführungen wären wir gebracht worden! Dasselbe Prinzip
nutzt Barbara Vine. “Wie anders heutzutage alles wäre”, schreibt sie. Aber in “Aus der Welt” sind…mehrIn der Höhle des Minotaurus
Romeo und Julia würden noch leben, hätte es zu Shakespeares Zeiten bereits Mobiltelefone gegeben. Schnelle Informationsübermittlung kann Leben retten, das wissen wir seither. Aber um wie viele ergreifende Theateraufführungen wären wir gebracht worden! Dasselbe Prinzip nutzt Barbara Vine. “Wie anders heutzutage alles wäre”, schreibt sie. Aber in “Aus der Welt” sind wir eben nicht heutzutage.
Großbritannien Ende der 1960er Jahre. Im verschlafenen Dörfchen Windrose im ländlichen Essex tritt Kerstin Kvist, eine junge Schwedin, die Stelle als Krankenpflegerin auf Lydgate Old Hall an. John, der Sohn der Familie Cosway, leidet an einer Persönlichkeitsstörung die permanenter Betreuung bedarf. Er gilt als schizophren und gewalttätig. Schon bald merkt die junge Frau das John in seiner eigenen Welt lebt, ruhiggestellt durch Medikamente, deren Einnahme seine Mutter streng überwacht. Sie verabscheut ihren Sohn. Umso mehr, da dieser der Alleinerbe des Familienvermögens ist. Die Mutter erhält eine dürftige Leibrente. Die Schwestern Ida, Ella und Winiefred sind praktisch mittellos. Sie leben im Haus ihres Bruders von der Gnade ihrer Mutter und den gelegentlichen Zuwendungen der jüngsten Schwester Zorah, einer reichen Witwe. Unterdrückte Gefühle, Neid, Missgunst und Rachsucht sind der Nährboden für eine familiäre Tragödie.
Auf dem Landsitz der Familie Cosway gelten noch die alten Werte aus Jane Austens Zeiten. Emanzipation ist ein Fremdwort. In den Hafen der Ehe zu steuern gilt als das oberste Ziel. In den degenerierten Mikrokosmos der traditionsverhafteten alten Familie schickt sie die aufgeklärte, selbstbewusste Schwedin Kerstin. Ohne zu ahnen auf was sie sich einlässt, hat sie für ein Jahr die Stelle als Pflegerin des Sohnes angenommen. Als Ich-Erzählerin berichtet Sie dem Leser über die Geschehnisse.
Barbara Vine erzeugt die Spannung in ihrem Buch mit subtilen Mitteln. Immer wieder streut sie kryptische Bemerkungen in den Erzählfluss, die nahendes Unheil künden. Jedes Familienmitglied wird zu diesem Zweck genau analysiert. Ida, die älteste Tochter, ein heruntergekommenes Aschenputtel, das von der Familie als Arbeitstier ausgenutzt wird. Warum durfte sie seinerzeit ihren Verlobten nicht heiraten? Winifred, die zweite Tochter steht kurz vor der Heirat mit dem örtlichen Geistlichen. Allerdings will dieser auf keinen Fall, dass sie nach der Hochzeit ihren Beruf als selbständige Köchin weiter ausübt. Auch zeigt er überraschend wenig Interesse an seiner Braut. Die dritte Tochter Ella verabscheut ihren Beruf als Lehrerin. Die Tatsache sich ihren Lebensunterhalt selbst verdienen zu müssen und als alte Jungfer zu enden empfindet sie als demütigend. Zorah, die jüngste Tochter, streut regelmäßig Salz in offene Wunden. Ihr Reichtum ermöglicht ihr ein freies und luxuriöses Leben. Dennoch scheint sie die Mutter und die Schwestern zu hassen. Nur den Bruder behandelt sie liebevoll.
Fein spinnt Barbara Vine das Netz, indem sich ihre Figuren unweigerlich verfangen müssen. Sie zieht das Netz langsam und unwiderstehlich zusammen. Die skurrilen Abläufe im Haushalt der Cosways wirken zunächst nur schrullig. Stellen sich aber zunehmend als bedrohlich und unheimlich heraus. Im gleichen Maße wie Kerstin schaudert es auch den Leser. Dunkle Geheimnisse scheinen in den verlassenen Gängen des alten Hauses zu lauern. Neugierig macht Kerstin sich auf den Weg diese zu entschlüsseln. Ihr zu folgen lohnt sich!