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Paul Nizon, der Sprachmagier, hat Zeit seines Schreib-Lebens Journale geführt. In ihnen erzählt er – in einer atemberaubenden Intensität und Unmittelbarkeit – vom Handwerk des Schreibens, von der Verzauberung durch die Liebe, von seiner Sehnsucht nach Neugeburt durch die Metropolen und nicht zuletzt von den Lektionen, die das Schreiben und die Frauen ihm erteilt haben. In dieser »grandios-rigorosen Tagebücherei«, die »frei, wild, zart« ist, begegnen wir einem radikalen Individualisten, dessen Anspruch an die Literatur mindestens so groß ist wie seine Lebensgier. In »Die Belagerung der Welt«…mehr

Produktbeschreibung
Paul Nizon, der Sprachmagier, hat Zeit seines Schreib-Lebens Journale geführt. In ihnen erzählt er – in einer atemberaubenden Intensität und Unmittelbarkeit – vom Handwerk des Schreibens, von der Verzauberung durch die Liebe, von seiner Sehnsucht nach Neugeburt durch die Metropolen und nicht zuletzt von den Lektionen, die das Schreiben und die Frauen ihm erteilt haben. In dieser »grandios-rigorosen Tagebücherei«, die »frei, wild, zart« ist, begegnen wir einem radikalen Individualisten, dessen Anspruch an die Literatur mindestens so groß ist wie seine Lebensgier. In »Die Belagerung der Welt« versammelt der Herausgeber Martin Simons eine Auswahl aus Paul Nizons fünf publizierten Journalbänden. Diese Notate aus einem halben Jahrhundert verdichten sich hier zu der Autobiographie eines solitären Künstlers – und schenken dem Leser vor Verwunderung leuchtende Augen.

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Autorenporträt
Paul Nizon, geboren 1929 in Bern, lebt in Paris. Der »Verzauberer, der zur Zeit größte Magier der deutschen Sprache« (Le Monde) erhielt für sein Werk, das in mehreren Sprachen übersetzt ist, zahlreiche Ehrungen und Auszeichnungen, u. a. 2010 den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur.

Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.12.2013

Zeig mir den Pulsschlag vom Leben

Frédéric Beigbeder möchte ihm sogar den Nobelpreis geben: In Paul Nizons Notizen aus vier Jahrzehnten wird ein Autor offenbar, der sich transparent machen und die auf ihn einströmende Welt in sich aufnehmen kann.

Dem eigentlich geistigen Menschen, der aus der Radikalität seiner Einsichten die Konsequenz ziehen wolle, so hat es einmal geheißen, bleibe nur der Weg ins Kloster oder ins Irrenhaus, das Kloster der Moderne. Robert Walser, dem von Paul Nizon bewunderten Schweizer Landsmann und Schriftstellerkollegen, den er schon früh gern zum Vorbild seines eigenen Schreibens genommen hätte und von dem er dann auch einiges gelernt hat, war dieser traurige Weg beschieden; er starb nahezu vergessen von seinen Zeitgenossen in der Heilanstalt Herisau. Von Paul Nizon ist gerade eine Auswahl aus seinen tagebuchartigen Aufzeichnungen erschienen, die im Lauf von vier Jahrzehnten entstanden sind. Diese Texte zeigen den faszinierenden Kampf eines Autors, der hat standhalten wollen, der in Verzicht und Entsagung keine Möglichkeit sah, der tief in die Fülle des Lebens tauchen, dessen Pulsschlag spüren wollte und dabei gleichwohl von der Idee eines zu schaffenden, bleibenden literarischen Werks besessen war und stets aufs Neue vollendete, gemeißelte Sätze suchte.

Paul Nizon, 1929 als Sohn eines russischen Emigranten und einer Mutter aus Bern geboren, gilt in Deutschland vielfach noch immer als Geheimtipp. Er hat seine Gemeinde, aber eine breitere Leserschaft bislang nicht gefunden. Der für seine literarische Spürnase bekannte Siegfried Unseld wurde seinerzeit auf ihn aufmerksam und veröffentlichte seit den sechziger Jahren Bücher von ihm wie "Canto", "Das Jahr der Liebe", "Stolz" oder "Im Bauch des Wals"; dadurch konnte Nizon sich für eine Weile in die erste Liga der deutschsprachigen Autoren aufgenommen fühlen. Er bekam in jenen Jahren Kontakt zu Ingeborg Bachmann, Max Frisch, Friedrich Dürrenmatt, Peter Handke, Martin Walser und Reinhard Baumgart. Es sollte aber zunächst einmal das französische Publikum sein - Nizon lebt seit 1976 in Paris -, das ihm uneingeschränkte Bewunderung zollte. Der in Literatur und Film gleichermaßen rührige Frédéric Beigbeder hält ihn sogar des Nobelpreises für würdig.

Nun also ein Einblick in die Journale. Zunächst einmal begegnet uns die typische Situation des Schweizer Intellektuellen, der seine dringlichste Aufgabe darin sieht, die enge Welt seiner saturierten, selbstzufriedenen Landsleute hinter sich zu lassen. Die Schweiz, stellt Nizon fest, erweise sich als einzige Einübung in den materialistischen Tod, sterbe zu Lebzeiten ab. Vielleicht erinnert man sich noch an den unglücklichen Fritz Zorn, Sprössling der großbürgerlichen Zürcher Goldküste, der mit etwa dreißig Jahren Krebs bekam, aber vor seinem Tod noch ein Buch schreiben konnte, in dem er seine Erkenntnis festhielt, dass es die Trauer über die Lebensunfähigkeit seiner Gesellschaftsschicht war, die sich in seinem Karzinom verknotet hatte (Adolf Muschg hat das in den achtziger Jahren vielbeachtete Buch postum herausgegeben). Hier setzt Nizon an und brennt ein Feuerwerk des Aufbegehrens und der Lebensgier ab, das seinesgleichen sucht. Er heiratet, zeugt einen Sohn, verlässt die Familie aber dann, um unabhängig in einem kleinen Pariser Apartment zu leben und sich seinem ersehnten Werk zu widmen.

Er liebt das Vagabundentum, bereist die Welt, streift immer wieder ziellos durch die Straßen der französischen Hauptstadt, will sich mit allem vollsaugen und endlich im wahren Leben ankommen. Dazu gehört, dass er sich von der Schönheit der Frauen in Bann schlagen lässt und begehrlich den Mädchen nachschaut. Einmal sitzt er im Bus einem besonders hübschen Mädchen gegenüber und richtet in Gedanken eine Rede an sie, wobei er ihre Gesichtszüge mit Worten umschmeichelt, sie beobachtet und sich in sie hineinzuversetzen trachtet, dann aber unverrichteter Dinge bei der nächsten Haltestelle aussteigt. Er sucht, und das schreibt er in aller Offenheit, gelegentlich Prostituierte auf und weiß diese Begegnungen ein, zwei Stunden lang zu zelebrieren. Der Autor gewinnt ihnen einen Zauber ab, den er in der jähen Intimität zweier Fremder und trotz aller Erbärmlichkeit käuflicher Liebe in einem Glück gegenseitigen Schenkens und Vertrautwerdens erkennt. Alice Schwarzer sollte die entsprechenden Seiten einmal lesen.

Bewundernswert, wie transparent sich Nizon machen und die auf ihn einströmende Welt in sich aufnehmen kann. Als er sich einmal in New York aufhält, beschreibt er ausführlich seine Reisen in der Subway. Er studiert die unterschiedlichen Gesichter und sucht die eigentümliche Atmosphäre dieses zufälligen Zusammengewürfeltseins der Menschen in ihrem eigentümlichen Reiz und Freiheitsmoment zu erfassen. Als er einmal einen Schwarzen beobachtet, der sturzbetrunken und in konvulsivischen Zuckungen vor ihm auf dem Boden des Waggons liegt, notiert er: "Da ist man wirklich zur Disposition gestellt, in diesen rüttelnden Wartezimmern, die mit ihrer Menschenfracht voller Schreckenserwartung so monoton unter Tag dahindonnern." Die Formulierung zeigt, dass wir es hier mit einem Autor zu tun haben, der sich von seinen Eindrücken überwältigen lässt, der sich aufgefordert fühlt, sich dem Begegnenden zu stellen.

Die Schrift soll dann ebenfalls ein Medium der Lebendigkeit sein. Wenn der Autor höchste Intensität der Erfahrung erreicht - "dieses Meer- und Schaumgefühl, die Trunkenheit, Freiheit. Das innere Sprühen" -, dann setzt sich, um seine Worte zu gebrauchen, auch seine innere Schreibmaschine in Gang. Er geht durch die abendlichen Straßen von Paris und möchte die Stimmung der Leute einfangen, die ihre Arbeit beendet haben, einen Aperitif trinken und erwartungsvoll der aufziehenden Nacht entgegensehen. Er konstatiert, dass der Augenblick, den er beschreiben möchte, erst durch seine Niederschrift zu dem Augenblick wird, als den er ihn ahnt, dass er in seiner Gier nach dem Zugriff aber letztlich leer ausgehen wird, weil er festzuhalten versucht, was nicht festzuhalten ist.

Nizon macht auch aus seiner Verzweiflung keinen Hehl. Der Titel seines Buchs spricht von der Belagerung der Welt, und tatsächlich muss man sich fragen, ob dieser militante Gestus des Autors nicht zugleich auch seine Grenze ist. "Ich kann nur noch siegen oder untergehen." Zu diesem Kampfgeist gehört, dass Nizon einen eigentümlichen Anspruch auf Originalität seines literarischen Schaffens erhebt. Bloß keine Kommentare schaffen, sondern etwas völlig Neues!

Da ist wohl ein heutzutage überholter Konservativismus am Werk, der an der Idee eines Ursprünglichen, Genialen festhalten will. Gälte es nicht gerade umgekehrt den wiederholenden Charakter der Schrift zu begreifen? Zu verstehen, dass in dieser Bescheidung ihre Größe liegen kann? Nizon will wohl zu viel. Er huldigt dem Gedanken des Werks wie einem Fetisch, während die Moderne, wo sie bedeutend ist, derlei Vorstellungen als bürgerlich abgetan hat.

Von Robert Walser her gesehen erscheint im Schreiben Nizons damit etwas Angestrengtes. Walser war sich vollkommen bewusst, dass es die Ruhe zu suchen gilt, die Lockerung, um für die Sätze bereit zu sein, die doch von selbst kommen wollen. Er notierte einmal: "Ich bin überzeugt, dass wir viel zu wenig langsam sind." Über einen Autor seiner Zeit, der ihm allzu hektisch vorgekommen war, befand er: "Ich bin über seinen Eifer erhaben, weil ich diese Zeilen in einem sorgsam parfümierten Müßiggang schreibe, der mich befähigt, namenlos zart zu empfinden." Die Kosten für eine derartige Souveränität bestanden freilich darin, dass Walser sich letztlich außerhalb des Lebens begab.

Vorstellbar ist, dass die Journale von Nizon im Rückblick sich einmal als den eigentlich interessanten Teil seines Werks erweisen. Sie machen die existentielle Situation deutlich, in denen seine Sätze entstanden, und geben sich bereitwilliger dem Zufall und der Erfahrung hin. Dadurch, dass die Schrift stocken, immer wieder neu ansetzen und sich der Desorientierung überlassen kann, gewinnt sie. Das betörend geschriebene Buch macht gleichermaßen Lust auf Leben und Schrift. Das Vorwort des Herausgebers gibt dem Leser, der diesem Autor zum ersten Mal begegnet, nützliche Informationen. Nimm und lies!

EBERHARD GEISLER

Paul Nizon:

"Die Belagerung der Welt".

Romanjahre.

Hrsg. und mit einem Vorwort von Martin Simons. Suhrkamp Verlag, Berlin 2013. 350 S., geb., 19,95 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Lesen! Diesen Rat gibt Peter Henning uns bezüglich des hierzuland noch immer weitgehend unbekannten Autors Paul Nizon. Gelegenheit bietet laut Henning nun das Destillat von Nizons Tagebüchern aus fünf Jahrzehnten. Für den Rezensenten zeigt sich der Autor darin gewohnt exzentrisch, gibt Einblick in Lebens-, Schaffens- und Liebeskämpfe, offeriert Kollegenporträts, Stadtansichten aus Paris und Zürich. Dass dies alles hier "beglückend leicht" dargeboten wird, mit dem Bonus, stets zu spüren, dass es einer langen, mühsamen Schreiberexistenz entstammt, scheint Henning bemerkenswert.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.01.2014

Minimste Schwebungen
Eine Auswahl aus Paul Nizons Aufzeichnungen aus vier Jahrzehnten
zeigt: Die Verdichtung tut seinen Journalen durchaus gut
VON CHRISTOPHER SCHMIDT
Auf die Frage, was er als Schriftsteller zu sagen habe, gab Paul Nizon einmal folgende Antwort: „Nichts, meines Wissens. Keine Meinung, kein Programm, kein Engagement, keine Geschichte, keine Fabel, keinen Faden. Nur diese Schreibpassion in den Fingern. Schreiben, Worte formen, reihen, zeilen, diese Art von Schreibfanatismus ist mein Krückstock, ohne den ich glatt vertaumeln würde. Weder Lebens- noch Schreibthema, bloß matière, die ich schreibend befestigen muss, damit etwas stehe, auf dem ich stehen kann.“
  Diese Selbstauskunft stammt aus seinem 1963 erschienenen Antiroman „Canto“, ein anderer Satz im Buch lautet, „Mein Halt ist die Verneinung“. Und dabei ist es geblieben, bis heute. Zwanzig Jahre später, in seinen Frankfurter Poetikvorlesungen, die er unter den Titel „Am Schreiben gehen“ gestellt hat, bekräftigte Nizon noch einmal trotzig seinen Aristokratismus der Verweigerung. Um so bedeutender ist das Bekenntnis, als „Canto“ sein Debüt bei Suhrkamp war und zugleich seinen Absprung aus der bürgerlichen Existenz in das ungesicherte Leben des freien Schriftstellers markierte. Gleichwohl enttäuschte er mit diesem Band die in ihn gesetzten hohen Erwartungen, die 1959 sein Erstling „Die gleitenden Plätze“ geweckte hatte, und zwar krachend.
  Es folgten sieben magere Jahre in der post-illusionären Warteschleife bis zu seinem nächsten Buch „Im Hause enden die Geschichten“ (1971), Jahre der Verkanntheit, der Schreibeinsamkeit, von der er sich zeitweise „geradezu chloroformiert“ fühlte, Jahre ohne öffentliche Resonanz. Nizon lebt „von der Hand in den Mund von Monat zu Monat“ und „die unbezahlten Rechnungen schweben wie Wasserleichen an die Oberfläche meiner Gedanken“. Er schlägt sich durch mit Vorschüssen, Krediten und Lohnschreibereien, pendelt zwischen seinem Zürcher Basislager und dem Swinging London der Sixties, wo er die aufkommende Pop-Kultur mit Argwohn, ja Panik beobachtet, da er seinen stolzen Individualismus, seinen Anspruch auf Unverfügbarkeit bedroht sieht. Er verachtet das „Zeitvieh“, will nicht „Teil der modischen Masse und Herde“ sein. Später wird Paris das Ziel seiner Schreibtischfluchten, 1976 übersiedelt er ganz dorthin.
  Geboren 1929 in Bern als Sohn eines emigrierten russischen Chemikers, wächst er auf in der Studentenpension der Großeltern, in ungeborgenen, verflüssigten Familienverhältnissen. Noch als Museumsassistent veröffentlicht er nach der Promotion seinen Erstling, wird von Siegfried Unseld unter Vertrag genommen und von Max Frisch gefördert, verbringt ein unproduktives, verbummeltes Jahr in Rom. Er, der gescheiterte Hoffnungsträger zwischen „totaler Hingabebereitschaft und Fremdbleibensnot“ verlässt Italien niedergeschmettert, und wieder hat er Glück. Die Neue Zürcher Zeitung beruft ihn, der sich früh familiär gebunden hat, als Leiter des Kunstressorts, acht Monate hält er durch, bevor er auf einer Dienstreise nach Barcelona abstürzt, in einer Bar versackt, nicht für eine Nacht, sondern für Wochen.
  Er verprasst sein ganzes Geld, muss seinen Pass abgeben, landet zwischenzeitlich im Gefängnis, bevor ihn ein Freund auslöst. Das ist die Wende, der „heidnische Hurenbock“, der, so Nizon, in Rom aus ihm ausgeschlüpft war, übernimmt von nun an die Führung, Nizon löst alle Bindungen, wird Schriftsteller, ein freier Geist und radikaler Einzelgänger der Literatur, der fortan „Klärungsarbeit“ an sich selber treibt – auch wenn zwei weitere Ehen folgen und er spät noch einmal Vater wird.
  Auch die Metropole Paris freilich erweist sich nicht immer nur als „Weltzufuhr“, sondern oft genug als „Zelle“. Nizon kultiviert seine flaneurhafte Aussteiger-Existenz, pflegt seinen elitären künstlerischen Anspruch, der da heißt „Welteroberung mit der Wünschelrute des Schreibens“ und zelebriert eine altmodisch chevalereske Nadelstreifen-Distinktion. „Nur mit Lebensneugier, Weltliebe und einer Schreibpassion ausgerüstet“, folgt er dem eigenen Stern. Die Dichterberufung versteht er als Unbedingtheit, als weihevollen Isolationismus, dazu gehört das rebellische Pathos einer antibürgerlichen Mansarden-Bohème – halb Dandy, halb Clochard ist er nachtschwärmerisch in den Armutsquartieren unterwegs, am liebsten aber in der Pariser Halbwelt, mit ihrem Gelichter, ihren Bars und Bordellen. Doch wie die Lebenssituation bleibt auch die eines „schlimmstenfalls nur privaten Schreibens“ prekär, stets ist dieser sich verströmende Luftgeist von Solipsismus und Austrocknung bedroht.
  Trotzdem entstehen über die Jahrzehnte wunderbare Erzählbände, feinstoffliche Prosa-Preziosen, eine betörender als die andere, stets nah am Verstummen, Phasen der Blockade, Vergrottung und Schreiblähmung abgerungen, Bücher, die Nizon als den wohl größten Stilisten und Sprachmagnetiseur in der deutschen Literatur ausweisen. Als „Geburt der Schönheit aus dem Bade des Nichts, Selbstwerdung auf Papier“, charakterisiert er sein „erstohlenes“ Schreiben. Mit seiner Literatur der Nuancen und „minimsten Schwebungen“ bleibt Nizon allerdings ein esoterischer Spezialfall für eine kleine Gemeinde von Connaisseuren. „Autopoetisch“ hat man seine Texte in Frankreich genannt, wo Nizon längst größere Anerkennung zuteil wird als bei uns, „littérature pure“ heißt es über sein Autoren-Verständnis, das nichts Geringeres anstrebt als Schöpfung, Herstellung von Wirklichkeit im Medium der Sprache, verdichtete Lebensfülle, „vergleichbar der japanischen Papierblume, die sich im Wasser öffnet“. Nizon selbst spricht von „Action writing“.
  Schon seit Jahren laboriert er an dem Romanprojekt „Der Nagel im Kopf“ („Ob ich den Fast-Kadaver zum Leben bringen und erwärmen kann?“), fortlaufend veröffentlicht hat er jedoch einzig seine Tagebuch-Aufzeichnungen. Diese „Journale“ schrieb er anfangs für den Papierkorb, sie waren einzig dafür bestimmt, die Schreibroutine zu fetten, literarisches Frostschutzmittel. 1400 Druckseiten umfasst das publizierte Material aus vier Jahrzehnten. Unter dem Titel „Die Belagerung der Welt – Romanjahre“ ist nun eine Art Best-of erschienen, freigesprengt aus der Verpanzerung der Wiederholungen und Digressionen.
  Ist dieser so erratische und in extenso schwer vermittelbare Autor jetzt also ein Fall für die Resterampe, das Outlet, Nizon für Eilige? Gewiss nicht. Stellt das Journal als Zwischenstufe der Poetisierung, bevor das erhaschte Leben in den Destillierkolben seiner Kunst-Prosa zur Essenz wird, die ihm gemäßeste literarische Form dar, so gewinnt es allemal durch das Prinzip von Sampling und Auslese. Schließlich sind die Notate im Volltext-Modus auch für Nizon-Adoranten eine zwiespältige, mitunter beschwerliche Lektüre, kreist doch das notorisch krisenhafte Schreib-Ich als „Selbstarchäologe und blutendes Versuchskaninchen“ fortwährend introspektiv um sich und seine inneren Ufer. Je schwerer es Nizon fällt, seine Idiosynkrasien und Epiphanien künstlerisch hochzutrommeln, desto mehr verhärtet sich sein Credo zu apologetischem Heroismus.
  Kaum ein Autor zweifelt so offensiv an sich wie Nizon. Dabei ist diese obsessive, lauernde Ich-Beobachtung mit ihren selbstreferentiellen Schleifen in der extended version auch enervierend. Der entschlackte Director’s Cut entschädigt den treuen Nizon-Leser für die Durststrecken, die er mit diesem Großemphatiker durchschritten hat – deutlicher lässt er die Lebenslinien hervortreten, das Muster eines einzig dem energetischen, dabei alles andere als sieghaftem Schreibethos hingegebenen Daseins.
  Mit den Jahren nimmt die autobiografische Vergewisserung immer größeren Raum ein, brillant aber sind zumal die versammelten Porträtskizzen: Robert Walser ist die eine, Vincent van Gogh die andere der beiden Portalfiguren seines künstlerischen Werdens. Pointierte kleine Feuilletons finden sich hier über Ausstellungen wie über Lektüren. Und physiognomische Miniaturen. Elias Canetti ist sein väterlicher Gefährte schon in Zürcher Tagen, die für ihn „wichtigste Begegnung“. Peter Handkes „Prophetensprache“ würdigt Nizon aus respektvollem Abstand. Von Max Frisch, seinem Förderer, fühlt er sich missbraucht, zu gönnerhaft ist ihm der Starautor. Für seine Eifersucht auf den Erfolgsverwöhnten findet Nizon die hinreißende Formulierung „in Neid gerahmt“.
  Geradezu mesmerisierend ist Nizons Sprache, wenn er sich am Anblick schöner Frauen berauscht oder an aufplatzenden Knospen, dem „lautlosen Knallen“ des Frühlings auf den Boulevards. An seinem achtzigsten Geburtstag empfindet er die Jahreszahl „wie das Fallbeil eines Todesurteils“. Am tiefsten aber beeindruckt an diesen Notaten ihre Ehrlichkeit, nicht im Sinne einer spießbürgerlichen Lauterkeit, sondern einer Ungeschütztheit, in der Nizon alles durch sich hindurchgehen lässt. „Ich suchte mit meiner Dichtung das Wunder des Lebens aus dem Stein zu schlagen“, heißt es einmal. Und an einer anderen Stelle: „Der Tag ist jung, und ich habe Lust auf einfach alles.“ Es ist nicht sein bester Satz, aber vielleicht sein wichtigster.
Er verprasst sein Geld. Ein
Freund muss ihn in Barcelona
freikaufen, er flieht
Robert Walser und Vincent van
Gogh – die beiden Portalfiguren
seines künstlerischen Werdens
Schreiben als Existenzsteigerung: Paul Nizon 1996 in Paris.
Foto: Felix von Muralt/OSTKREUZ /Ag
  
            
  
  
        
Paul Nizon: Die Belagerung der Welt – Romanjahre. Suhrkamp Verlag, Berlin 2013. 350 Seiten, 19,95 Euro, E-Book 16,99 Euro.
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»In einer Welt, in der es gerecht zuginge, wäre Nizon heute wirklich weltberühmt. Na ja, oder er hätte wenigstens den Büchner-Preis zum Beispiel bekommen.« Volker Weidermann Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 20131124