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Dies ist keine Gute-Nacht-Geschichte: In seinem neuen Roman erzählt
der haitianische Schriftsteller Louis-Philippe Dalembert vom Voodoo-Kult in seiner Heimat
VON CORNELIUS WÜLLENKEMPER
In der Nacht vom 14. August 1791 legte der Sklavenanführer und Voodoo-Priester Dutty Boukman im Bois Caïman, dem „Krokodilwald“ im Norden der französischen Kolonie, mit einer konspirativen Zeremonie gegen „den Gott der Weißen, der sie zu Verbrechen zwingt“, den Grundstein zu Haitis Unabhängigkeit. Der Sieg der Sklavenarmee über die von Napoleon aus Frankreich geschickten Truppen kam tatsächlich einem Wunder gleich. Die zu Hunderttausenden aus Westafrika verschleppten Sklaven hatten der einst reichsten französischen Kolonie nach der restlosen Vernichtung der Taíno-Urbevölkerung als dringend benötigte Arbeitskräfte gedient. Der „Vaudou“, ihre synkretistische Volksreligion zwischen afrikanischem Mystizismus und europäischem Katholizismus, prägte Haitis Musik, die bildenden Künste und den magischen Realismus der haitianischen Literatur. Nach der Einführung des Katholizismus durch die Kolonialherren erlangte der Voodoo nach der Unabhängigkeit seine ursprüngliche Bedeutung zurück, weniger als schwarze Magie, sondern als gelebte Spiritualität sowie Heil- und Lebenskunde.
Dabei nutzte nicht nur der Revolutionsanführer Boukman die tiefe Verankerung des Voodoo-Kults im kollektiven Bewusstsein der Haitianer für seine politischen Ziele. Auch der Diktator François Duvalier, „Papa Doc“, huldigte knapp 170 Jahre später den Voodoo-Geistern, organisierte im Kreise seiner engsten Mitarbeiter Zeremonien im Keller des Präsidentenpalastes und gerierte sich, um respektiert und gefürchtet zu werden, als „Baron samedi“, Totenwächter der Geister.
Dass Voodoo ungeachtet der politischen Instrumentalisierungen vor allem der sehr lebendige Kern der haitianischen Volks- und Alltagskultur ist, beschreibt Louis-Philippe Dalembert in seinem nun auf Deutsch erschienenen Roman „Die Götter reisen in der Nacht“. Der 1962 in Port-au-Prince geborene Weltreisende und international ausgezeichnete Autor kreist in seinen Gedichtbänden und Romanen um drei große Themen: Die Erinnerung an seine Kindheit unter der Diktatur, seine strenge christliche Erziehung und das „Vagabundieren“ durch die Welt auf der Suche nach der eigenen Identität.
„Die Götter reisen in der Nacht“ beginnt in einer kalten Novembernacht in einem Keller in Brooklyn, in dem der namenlose Held an der Seite seiner Freundin Caroline zum ersten Mal einer Voodoo-Zeremonie beiwohnt. Als sich der Exil-Haitianer vor der versammelten Voodoo-Gemeinde als Banause blamiert und den zeremoniell verabreichten Alkohol verschmäht, beschert ihm das nicht nur Carolines Verachtung, sondern zwingt ihn zugleich zu einer schonungslosen Selbstbefragung. Wie kann er behaupten, Haitianer zu sein, ohne auch nur die leiseste Ahnung von den Riten zur Anrufung der „loa“ zu haben, der allmächtigen und äußerst launenhaften Vermittler zwischen Göttern und Menschen?
Der vermasselte Auftakt in Brooklyn führt den Protagonisten des Romans zurück in seine Kindheit. Schuld an seinem Identitätsdilemma ist seine Großmutter auf „der Insel“, bei der er als vaterloses Kind in „Port-aux-Crasses“ („Schmutzhafen“) aufgewachsen ist. „Grannie“ repräsentiert in Dalemberts Roman das extremistisch-evangelikale Christentum US-amerikanischer Provenienz, das sich seit Anfang des 20. Jahrhunderts der Bekämpfung des Voodoo als „Satanerei“ verschrieben hat. Dalemberts Held wächst als „Unschuldslamm“ auf, das bei jeder Annäherung an den Voodoo und wegen der kleinsten Vergehen gegen die streng biblischen Lebens- und Glaubensregeln seiner Großmutter – die das natürlich nur in bester Absicht tut – wahlweise verdroschen oder aber mit Gebetslitaneien aus dem Exorzismus-Repertoire traktiert wird.
Diese Erinnerungsreise zurück in das „Land am anderen Ufer der Zeit“ ist dabei keineswegs bloße Seelenschau eines Traumatisierten, sondern untersucht äußerst unterhaltsam die Bedeutung, die der Voodoo-Glaube bis heute im Alltag hat. In 14 „Mouvements“ im Stil der haitianischen Kurzgeschichte zwischen Sozialrealismus, Witz und Mystik erkundet der Erzähler die Abenteuer seiner Kindheit: Vom erotischen Schlüsselerlebnis, als er eine Nachbarin dabei beobachtet, wie sie sich schwitzend und zuckend einer Trance hingibt, bis hin zur geheimen Expedition zu der „Cour Blain“, dem lokalen Voodoo-Tempel, der Kindern strengstens verboten ist.
In „Der böse Fuß“ erlebt ein Onkel, wie es demjenigen ergeht, der Grannies sittenstrenge Hausregeln nicht beachtet und ein anzügliches Lied von Ti-Paris spielt, dem legendären haitianischen Volkssänger. Den bedrohlich faulenden Fuß des Onkels kann schließlich nur eine wundersam über Nacht an der Statue der mystischen Heilsbringerin Madame Colo gewachsene Pflanze heilen, die Grannie unbemerkt an sich nimmt. Strenges Christentum und Voodoo-Zauber sind auch bei der bibeltreuen Großmutter nur scheinbar Gegensätze, die insgeheim Hand in Hand gehen.
Grannie, so erfährt man am Ende der kalten Novembernacht in Brooklyn, folgt an ihrem Lebensende doch noch dem „Ruf nach Guinea“ zu den spirituellen Wurzeln der haitianischen Mystik in Westafrika. Dalemberts Erzähler, den die Gesänge und Tänze seiner Heimat nie ganz verlassen haben und der ab und an den Klang der Trommel bis weit über den Ozean vernimmt, reist derweil durch die Welt und will sich von der „Identitätspolizei“ keine Fragen mehr über sein Verhältnis zum Voodoo gefallen lassen. Darin liegt ein faszinierender Widerspruch: Louis-Philippe Dalembert hat einen magisch pulsierenden Roman über die verlorene Mystik seiner Kindheit geschrieben.
Die Großmutter, in deren Obhut
der Held des Romans aufwächst,
bekämpft Voodoo als „Satanerei“
Guédé heißen die Geister, die Fruchtbarkeit und Tod symbolisieren. Beim „Fet Ged“ werden sie beschworen, hier in Port-au-Prince 2011.
Foto: REUTERS/Swoan Parker
Louis-Philippe Dalembert: Die Götter reisen in der Nacht. Roman. Aus dem Französischen von Bernadette Ott. Litradukt Verlag, Trier 2016. 200 Seiten,
16,80 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
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