Madeleine Thien, Einfache Rezepte, Luchterhand 2008, ISBN 978-3-630-87260-5
Wo kommen wir her ? Wer waren meine Vorfahren, welche Geschichte haben sie erlebt und was hat sie mit mir zu tun ? Welche Kräfte, mir bewusste und noch mehr meinem Bewußtsein nicht zugängliche, wirken aus der
Vergangenheit auf mich ein ? Besonders aus den Teilen der Vergangenheit, die unklar, mit Schuld beladen und…mehrMadeleine Thien, Einfache Rezepte, Luchterhand 2008, ISBN 978-3-630-87260-5
Wo kommen wir her ? Wer waren meine Vorfahren, welche Geschichte haben sie erlebt und was hat sie mit mir zu tun ? Welche Kräfte, mir bewusste und noch mehr meinem Bewußtsein nicht zugängliche, wirken aus der Vergangenheit auf mich ein ? Besonders aus den Teilen der Vergangenheit, die unklar, mit Schuld beladen und dunkel sind. Seit der Psychoanalyse Sigmund Freuds wissen wir, das Vergangenes so lange in der Psyche wieder kehrt, bis es bearbeitet und bewältigt ist. Aus der Familientherapie kennen wir aus den von Bert Hellinger entwickelten Familienaufstellungen, so umstritten sie auch sein mögen, die enorme Kraft von Familiensystemen auf das Leben der Menschen.
In der Regel leben wir ohne rechte Erinnerung an unsere Familienvergangenheiten. Fotoalben zu erstellen, sie zu beschriften und sie zusammen mit seinen Kindern immer wieder anzuschauen und die dazu passenden Geschichten und Anekdoten zu erzählen, diese Tradition mutet im Zeitalter der Digitaltechnik antiquiert an. Der Rezensent allerdings hält an dieser Tradition fest, seit er selbst im späten Lebensalter Vater eines kleinen Sohns geworden ist.
Die Autorin des Buches "Jene Sehnsucht nach Gewissheit", eines beeindruckenden Erstlingswerkes, hat sicher viele biographische Erfahrung in ihren Roman eingearbeitet. Sie versucht zu schreiben in einer "Sprache, in der deine Mutter dich liebte" und ihr gelingt dieses Kunststück auf das Allerbeste. Sie schreibt mit einer Hingabe und gedanklichen Tiefe, die den Leser das ganze Buch über fesselt und sehr bewegt. Das Buch erzählt von der verzweifelten Suche nach menschlichen Grundwahrheiten mitten in einer sehr persönlichen Trauerarbeit.
"In der Zeit, die die Zukunft hätte gewesen sein sollen" ( mit diesen Worten beginnt das Buch), suchen die Hinterbliebenen einer plötzlich verstorbenen Rundfunkjournalistin nach einer Neuorientierung in einer Welt, die ihnen sinnlos geworden ist.
Madeleine Thien gelingt es, sehr sensibel sich in die Gefühlswelt von Trauernden hineinzudenken mit einer Sprache, wie ich sie so schon lange nicht mehr gelesen habe. Sie schafft es in Seelenlandschaften vorzudringen, von denen man glaubt, das sie für Sprache kaum einen wirklichen Zugang haben.
Sie durchdringt Schicht für Schicht die Vergangenheit der einzelnen Figuren.
Nach dem großen Erfolg ihres ersten Romans hat der Luchterhand Verlag nun die schon 2001 in Kanada erschienenen Erzählungen "Einfache Rezepte" vorgelegt. Wenn man diese Erzählungen liest, spürt man, wie stark sie sozusagen Übungen waren für den darauf folgenden Roman. In fünf der sieben abgedruckten Geschichten erleben Kinder das Auseinanderbrechen ihrer Familie als den Einbruch von etwas Ungeheuerlichem. Fünfmal ist es der kindliche Blick, der sich vortastet zu den Eltern und dem Zusammenbruch der eigenen Welt. Noch als Erwachsene kommt für diese Kinder die Frage nicht zur Ruhe wie sich alles hätte anders entwickeln können. "Wenn ich die Art Tochter gewesen wäre, die ich nie war .. die eine Familie durch all ihre kleinen Tragödien hätte zusammenhalten können."
Madeleine Thiens Figuren, und wohl auch sie selbst bewegt "die Hoffnung, dass unser Wissen uns zu guter letzt erlösen wird, dass wir finden, das bleibt, auch noch im unendlichen, ungewissen Jenseits."
Wer je einmal an einer Familienaufstellung teilgenommen und sich selbst eingebracht hat, wird bestätigen, dass in diesem Rückblick, dem Nachgeben der "Sehnsucht nach Gewissheit", die auch in dem vorbereitenden, hier vorliegenden Erzählungsband „ Einfache Rezepte" auf jeder Seite spürbar ist, ein Versöhnungs- und Erlösungspotential liegt, das etwa die christlichen Kirche noch gar nicht hinreichend begriffen haben.