Victor Sebestyen wurde in Ungarn geboren, stammt damit von der anderen Seite des "Eisernen Vorhangs" und berichtete für englischsprachige Leser hauptsächlich aus Osteuropa. Für den Autor eines populären historischen Sachbuchs ist das eine viel versprechende Ausgangsposition, die sich u. a. mit den
Wurzeln des Autors befassen könnte. Sebestyen erzählt vom ersten Nachkriegsjahr 1946, in dem er…mehrVictor Sebestyen wurde in Ungarn geboren, stammt damit von der anderen Seite des "Eisernen Vorhangs" und berichtete für englischsprachige Leser hauptsächlich aus Osteuropa. Für den Autor eines populären historischen Sachbuchs ist das eine viel versprechende Ausgangsposition, die sich u. a. mit den Wurzeln des Autors befassen könnte. Sebestyen erzählt vom ersten Nachkriegsjahr 1946, in dem er markante Persönlichkeiten und deren Entscheidungen darstellt und Beziehungen zwischen Staaten aufrollt, über die man zum Verständnis heutiger Konflikte informiert sein sollte. Zur Verarbeitung der Fülle von Namen und Bezügen im Kopf des Lesers halte ich das für einen sehr wirksamen Ansatz.
Politik und Geschichte der Nachkriegszeit betreffend, zähle ich zu den "weißen Jahrgängen", die im Geschichtsunterricht hauptsächlich Jahreszahlen paukten. In einem Schülerleben konnten sie mehrfach erleben, dass die Nachkriegszeit zwar formal im Geschichtsbuch enthalten war, rätselhafterweise aber jedes Mal das Schuljahr zu kurz war, um dieses Kapitel durchzunehmen. In den Jahren 1975 oder 1985 hätte ich mich für Sebestyens Stoff vehementer interessiert als heute, um seine Darstellung mit der von Zeitzeugen abzugleichen. Doch ein Buch wie dieses konnte vermutlich nicht eher geschrieben werden, weil Augenzeugenberichte über Flucht, Vertreibung und an Zivilpersonen noch nach Kriegsende begangene Gräueltaten der Besatzungstruppen für Jahrzehnte in Archiven verschwanden. Diese Berichte waren lange nur Historikern gegen Nachweis eines wissenschaftlichen Interesses zugänglich.
Sebestyens Ansatz, Geschichte als Geschichten über historische Persönlichkeiten zu erzählen, lässt sein Buch leicht lesbar und unterhaltsam wirken. Ihm waren offenbar verstärkt Quellen zur britischen Besetzung Norddeutschlands zugänglich, was die Vielseitigkeit der angeschnittenen Themen jedoch nicht beeinträchtigt. Zumindest bei mir ist es Sebestyen gelungen, die Sicht "der anderen Seite" anzuregen, die Seite der Besatzungstruppen und ihrer Heimatländer. Dass auch die britische Bevölkerung im Jahr Null nach dem Krieg hungerte und fror, machte sich in den besetzten Gebieten wohl niemand bewusst, der mit der Militärregierung um Rückgabe beschlagnahmter Gebäude und Autos rang, um z. B. endlich wieder seinen Beruf ausüben zu können. Der Autor nennt direkt und ungeschminkt, wer nach dem Krieg von Vertreibung und dubiosen Geschäften profitierte und hält dabei besonders osteuropäischen Staaten den Spiegel vor die Nase. Durchaus kritisch geht er ebenfalls der Frage nach, ob die Amerikaner sich nicht mit dem Plan übernommen haben, ganze Völker umerziehen zu wollen. Knappe und treffende Kapitel über die Ursachen des Israel-Konflikts, die Nachkriegsgeschichte Griechenlands oder das Ringen um persische Ölquellen tragen erheblich zum Verständnis der heutigen Zustände in den genannten Ländern bei. Auch Kenntnisse über das Verhältnis zwischen den USA und China, den USA und Japan oder Deutschland und der Tschechoslowakei sollten zur Allgemeinbildung gehören. Schließlich schreckt Sebestyen nicht davor zurück, die mangelnde Vergangenheitsbewältigung z. B. in Polen und dort speziell den Antisemitismus der katholischen Kirche beim Namen zu nennen.
Als sein Buch verfasst wurde, ahnte vermutlich niemand, dass es in Europa aktuell wieder Displaced Persons und Übergangslager geben würde und sich daraus die Frage ergibt, was wir aus jener Zeit für die Gegenwart gelernt haben. "Gemeinsames Leiden macht nicht zu Brüdern," (Seite 294) hat Tadeusz Nowakowski treffend festgestellt. Sein Zitat zeigt beispielhaft, wie geschickt Sebestyen seine Quellen und Zitate für dieses Buch ausgewählt hat. Speziell die Frage, ob man ganze Völker umerziehen und deren Werte abwählen kann, ist heute in Deutschland aktueller als je zuvor.