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Die zwei in diesem Buch versammelten Romanfragmente: DER ZAUBERLEHRLING und DER DOPPELGÄNGER sowie BRIEFE AN MICH SELBER thematisieren in unterschiedlicher Form Kästners eigene Situation als verbotener Schriftsteller im Dritten Reich: Ein "lebender Leichnam", wie er selbst sagte. So einer ist auch Karl, der Erzähler in DIE DOPPELGÄNGER, dessen Selbstmordversuch sich in ein Attentat auf eine Topfpflanze verwandelt und der hinterher "nicht tot (ist) und nicht am Leben". Ähnlich ergeht es dem Kunstgelehrten und Zauberlehrling Professor Mintzlaff, der in einer Art moderner Umsetzung des…mehr

Produktbeschreibung
Die zwei in diesem Buch versammelten Romanfragmente: DER ZAUBERLEHRLING und DER DOPPELGÄNGER sowie BRIEFE AN MICH SELBER thematisieren in unterschiedlicher Form Kästners eigene Situation als verbotener Schriftsteller im Dritten Reich: Ein "lebender Leichnam", wie er selbst sagte. So einer ist auch Karl, der Erzähler in DIE DOPPELGÄNGER, dessen Selbstmordversuch sich in ein Attentat auf eine Topfpflanze verwandelt und der hinterher "nicht tot (ist) und nicht am Leben". Ähnlich ergeht es dem Kunstgelehrten und Zauberlehrling Professor Mintzlaff, der in einer Art moderner Umsetzung des Fauststoffes erst der Vatergottheit Zeus und dann sich selbst begegnet. Beide verbindet das Gefühl existenzieller Einsamkeit, das auch Kästner beherrschte und das sich in seinen BRIEFEN AN MICH SELBER ganz unverschlüsselt manifestiert. Der große Roman über die Nazi-Zeit, den Kästner nie geschrieben hat - in diesen Fragmenten und Briefen finden sich Thema und Stimmung dieser Jahre.
Autorenporträt
Erich Kästner, geb. am 23.2.1899 in Dresden, studierte nach dem Ersten Weltkrieg Germanistik, Geschichte und Philosophie. Neben seinen schriftstellerischen Tätigkeiten war Kästner Theaterkritiker und freier Mitarbeiter bei verschiedenen Zeitungen. Von 1945 bis zu seinem Tode am 29. Juli 1974 lebte Kästner in München und war dort u.a. Feuilletonchef der 'Neuen Zeitung'. 1957 erhielt er den Georg-Büchner-Preis.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.11.1998

Vom Kochen des Mammuts vor der Kirche
Boris Pilnjak erzählt vom Zerfall des Radiums und der Welt, von Doppelleben und Doppelgängern / Von Ralph Dutli

Wenn Alexander Latschinows Flugzeug abhebt, "gleitet die Erde nach hinten davon, die Flüsse, Wälder, Felder, Spielzeugdörfer - Rußlands Hemd". Bei wenigen Autoren war dieses Hemd so kontrastreich gefärbt wie bei Boris Pilnjak. 1922 wurde er mit seinem ersten Roman "Das nackte Jahr" schlagartig berühmt. Er zeigte das furchtbare Jahr 1919 des Bürgerkriegs in Rußland: "Es gab kein Brot. Es gab kein Eisen. Es gab Hunger, Tod, Lüge, Grauen und Entsetzen - das Jahr neunzehn."

Die junge Sowjetprosa hatte plötzlich einen Namen: Pilnjak. Es war ein Pseudonym. Der 1894 geborene Autor stammte väterlicherseits von Wolgadeutschen ab, sein eigentlicher Name war Wogau. Sein Thema: Revolution und Bürgerkrieg in der Provinz, ungeschönt, Lichtjahre von der Propaganda entfernt, als Naturgewalt in ihrem ganzen Schrecken - und in ihrer Faszination. Aufbruchjubel und Apokalypse stehen bei ihm hart nebeneinander. Das russische Chaos fand seinen gültigen Ausdruck im Pilnjakschen Prosa-Chaos.

Trotzki lobte den genauen Beobachter Pilnjak, lobte sein Auge und sein Ohr, bemängelte aber auch, er sei rückwärtsgewandt und kein verläßlicher Revolutionär. Im Jahr 1918 hatte Pilnjak in einer Anarchistenkommune gelebt, und anarchistische Züge wird er sich und seiner Prosa immer bewahren. Er beharrte auf der Autonomie der Kunst, die sich von der Ideologie nicht blenden lassen dürfe, und wurde zum bedeutendsten "Mitläufer" in der Sowjetliteratur, von den proletarischen Literaturfunktionären bald angegeifert wie keiner.

Pilnjak war ein Recycling-Spezialist, ein Meister der literarischen Wiederverwertung. Der fremde Text war ihm so gut wie ein eigener. Versatzstücke des Alltags, Zeitungsausschnitte über Unglücksfälle und Verbrechen, Statistiken und Zirkulare fügte er wild in seine Prosa ein und versetzte das nüchtern Dokumentarische mit atemberaubenden Lyrismen. Was der bildenden Kunst die Collage war, dem Film die Montage, übertrug Pilnjak auf die literarische Prosa. Schon in seinem zweiten Meisterwerk, "Maschinen und Wölfe" von 1925, verwendete er Teile des ersten - und so fort.

Die Schwierigkeiten begannen im Jahre 1926 mit der verwegenen Frechheit der "Erzählung vom nichtausgelöschten Mond". Jedermann konnte in dieser Geschichte nur schwach maskiert das Unglück des beliebten Armeeführers Michail Frunse erkennen, der von Stalin zu einer medizinisch unnötigen Operation gezwungen wurde und dabei zu Tode kam. Pilnjak mußte ein öffentliches Reuebekenntnis ablegen, das so zwiespältig ausfiel wie alle seine Reuebekenntnisse. Die Bombe platzte dann 1929, als Pilnjaks Erzählung "Mahagoni", die Zustände in der russischen Provinz zehn Jahre nach einer verpatzten Revolution schilderte, in einem Berliner Verlag herauskam. Die Hetzkampagne, die gegen Pilnjak losschlug, bestimmte sein Leben bis zum Schluß. Als er, scheinbar zu Kreuze kriechend, 1930 den Produktionsroman "Die Wolga fließt ins Kaspische Meer" zum Lob des ersten Fünfjahresplans erscheinen ließ, fand sich darin, als literarisches Kuckucksei im fremd-eigenen Nest, die ganze skandalträchtige "Mahagoni"-Erzählung einmontiert. Maxim Gorki kanzelte 1935 in der "Prawda" Pilnjak als "literarischen Hooligan" ab.

Als zu Glasnost-Zeiten die KGB-Archive einen Spaltbreit geöffnet wurden, fand Witalij Schentalinskij auch die Akte Pilnjak, und man kennt seither die weiteren Fakten. Pilnjak wurde am 28. Oktober 1937 verhaftet, am 21. April 1938 von einem nur eine Viertelstunde tagenden Sondergericht als "Trotzkist", "Terrorist" und "japanischer Spion" zum Tode verurteilt und noch am selben Tag erschossen. Pilnjaks literarisches Spätwerk war lange Zeit nur bruchstückhaft wahrnehmbar, jetzt beginnen sich die weißen Flecken mit Farbe zu füllen. Auch für den deutschen Leser: 1993 erschien mit "Der Salzspeicher" (Gustav Kiepenheuer Verlag) Pilnjaks allerletzter Roman, den er nur wenige Wochen vor seiner Verhaftung abschloß, jetzt ergänzt Suhrkamp das Bild mit dem wiederaufgetauchten Roman "Die Doppelgänger". Er ist dem lobenswerten Engagement Dagmar Kasseks zu verdanken, die bereits 1994, zum hundertsten Geburtstag, mit Band von Briefen und Dokumenten die Kenntnis des deutschen Lesers über Pilnjak erfreulich erweitert hat.

"Die Doppelgänger" waren lange nur ein Gerücht. 1933 war eine erste Fassung entstanden, die nur in einer polnischen Übersetzung erscheinen konnte, aber Pilnjak montierte 1935 den Roman nochmals neu. Er verschwand dann für Jahrzehnte in einem Archiv und tauchte erst 1989 in einer russischen Zeitschrift in Tadschikistan wieder auf. "Die Doppelgänger" sind eine Montage von Früherem, aus zwei Erzählungen und einem Reisebericht über Tadschikistan. Der deutsche Leser kann mindestens zwei Elemente wiedererkennen.

Die Geschichte der ägyptischen Mumie, die in der Zeit der russischen Revolution zum Leben erwacht und von einem dem Radiumbau verfallenen Ingenieur geliebt wird, kennt man aus der Erzählung "Iwan Moskwa" von 1927, die in Barbara Conrads exzellenter zweibändiger Ausgabe der Erzählungen (S. Fischer Verlag 1989 und 1991) zu finden ist. Der ausgreifende Bericht von einer Polarexpedition aber stammt aus der Erzählung "Im Nebelland" (1924), die uns der "Mahagoni"-Band in Enzensbergers "Anderer Bibliothek" bescherte. Lauter alte Hüte also? Ein Flickwerk aus längst Bekanntem? Mitnichten.

Jede Neumontage Pilnjaks ist von einem faszinierenden eigenen Rhythmus. So mancher postmoderne Spaß wird zum lahmen Entchen, wenn man ihn mit den Werken dieses radikalen Montagekünstlers der russischen Moderne vergleicht. Die Kühnheit der Schnitte, der brutale Zusammenprall der Extreme lassen schnell vergessen, daß man die Ingredienzen eigentlich kennen könnte. Der Roman "Die Doppelgänger" ist die Geschichte von Zwillingsbrüdern. Alexander Latschinow ist Schauspieler, ein melancholischer Zweifler, der an der neuen Sowjetrealität zerschellen muß. Sein Bruder Nikolaj ist ein eiskalter Wissenschaftler und Willensmensch, der sich für die Erforschung der Arktis ebenso ungebremst einsetzt wie für die Radiumgewinnung zum Wohle der Sowjetrevolution. Er ist ein gefühlloser Roboter, ein "neuer sowjetischer Mensch", wie er Stalin vorschwebte. Zu einem offenen Gespräch zwischen den Antipoden kommt es nie. Als sein Bruder Alexander mit dem Flugzeug abstürzt, fühlt Nikolaj kein Mitleid, denn er hat Wichtigeres zu tun, und schon während der Arktis-Expedition war er bereit, auf seinen Bruder zu schießen, als der sich in Vernachlässigung der Disziplin an die einzige Frau heranmacht.

Ü berhaupt die Frauen! Ihre Herzen gehören - wie die Zukunft - nicht dem unangepaßten Schauspieler Alexander, sondern dem unerbittlichen Revolutionär Nikolaj. Die untadelige Arktis-Forscherin Jelisaweta bekennt sich ebenso zum letzteren wie die geheimnisvolle Angelina, die Alexander Briefe schickt, die aber eigentlich für Nikolaj bestimmt sind.

Der Roman ist ein Abgesang auf den von der neuen Eiszeit überholten Künstler, der übrigens mit einem Piloten abstürzt, der sich "leer geflogen" hat. Vieles spricht dafür, daß sich Pilnjak in dem zweifelnden Schauspieler und Sturzflugkandidaten selber porträtiert hat. Der Roman lebt von der schrillen Nachbarschaft verschiedenster Räume und Welten. Man merkt, wie sehr Pilnjaks Prosawerke von seinen Reportagen und Reiseberichten zehren. Pilnjaks persönliche Unrast machte ihn zu einem großen Reisenden, der 1924 tatsächlich an einer Arktis-Expedition teilnahm, 1926 die Mongolei, China und Japan bereiste, 1930 Mittelasien, 1931 die Vereinigten Staaten und 1932 nochmals Japan - was es Stalins Schergen so leicht machte, ihm das epochentypische Verdikt des "japanischen Spions" anzuhängen. Die Arktis-Schilderung, der Bericht vom Radiumbau im Ural und die Briefe aus Tadschikistan sprechen von Erlebtem und geben dem Roman Fülle und Farbe. Er schwelgt zuweilen in üppiger Exotik mit bizarren, surreal schillernden Details.

Am liebsten zelebriert Pilnjak den Zusammenprall von urtümlichen Ritualen mit der neuen Zeit. Die Ural-Völker haben eine nicht weniger mächtige Vergangenheit als die Tadschiken: "Das Volk der Permjaken hielt Mammutknochen für ,Munjan', für ,Brot der Erde', eine heilkräftige, heilige Mixtur, und ganze Dörfer gingen daran, die Mammutknochen zu verspeisen. Dort schlachteten die Permjaken und Komi am Tag des heiligen Frol für ihren Gott Stiere, wobei der orthodoxe Priester des Ortes das Schlachten übernahm - die Stiere wurden in Kesseln gekocht, gegenüber der orthodoxen Kirche." Die Zählebigkeit des Alten ist ein beständiges Thema Pilnjaks, und darin verbirgt sich keine gute Prognose für Sowjetmissionare und die bolschewikische Abschaffung der Vergangenheit. Ein schamanengläubiger Vertreter des Komi-Volkes wird vom Wissenschaftler Nikolaj mit Elektrizität, Radium und Flugzeug bekannt gemacht, doch diese Sowjetmaskottchen wirken lächerlich vor dem Hintergrund der beschworenen Kulturen und ihrer Zauberformeln.

Das Doppelgänger-Motiv haben in der russischen Literatur schon Dostojewski und Bulgakow ausgebeutet. Bei Pilnjak aber ist die Gespaltenheit der Personen überall. "Das Jahr 1917 hatte sein Leben gespalten", heißt es von Alexander Latschinow. Der vielgeprüfte Ehemann der mysteriösen tadschikischen Briefschreiberin und glühenden Kommunistin klagt es dem von ihr angehimmelten Revolutionär Nikolaj Latschinow: "Angelina lebte ein gespaltenes Leben, sie überließ mir den Alltag und den Körper und gab Ihnen die Seele und die Gedanken hin." Sie ist schließlich Nikolajs Spuren in die Arktis gefolgt und dort gestorben, wie der Ehemann dem Revolutionär mitteilt. Der aber lädt in einem Schlußtelegramm seine beiden Verehrerinnen Jelisaweta und Angelina ein, aus dem ewigen Eis zurückzukehren und mit ihm den Zerfall von Radium zu beobachten. Ist das nun eine Panne Pilnjaks, der in der Nervosität der Neumontage nicht bemerkt hat, daß er Angelina bereits hat sterben lassen? Tatsächlich aber gleicht Angelina der mumifizierten ägyptischen Frau - sie wäre also eine Wiedergängerin, eine Scheintote, und sie ist nicht die einzige.

Nikolaj weigert sich, am Begräbnis seines Bruders teilzunehmen, weil er bei der großen physischen Ähnlichkeit für seinen Bruder gehalten werden könnte. Er wäre sich "halbtot" vorgekommen, ja sogar "eingesargt", sagt dieser heroische Unterwerfer der Natur. Der Schauspieler Alexander Latschinow muß sterben, er hat keinen Platz in der neuen Zeit, aber das Halbtote und Scheinlebendige der "neuen sowjetischen Menschen" ist für Pilnjak ein ebenso bitteres Faktum. Gespaltene Leben allenthalben.

Boris Pilnjak: "Die Doppelgänger. Elf Kapitel eines klassischen Berichts". Roman. Herausgegeben und aus dem Russischen übersetzt von Dagmar Kassek. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1998. 280 S., geb., 42,- DM.

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