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Alberto Savinio (geboren 1891 in Athen, gestorben 1952 in Rom), der hierzulande vor allem durch seine Neue Enzyklopädie und sein großes Mailand-Buch Stadt, ich lausche deinem Herzen bekannt geworden ist, erzählt in seinem geistvoll unterhaltenden, kritisch funkelndem autobiographischen Roman von der Kindheit eines Italieners um die Jahrhundertwende in Griechenland.

Produktbeschreibung
Alberto Savinio (geboren 1891 in Athen, gestorben 1952 in Rom), der hierzulande vor allem durch seine Neue Enzyklopädie und sein großes Mailand-Buch Stadt, ich lausche deinem Herzen bekannt geworden ist, erzählt in seinem geistvoll unterhaltenden, kritisch funkelndem autobiographischen Roman von der Kindheit eines Italieners um die Jahrhundertwende in Griechenland.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.02.1996

Auf dem Rost
Alberto Savinio, ein Bürgerkind · Von Hubert Spiegel

Gerade fünfundzwanzig Jahre alt, veröffentlichte Alberto Savinio 1916 in der Zeitschrift "La Voce" eine programmatische Erklärung in eigener Sache: "Ich will nicht der Säugling sein, der an den Zitzen irgendeiner Wölfin hängt, weder der deutschen noch der französischen, noch der italienischen. Ich erfinde mir meine eigene Milch. Was für mich zählt, ist die absolute Unabhängigkeit der Ideen, des Geistes, des Handelns." Ein Jahr zuvor hatte der junge Komponist, der als Konzertpianist leidenschaftlich, expressiv und geradezu gewalttätig agierte - "Nach jedem Stück mußte man von den Tasten das Blut abwischen", heißt es in einer zeitgenössischen Kritik - sich von der Musik abgewandt und war nun mit den Vorarbeiten zu seinem ersten Roman "Hermaphrodito" befaßt.

Als ein Vierteljahrhundert später die autobiographische Schrift "Kindheit des Nivasio Dolcemare" erschien, hatte ihr Verfasser sich als Komponist, Musikwissenschaftler und Maler einen Namen gemacht, war als Schriftsteller mit Romanen, Essays, Theaterstücken und Übersetzungen hervorgetreten und hatte als Journalist unzählige Artikel für Zeitschriften und die Tagespresse geschrieben. Andrea de Chirico, der sein Pseudonym bei dem französischen Literaten und Übersetzer Albert Savine entliehen hatte, um der Verwechslung mit seinem drei Jahre älteren Bruder Giorgio zu entgehen, hatte lange in Paris gelebt; Freundschaften verbanden ihn mit Apollinaire, Picasso und Cocteau; André Breton sah in den Brüdern de Chirico die Erfinder des Surrealismus. Wie schreibt ein Mann, der sich aus Ungenügen an den vorhandenen Enzyklopädien eine eigene schuf, der an den wichtigsten avantgardistischen Bewegungen seiner Zeit regen Anteil hatte, aber immer bemüht blieb, in allem seine "eigene Milch" zu erfinden, wie schreibt ein solcher Mann seine Autobiographie?

Er beginnt klassisch. Wie Goethe wird Nivasio zur Mittagsstunde geboren. Aber während Goethe im zweiten Satz von "Dichtung und Wahrheit" die Konstellation der Sterne rekapituliert, beschreibt Savinio an gleicher Stelle die Anordnung der Kerzen im Geburtszimmer: "Fünf auf der einen, fünf auf der anderen Seite, standen die langen farbigen Stearinkerzen auf dem Sims des Kamins, bogen sich in den Bronzekandelabern und weinten lange dicke Zähren." Dem Bürgersohn waren zu Goethes Zeiten die Gestirne noch freundlich gesonnen. Dem italienischen Adelssproß, der kurz vor der Jahrhundertwende in Athen das Licht der Welt erblickt, leuchten die Kerzen wie zum Trauergeleit.

Dann geht es in Sprüngen weiter. Wenige Sätze später ist vom Ereignis der Geburt bereits als "Kerzenepisode" die Rede, als Gegenstand einer Anekdote, deren Überlieferung nach dem Tod der Eltern dem Sprößling zur "heiligen Pflicht" geworden ist. Wiederum eine Seite später dient der junge Nivasio als Soldat. Kurz darauf kehrt der Erzähler zum Geburtsvorgang zurück, nachdem er die Bedeutung des Milieus für den Helden seiner Erzählung und das Wesen seiner unauffälligen, verborgenen, geradezu "subkutanen" Besonderheit erklärt hat. Savinio, der zahlreiche Zeitungsartikel mit dem anagrammatischen Pseudonym Nivasio unterzeichnete, springt unablässig zwischen dem Helden und seiner Umgebung, dem einzelnen und der Gesellschaft hin und her. Von Anfang an erscheint Nivasio als völlig untypischer Vertreter einer Gesellschaft, die auf exemplarische Weise ihre Epoche verkörpert. Dahinter verbirgt sich Savinios Angst, er trage mehr Charakteristika seiner Klasse in sich, als er sich eingestehen will.

Das ambivalente Verhältnis Savinios zum Bürgertum wird nicht nur in seiner autobiographischen Schrift erkennbar. Savinio liebt die forsche Geste des Erneuerers, der Traditionen vom Tisch fegt, Stile verwirft und verbrauchte, ausgehöhlte Formen mit einem Schlag der flachen Hand zum Einsturz bringt. Aber unter dem Gewand des Bilderstürmers schlägt das Herz eines Sammlers und Liebhabers alter Dinge. Savinio ist ein humanistischer Avantgardist. Die Werte seiner Eltern, der "Tritonin Trigliona" und des "Kentauren Visanio", die Werte des alten, mürbe gewordenen "Saloneuropa", in dem sich abgehalfterte Adelige längst mit bürgerlichen Emporkömmlingen um Rang und Ansehen rangeln müssen, erscheinen dem jungen Nivasio schal und leer. Er verachtet die Welt, in die er hineingeboren wird, eine Welt von Diplomaten und Generalen, Fürstinnen und alternden Müßiggängern, unter denen ein Gogolscher Revisor mühelos seine Erfolge erzielt hätte.

Savinio legt den Haß auf das Bürgertum nie ganz ab, aber er wird in dem Maße zur Attitüde, in dem er die positiven Werte des Bürgertums schätzenlernt. Es ist ein Vorgang der Wiederaneignung, und Savinio bemächtigt sich dieser Werte erst, als sie herrenlos geworden sind - die Rückbesinnung auf das Ideal des Bürgers erklärt sich vor allem als Reaktion auf den Aufstieg der italienischen Faschisten und die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs. Acht Bücher entstehen in der ersten Hälfte der vierziger Jahre, und der "Nivasio Dolcemare" ist wohl das heiterste darunter, viel gelassener auch als der erste, 1937 erschienene Kindheitsroman "Tragödie der Kindheit".

Man könnte den "Nivasio Dolcemare" als fröhliches Divertimento zu einem der 205 Stichworte begreifen, die Savinios "Neue Enzyklopädie" behandelt, eine erst 1977, ein Vierteljahrhundert nach Savinios Tod veröffentlichte Sammlung kurzer stichwortartiger Zeitungskolumnen, die zwischen 1941 und 1948 an verschiedenen Orten erschienen waren. Was Savinio hier unter dem Stichwort "Bürgertum" bildungsschwer und nicht ohne Pathos zusammenträgt, mündet in eine Anklage gegen den Bürger, der dekadent, bequem und wollüstig sich am Unglück anderer weidet. Als Bürger definiert Savinio denjenigen, der nicht kämpft: "Der in keiner Hinsicht kämpft: Er kämpft nicht im Denken, er kämpft nicht im Handeln, er kämpft nicht in der Arbeit." Der Bürger ist für Savinio die Degenerationsform des antiken Städters, aber im Grunde wird hier, mit heiligem Eifer zwar, nur ein Gegensatz errichtet, wie er ähnlich im Französischen zwischen Citoyen und Bourgeois besteht.

In der Enzyklopädie erinnert sich Savinio, der sich 1915 als Kriegsfreiwilliger meldete, an die Verachtung, die der Soldat für den Bürger verspürt. Man liest diese Sätze heute mit Befremden und lächelt darüber, wenn man bedenkt, wie wenig heroisch Savinio seine Zeit unter den Soldaten im "Nivasio Dolcemare" geschildert hat: "Niemandem kam es je in den Sinn, daß man diesem so zerstreuten, so teilnahmslosen, so geistesabwesenden Gefreiten die absurdesten Aufgaben anvertrauen, die größten Opfer abverlangen könnte. Niemand begriff je, daß der Soldat Dolcemare zu allem bereit war." Also blieb der Soldat Dolcemare "ohne Verwendung".

Es gibt viele solcher Stellen, an denen Savinio ironisch bricht, was er an anderem Ort bis zum äußersten verteidigt. Selbst das verhaßte Bürgertum schrumpft im "Nivasio" zur "liebenswerten Kulisse". Und auch der Gestus, mit dem Savinio die "metaphysische Andersartigkeit" Nivasios beschwört, eine Andersartigkeit, die er für sich selbst stets mit Nachdruck in Anspruch nahm und die ihn zeitlebens dazu bestimmte, die "eigene Milch" zu erfinden, ist hier des öfteren ironisch kommentiert.

Wer die "Kindheit des Nivasio Dolcemare" als Künstlerroman lesen will, findet eine geraffte Fassung in der "Neuen Enzyklopädie". Unter dem Stichwort "Leben" beschreibt Savinio drei Etappen aus Nivasios Vita. Die erste Episode, die unmittelbar an den "Nivasio Dolcemare" anknüpft, zeigt den jungen Künstler als zum Äußersten entschlossenen Verfechter des Principium tormentorum, dem zufolge die schönste Frucht aus der größten Qual erwächst. Nivasio rät dazu, beim Schreiben stets eine "Torturhaltung" einzunehmen. Und weil Freiheit und Bequemlichkeit das Denken unweigerlich "verbürgerlichen", warnt er davor, eine unbequeme Stellung gegen eine bequemere zu vertauschen: "Die beste Stellung, um starke Gedanken hervorzubringen, ist die des Heiligen Laurentius auf dem Rost." Das ist der sendungsbewußte Ton des jungen Nivasio. Dann aber meldet sich der erfahrene Savinio zu Wort: "Nur genügt der Rost allein nicht, man muß auch denken können."

Alberto Savinio: "Kindheit des Nivasio Dolcemare". Aus dem Italienischen übersetzt von Sigrid Vagt. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1996. 152 S., geb., 22,80 DM.

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