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Von der NS-Zeit sprach Hermann Kurzkes Vater nie. Auch der Sohn, geboren 1943 in Berlin, hat ihn nicht gefragt. Von Beruf war der Vater Physiker, ließ privat Modellflugzeuge steigen und bastelte Maschinchen aller Art. Ab 1952 war er Manager bei den Farbwerken Hoechst. Er war sehr katholisch und in seiner Familie der erste, der eine Universität besuchte. Als der Vater 1982 starb, hinterließ er einen Schrank voller Akten, darunter Aussagekräftiges aus der NS-Zeit. Er war in der Wehrphysik tätig, deshalb im Krieg uk-gestellt und arbeitete, das zeigen die Akten des Reichspatentamts, sehr viel im…mehr

Produktbeschreibung
Von der NS-Zeit sprach Hermann Kurzkes Vater nie. Auch der Sohn, geboren 1943 in Berlin, hat ihn nicht gefragt. Von Beruf war der Vater Physiker, ließ privat Modellflugzeuge steigen und bastelte Maschinchen aller Art. Ab 1952 war er Manager bei den Farbwerken Hoechst. Er war sehr katholisch und in seiner Familie der erste, der eine Universität besuchte.
Als der Vater 1982 starb, hinterließ er einen Schrank voller Akten, darunter Aussagekräftiges aus der NS-Zeit. Er war in der Wehrphysik tätig, deshalb im Krieg uk-gestellt und arbeitete, das zeigen die Akten des Reichspatentamts, sehr viel im Bereich Zündung, aber zwischendurch auch an Kommunikationssystemen für Ein-Mann-U-Boote.
Hermann Kurzkes Buch ist mehr als eine Spurensuche. Es will das Schweigen brechen. Der große Germanist und Thomas-Mann-Biograph arbeitet nicht nur mit Dokumenten, sondern auch mit inneren Monologen, die natürlich erfunden sind, und mit fiktiven Gesprächen, die auch wirklich stattgefunden haben könnten. Das Ziel ist, ins Innerste einzudringen. Es gibt auch stumme Zeugen: Irgendwo im Haus hing immer ein Stich der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität, Symbol des Lebenstraums, Hochschullehrer zu werden. Irgendwo stand immer ein Quadrant aus der Zeit der Ein-Mann-U-Boote. Und es gab einen Wandteppich mit einem tröstlichen Bibelspruch, der aus einer Zeit der Arbeitslosigkeit stammte.
Autorenporträt
Hermann Kurzke ist Professor em. für Neuere deutsche Literatur an der Universität Mainz.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.08.2019

Das Schweigen brechen - ohne Abrechnung

Der Mainzer Literaturwissenschaftler Hermann Kurzke erzählt in seinem Vater-Buch die Geschichte eines Mitläufers.

Von Sylvia Schwab

Hortensien und hohe japanische Herbstanemonen blühen vor dem Haus und hinten im kleinen idyllischen Garten der Familie Kurzke in Mainz-Finthen. Gleich links hinter der Haustür stehen deckenhohe, selbstgebaute Bücherregale mit moderner Literatur. Zwei Regale voller ledergebundener Bände sind Blickfang im Wohnzimmer. Die meisten Bücher - um die 6000 - stehen allerdings in Hermann Kurzkes Arbeitszimmer unter dem Dach. Und die hat er schon lange nicht mehr in die Hand genommen. Denn der emeritierte Mainzer Germanistikprofessor erlitt vor drei Jahren durch einen schweren Sturz ein Schädel-Hirn-Trauma und verlor den Gleichgewichtssinn. Seitdem sitzt er im Rollstuhl.

Literaturinteressierte Leser der Frankfurter Allgemeinen Zeitung kennen Kurzke durch seine jahrelange Mitarbeit im Feuilleton als wachen Literaturkritiker und Autor der Zeitschriften-Schau. Sie blickte immer auch nach Osten in die Neuerscheinungen der damaligen DDR. Den Durchbruch brachte ihm dann seine Thomas-Mann-Biographie aus dem Jahr 1999. Von Rezensenten wurde sie durchgängig als "die beste", "maßstabsetzend" oder "grandios" beurteilt, Mann-Fans waren begeistert. Seit diesem Frühjahr steht Kurzke, der 1943 in Berlin geboren wurde, wieder im Fokus der literarischen Öffentlichkeit. Auslöser ist dieses Mal kein Sachbuch, sondern ein sehr persönlicher Text - sein Buch "Was mein Vater nicht erzählte" mit dem Untertitel "Geschichte eines Mitläufers".

Viele Autoren haben sich in den vergangenen Jahrzehnten mit ihren Vätern und deren Rolle in der Nazizeit auseinandergesetzt. Peter Härtling hat über seinen Vater geschrieben, Günter Seuren, Wiebke Bruhns, Peter Heinisch, Barbara Bronnen und andere haben es ebenfalls getan. Kritisch waren diese Bücher alle, die einen eher liebevoll, die anderen distanziert oder sogar ablehnend. Dass Kurzke erst vor ein paar Jahren begann, über seinen Vater zu schreiben, liegt daran, dass er es sich vorher nicht zugetraut hatte. "Er hat diese ganze Nazizeit komplett und konsequent verschwiegen", erzählt Kurzke: "1933 war er 23 Jahre alt und 1945 war er 35 Jahre alt. Das sind doch eigentlich die Jahre, in denen man wird, wer man ist. Wenn wir ihn gefragt haben: "Was hast du gemacht?", dann hat er gesagt: "Ich war in einem Forschungsinstitut für Physik." Da dachten wir uns nichts weiter dabei. Dass er zwölf Jahre Rüstungsforschung betrieben hat, hat er nie gesagt."

Nach dem Tod des Vaters im Jahr 1982 entdeckte die Familie einen Schrank voll mit Unterlagen aus der NS-Zeit. Die hatte der Vater bewusst nicht vernichtet, meint Kurzke heute. Obwohl er häufig umgezogen war und sie dann immer wieder in die Hand nehmen musste. Als habe der Vater gewollt, dass seine Kinder später doch noch erfahren, wie er die zwölf Jahre zwischen 1933 und 1945 verbracht hatte. Vater Herbert Kurzke hatte Glück gehabt, war als "uk" eingestuft worden, als unabkömmlich, weil er an der Perfektionierung deutscher Waffensysteme arbeitete, neue Bombenzünder entwickelte und in einer geheimen Abteilung den maximalen Effekt von Detonationen erforschte. Nach dem Krieg war er vorübergehend arbeitslos, von 1952 an war er Manager bei den Farbwerken Hoechst und ging als "Spartenleiter Faserbetriebe im Vorstand der Farbwerke Hoechst AG" in Frankfurt in den Ruhestand.

Wütend oder enttäuscht war der Sohn nicht über die Entdeckung im Schrank, aber doch sehr irritiert. Unzählige Fragen hätte er seinem Vater gerne gestellt. "Und dann denke ich: Auf seine Art hat er nur gemeint, das zu tun, was man von ihm verlangte. Er glaubte, seine Pflicht zu tun. Ich fand es interessant, vor allem, weil ich so eine gute Quellenlage hatte. Selten kann man das Leben eines Menschen so genau rekonstruieren, wie ich das konnte." Weil er den Wunsch hatte, seinen Vater zu verstehen, begann Kurzke zu recherchieren und über ihn zu schreiben. Veröffentlicht hat er seine Aufzeichnungen dann, weil der Vater "als Typus" interessant gewesen sei: "Der Typus des Menschen, der, ohne an die Nazi-Ideologie zu glauben, doch mitgemacht hat. Der war entscheidend für das Funktionieren der Sache. Und der bleibt aktuell."

Eine geeignete Form zu finden sei ihm nicht schwergefallen, sagt Kurzke. Das Buch wurde ein lebendiges Mosaik aus Fakten und Zitaten, Protokollen und Berichten einerseits und literarischen Bausteinen wie Selbstgesprächen, Dialogen, Geständnissen und Imaginationen. Kein statisches Ganzes, sondern eine lockere Komposition, eine Spurensuche in vielen tastenden Anläufen. Kurzke wollte das Schweigen brechen, aber keine Abrechnung, die Zuneigung des Sohnes für den Vater blieb ungebrochen. Sie gipfelt in dem kleinen Satz "Ich hab dich lieb". Kurzke hat ein strahlendes, jungenhaftes Lächeln und spricht langsam, konzentriert und einfach. Man spürt, er hat jahrzehntelang jungen Menschen gezeigt und erklärt, was ihm selbst wichtig war, und sie durch seine Ausführungen begeistert und zum Weiterlesen angeregt. 1962 begann er in München mit dem Studium der katholischen Theologie, nahm dann die Germanistik dazu, ging nach Würzburg und wurde mit einer Arbeit über Thomas Mann promoviert, zu dem er "eher zufällig" kam. Ein Schulfreund hatte ihm eine schöne Ausgabe des "Doktor Faustus" geschenkt, weil er meinte, für Kurzke als Theologiestudenten sei der Theologiestudent Adrian Leverkühn eine interessante Figur.

Stand Kurzke als junger Student eher links, unter dem Einfluss Adornos und der Studentenbewegung, so änderte sich sein Verhältnis zu Mann im Laufe des Studiums: "Als ich angefangen habe, war Thomas Mann in vieler Hinsicht negativ besetzt. Er war der Eitle und der Bügelfaltenautor, der übergepflegt war und überbürgerlich." Entsprechend "fertigmachen" wollte Kurzke Mann in seiner Dissertation. Doch es kam anders: Der in vielem so konservative Großschriftsteller und sein Werk faszinierten den links orientierten Studenten so sehr, dass aus der geplanten Abrechnung eine kritische Würdigung wurde. Manns Werk entwickelte sich in den folgenden Jahrzehnten zu Kurzkes Lebensthema. Neben der Dissertation und der großen Biographie schrieb er eine Monographie über Epoche, Werk und Wirkung Thomas Manns, gab dessen Essays und die "Betrachtungen eines Unpolitischen" heraus und skizzierte ein lockeres Thomas-Mann-Porträt "für seine Leser".

Dass Kurzkes Mann-Biographie ein so großer Erfolg wurde, hängt unmittelbar mit dem Erscheinen der Tagebücher zusammen. "Tagebücher sind ja die entscheidende Quelle für eine Biographie", erklärt er: "Wir haben Tagebücher von 1918 bis 1923 und von 1933 bis 1955. Und da stand ja vieles drin, wovon man vorher keine Ahnung hatte. Das heißt, alle frühere Literatur war biographisch gesehen wertlos. Das Zweite war, ich habe durch die Tagebücher entdeckt, dass das dichterische Werk vollsteckt von geheimen biographischen Informationen." Glück und Spürsinn kamen da zusammen. "Ich wollte etwas Neues finden" sagt er rückblickend, "herauskommen aus dem Bann dessen, was man textimmanente Interpretation nannte. Das fand ich Quatsch, das Biographische war viel interessanter. Da konnte ich an einem wichtigen Gegenstand ausformulieren, was mir bisher gefehlt hatte in meinem Fach."

Kein Wunder, dass Kurzke in seiner Büchner-Biographie aus dem Jahr 2013 diesen Ansatz weiterverfolgte. Als Sozialrevolutionär und politischer Autor war Büchner eine der Leitfiguren der linken Germanistik gewesen, Kurzke bürstete ihn kräftig gegen den Strich. Er entdeckte - wieder kam der Theologe zum Zuge -, dass es in Büchners Werk "nur so wimmelt" von religiösen Anspielungen. "Das wollten die Leute nicht sehen", erklärt er, "die wollten lieber ihren linken Büchner." Entsprechend kritisch reagierten viele Rezensenten. So hat Kurzke - provozierend und alte Lesegewohnheiten in Frage stellend - mit seinen beiden Biographien selbst ein Stück Germanistikgeschichte geschrieben. Er entdeckte biographische Informationen in literarischen Texten und deutete Texte mit Hilfe biographischer Bezüge. Wichtig war ihm dabei immer, klar und verständlich zu schreiben und über den Tellerrand seines Faches hinauszublicken, ob methodisch oder thematisch.

Knapp zwanzig Bücher hat Kurzke geschrieben oder herausgegeben, die Bibliographie mit allen seinen Vorträgen und Veröffentlichungen ist 13 DIN-A4-Seiten lang. In seinem 77. Lebensjahr schaut er auf ein erfülltes Berufs- und Forscherleben zurück, in dem er sich als bekennender Katholik auch noch einem sehr speziellen Thema zugewandt hat: der Hymnologie, der Erforschung des Kirchenlieds und historischer Gesangbuch-Ausgaben.

In Mainz fühlt er sich seit vielen Jahren zu Hause. "Mainz ist eine interessante Stadt, wie das Rhein-Main-Gebiet insgesamt. Frankfurt ist schön, und das neue Frankfurt gefällt uns auch gut", sagt er schmunzelnd. Früher fuhr er mit seiner Frau und seinen drei Kindern oft nach Rheinhessen, heute lieber zum Weinkaufen oder Weintrinken in den Rheingau. Beide Anbaugebiete liegen ja fast vor der Tür.

Ein Thema liegt Kurzke besonders am Herzen. Die Germanistik, begründet im 19. Jahrhundert, schleppt seiner Meinung nach noch immer ein nationalistisches Erbe mit sich herum. Ihre Zukunft liegt für ihn in einer europäisch ausgerichteten Literaturwissenschaft. Nationalliteraturen seien heute nicht mehr voneinander zu trennen, internationale Netze und Übersetzungen schafften so viele Verbindungen, dass Germanistik, Skandinavistik und Anglistik sich irgendwann überlebt hätten. Natürlich seien viele institutionelle Hindernisse zu überwinden, bis an deutschen Universitäten eine europäische Literaturwissenschaft fest etabliert sei. Mindestens eine Generation werde es noch dauern, bis man das geschafft habe: "Wenn man es überhaupt will."

Es verwundert nicht, dass das Buch, an dem Kurzke gerade arbeitet, kein germanistisches ist, sondern ein allgemein literaturwissenschaftliches. "Ich bin ja jetzt im Ruhestand, ich muss nicht mehr für das Fach oder mein Fortkommen schreiben", sagt er. "Literaturwissenschaft für Liebhaber" lautet der Arbeitstitel, es ist für alle Menschen gedacht, die Literatur gerne etwas genauer lesen und verstehen lernen möchten. Ein "Grundkurs über die Sprachgrenzen hinaus", der sich seine Beispiele "querbeet" in den verschiedensten Sprachen und Epochen sucht.

Rezensionen von Kurzkes Veröffentlichungen weisen immer wieder darauf hin, wie gut lesbar seine Bücher auch bei anspruchsvoller Gedankenführung sind. Das hängt auch mit seinem Humor zusammen. Der ist in seinen Biographien ebenso spürbar wie im Gespräch: "Ich lege großen Wert darauf, dass ab und zu gelacht werden kann. Ich glaube, ein Mensch muss in möglichst allen Gefühlslagen wahrgenommen werden von Literatur. Und wenn ich selbst schreibe und mitbekomme, dass an einer Stelle meines Textes gelacht wird, dann denke ich: Ja, das war richtig."

Man darf sich Kurzke als einen glücklichen Menschen vorstellen, trotz seiner Einschränkungen. Denn in seinem Werk wie in seinem Leben ist es ihm gelungen, Literatur, Theologie, Religiosität und Biographisches auf organische Weise miteinander zu verbinden. Auf die Frage, warum man überhaupt lesen solle, egal ob Büchner, Mann oder Kurzke, antwortet er, dass Literatur dem Leser die Fragwürdigkeit des Lebens klarmache: "Und Leser, die sich bewusst sind, dass sie Fragen haben, werden auch irgendwann eine Literatur finden, die ihnen diese Fragen beantwortet."

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"Eine Meditation über den Begriff des Mitläufers."
SWR 2 Lesenswert, Alexander Wasner

"Atemberaubend spannend (...) hochauthentisch (...) unbedingt lesenswert."
hr2 Kultur, Hans Sarkowicz

"Kurzke ist ein Buch gelungen, das nicht nur packend erzählt, sondern aufgrund seines persönlichen Ausmaßes ebenso berührend ist. Darüber hinaus lässt es sich als exemplarische Studie der Abermillionen Mitläufer in der Nazizeit lesen und vermittelt dadurch einen Erkenntniswert, der sicherlich auf einer Stufe mit den Ergebnissen so mancher rein wissenschaftlich-historiografischer Untersuchungen steht."
literaturkritik.de, Rafael Arto-Hausmacher

"Er nähert sich seinem Vater nicht nur auf Grundlage der gefundenen Schriftstücke, sondern auch mithilfe fiktiver Gespräche und innerer Monologe (...) der Balanceakt gelingt."
Neue Zürcher Zeitung, Holger Heimann