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Siri Hustvedt, die Autorin solcher internationaler Bestseller wie "Was ich liebte" und "Der Sommer ohne Männer", war schon immer fasziniert von der Biologie und der Theorie der menschlichen Wahrnehmung. Sie liebt die Kunst, die Geistes- und die Naturwissenschaften gleichermaßen. Sie ist Romanautorin und Feministin. Die im vorliegenden Band versammelten, ebenso klarsichtigen wie radikalen Essays legen eindrucksvoll Zeugnis von ihren vielfältigen Talenten ab. Der erste Teil untersucht die Fragen, die mitbeeinflussen, wie wir Kunst und die Welt im Allgemeinen sehen und beurteilen: Fragen der…mehr

Produktbeschreibung
Siri Hustvedt, die Autorin solcher internationaler Bestseller wie "Was ich liebte" und "Der Sommer ohne Männer", war schon immer fasziniert von der Biologie und der Theorie der menschlichen Wahrnehmung. Sie liebt die Kunst, die Geistes- und die Naturwissenschaften gleichermaßen. Sie ist Romanautorin und Feministin. Die im vorliegenden Band versammelten, ebenso klarsichtigen wie radikalen Essays legen eindrucksvoll Zeugnis von ihren vielfältigen Talenten ab. Der erste Teil untersucht die Fragen, die mitbeeinflussen, wie wir Kunst und die Welt im Allgemeinen sehen und beurteilen: Fragen der Wahrnehmung, Fragen des Geschlechts. Grundlagen dieser Diskussion sind etwa Werke von Picasso, de Kooning, Jeff Koons, Louise Bourgeois, Anselm Kiefer, Robert Mapplethorpe, Susan Sontag und Karl Ove Knausgard. Der zweite Teil befasst sich mit neurologischen Störungen und, unter anderem, mit den Rätseln von Hysterie und Synästhesie sowie mit der Selbsttötung. In letzter Zeit wird oft gefordert, man müsste eine neue, stabile Brücke zwischen Geistes- und Naturwissenschaften bauen. Im Moment existiert nur eine behelfsmäßige, aber Siri Hustvedt fühlt sich ermutigt von den Reisenden, die sie in beide Richtungen überquert haben. "Eine Frau schaut auf Männer, die auf Frauen schauen" ist eine einsichts- und eindrucksvolle Bestandsaufnahme dieser Reisen.
Autorenporträt
Siri Hustvedt wurde 1955 in Northfield, Minnesota, geboren. Sie studierte Literatur an der Columbia University und promovierte mit einer Arbeit über Charles Dickens. Bislang hat sie sieben Romane publiziert. Mit 'Was ich liebte' hatte sie ihren internationalen Durchbruch. Zuletzt erschienen 'Die gleißende Welt' und 'Damals'. Zugleich ist sie eine profilierte Essayistin. Bei Rowohlt liegen von ihr die Essaybände 'Nicht hier, nicht dort', 'Leben, Denken, Schauen', 'Being a Man', 'Die Illusion der Gewissheit'  und 'Eine Frau schaut auf Männer, die auf Frauen schauen' vor.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.03.2019

Weiß Siri Hustvedt wirklich alles?
Neue Essays und ein neuer Roman der Amerikanerin

Was hat es zu bedeuten, wenn die Schriftstellerin des Romans, um den es hier geht, die Initialen mit denen eines berühmten Detektivs teilt, der gleichzeitig der Spitzname einer ihrer Erfindungen ist, und darüber hinaus mit einem Begriff, in dem sie unzählige Figuren aus unzähligen anderen Romanen zusammenfasst? S. H. - wie Siri Hustvedt, wie Sherlock Holmes, wie der Standard-Held, der manchmal auch USH ist, unser Standard-Held?

Zunächst bedeutet es, dass es einiges zu lachen gibt in diesem Buch. Dass Identitäten fließend gehalten werden, dabei aber ausdrücklich zu unterscheiden bleibt zwischen Autorin, Erzählerin und Figur (auch wenn sie alle denselben Namen tragen) und dass von einem üblichen Erinnerungsbuch, wie es der deutsche Titel "Damals" vermuten lässt, nicht die Rede sein kann. Der Originaltitel ist präziser: "Memories of the Future" (Erinnerungen an die Zukunft) heißt er, und ungefähr darum geht es, wenn das, worum es in diesem Buch geht, überhaupt in einem einzigen Satz dingfest zu machen wäre.

Die junge Frau, die 1978 in Manhattan ankommt, auf der Suche nach dem Helden ihres ersten Romans (der Ian heißt, Arthur Conan Doyles S. H. nacheifert und kein anderer Standard-Held werden soll), aber auch auf der Suche nach Abenteuer (und nicht nach Bequemlichkeit oder Glück), diese Dreiundzwanzigjährige wusste, dass sie zu einem Ort unterwegs war, "der nicht viel mehr war als eine schimmernde Fiktion: die Zukunft".

Was im Ton so vieler Memoiren beginnt, setzt sich fort in mehreren Erzählungen anderer Art. Da ist einmal die Frau in ihren Sechzigern, die dieses Buch schreibt, während ihre 94-jährige Mutter langsam das Gedächtnis verliert. Beim Umzug der Mutter aus ihrem Haus in ein Heimzimmer findet die Autorin ein altes Notizbuch: ihre eigenen Aufzeichnungen aus jenem Jahr 1978/79, in dem sie nach New York kam, auf der Suche nach ihrem Romanhelden und Abenteuern. Angesprochen wird darin die "liebe Seite" und aufgeschrieben, was am Tag passierte, in der Stimme der jungen Frau, aus der fünfzig Jahre später jene Siri Hustvedt geworden ist, die dieses Buch schreibt. Zitiert wird auch der Roman um Ian und Isadora, an dem sie damals arbeitete, eine Detektivgeschichte und gleichzeitig eine Geschichte über erstes sexuelles Begehren und das Teenagerleben in einer amerikanischen Kleinstadt wie jener, in der Hustvedt aufgewachsen ist. Das klingt dann so: "Im Haus der Simons waren die sprichwörtlichen ,Hosen', an die er so inbrünstig glaubte, von ihrem rechtmäßigen, wenn auch behinderten Eigentümer weggewandert und hatten sich am Unterkörper einer Person eingefunden, die nicht befugt war, sie zu tragen - Frau Simon nämlich."

Schon in dieser Geschichte klingt Siri Hustvedts Interesse am Verhältnis der Geschlechter an, an Rollenzuweisungen, Rollenklischees, lachhaften Annahmen über die Natur der Frau oder wenigstens ihr Wesen, und der beißende Sarkasmus, mit dem sie die Sache angeht, ist auch schon da.

Außerdem tauchen in dem Notizbuch kleine Zeichnungen auf, Cartoons, von denen einer auf den Buchumschlag von "Damals" gewandert ist: eine nackte Frau, die mit ausgebreiteten Armen hoch am Himmel schwebt, hinter sich das Empire State Building und in der einen Hand ein Messer, das sie wie eine Fackel trägt, das Gesicht dem Wind entgegengestreckt, ihr Haar nach hinten verweht. Das Messer spielt eine entscheidende Rolle in diesem Buch, und es hat einen Namen: "die Baroness". Auch mit der Baroness hat es natürlich eine besondere Bewandtnis. Sie entwickelt sich zu einer Art Schutzheiligen der jungen Frau, im Geiste zumindest, und es hat sie wirklich gegeben. Es handelt sich um die Baroness Elsa von Freytag-Loringhoven, Künstlerin als Urpunk, als "Ihr-könnt-mich-mal-Aufrührerin, die mit Vogelkäfigen auf dem Kopf und Scheinwerfern auf den Hüften posierte und Gedichte schrieb wie Heulen und Rülpsen, das tief aus dem Zwerchfell kam". Aber in New York gab es keine Spur von ihr, obwohl sie doch diejenige war, die Marcel Duchamp einst das signierte Urinal schickte, das später "Fountain" genannt und eines seiner vermeintlich berühmtesten Readymades wurde. Siri Hustvedt schreibt die Geschichte der Baroness, die ihren Kopf rasierte und rot lackierte, in ihre eigene Geschichte ein, gerade so, als wäre sie Zeitgenossin und nicht seit fünfzig Jahren tot.

Siri Hustvedt erzählt von unterschiedlichen Orten und Zeiten aus. Von "heute" und "damals" und aus Zwischenzeiten, es gibt Spiegelungen der Kindheit in anderen Erzählungen, die sich mit der, die wir als autobiographische Erinnerung lesen können, verknoten. Die junge Frau, die wie Siri Hustvedt aus Minnesota nach New York kommt und deshalb von ihren Freunden Minnesota genannt wird, bezieht ein ärmliches Apartment an der Upper West Side in der Nähe der Columbia University. Sie ist zunächst allein, so dass die Geräusche, die aus der Nachbarwohnung zu ihr dringen, zu einer Obsession werden. Es sind nicht einfach störende Signale in einem hellhörigen Haus, vielmehr haftet ihnen etwas Dramatisches an. Eine Frau jammert "bin tau bin tau", was Minnesota bald als "bin traurig" entschlüsselt. Die Nachbarin, Lucy, singt das lange hintereinander und immer wieder. Diesem Mantra fügt sie schließlich Bruchstücke einer Geschichte um den Tod ihrer Tochter hinzu, der möglicherweise ein Unfall, ein Selbstmord oder auch ein Mord war. Auf jeden Fall kreisen die im Singsang geäußerten Erzählfetzen Lucys um einen gewalttätigen Mann, der inzwischen fort ist. Je länger Minnesota, bald mit einem Stethoskop ausgerüstet, belauscht, was in der Nachbarwohnung vor sich geht, desto umfangreicher wird Lucys Geschichte. Unerwartet schiebt sich sozusagen von der Seite eine neue Figur mit einer eigenen Geschichte in die Erzählung hinein, die ganz anders begann. Weitere Frauen treten auf, ein Hexenkreis, wie sich herausstellt, von Frauen mit spirituellen Fähigkeiten.

Gleichzeitig wird Minnesota Teil einer Clique von Freunden, der Fünferbande, von der vor allem zwei wichtig werden, Whitney und Fanny. Und es wird eine "Bücherschlacht" geschlagen, mit Jonathan Swift und einer Menge anderer Dichterinnen, Wissenschaftlerinnen und Gelehrter. Hustvedt hat, wie Minnesota, weite Landschaften des Denkens durchmessen und Gebirge von Irrtümern überstiegen, um dort anzukommen, wo sie "ich" sagt und "ich" meint und dieses Ich dennoch von der Erzählerin zu unterscheiden vermag, die der Leserin am Ende dieses Buchs "den Schlüssel" übergibt. Den Schlüssel wozu? Wohin führt die Tür, die das Schloss verschließt, zu der dieser Schlüssel passt? In dem alten Detektivromanfragment führt sie zum betrunkenen Vater von Isadora, der im Keller schläft, während draußen ein Schneesturm tobt. Doch könnte dieser Schlüssel nicht auch ein Messer sein, wie jenes, das Minnesota "die Baroness" getauft hat und das die nackte Figur auf dem Titel in den Himmel reckt?

"Damals" jedenfalls könnte den Untertitel des dicken Essaybands "Eine Frau schaut auf Männer, die auf Frauen schauen" tragen, der gleichzeitig erschienen ist: "Über Kunst, Geschlecht und Geist". Man kann die beiden Bücher parallel lesen. Auszugsweise sollte man das vielleicht auch tun: hin und her springen von einem Essay über Freud und Hustvedts eigene Psychoanalyse ("Im Raum"), von Fragen der Übertragung und Gegenübertragung und was sie mit dem Schreiben zu tun haben, zurück zu Minnesota. Siri Hustvedt als Essayistin, Wissenschaftlerin und Romanautorin gleichzeitig zu lesen macht sie allerdings tatsächlich momenthaft zu der "Riesin", die Minnesota werden wollte, als sie in der New York Public Library saß und sich "den Kopf mit der Weisheit und Kunst aller Epochen füllte", wie es in "Damals" heißt. Eine Riesin, die einen langen Schatten auf die Leserin wirft.

Hätte die deutsche Ausgabe der Essays nicht den Mittelteil des Originals weggelassen (dieser Teil ist unter dem Titel "Die Illusion der Gewissheit" in Deutschland schon im vergangenen Jahr erschienen), wäre aus dem Schatten ein Beil geworden, das auf die Leserin niederfährt und sie erschlagen zurückließe.

Inhalt und Form, Gefühl und Vernunft, Körper und Seele, Mann und Frau - das sind beengende Gegenüberstellungen und Abgrenzungen, denen Siri Hustvedt sowohl in der Kunst wie auch in ihrem Nachdenken über sie (etwa am Beispiel der Frauendarstellungen von Picasso, Beckmann und de Kooning, um die es in dem Titelessay dieser Sammlung geht) widerstehen will. Und denen sie sich in "Damals" erzählerisch zu entziehen sucht, etwa indem sie den Frauen Eigenschaften gibt, die zumindest damals noch "männlich" konnotiert waren, und indem sie die Grenzen der Vernunft ins Spirituelle weitet, ohne einem Hokuspokus aufzusitzen. Die Welt von Minnesota aber bleibt eine, in der ein kluger Einwurf der jungen Frau vom Tischnachbarn mit herablassendem Nicken und dem Satz kommentiert wird: "Komisches Mädchen".

"Damals" mit seinen verschiedenen Erzählsträngen und -ebenen ist eine Reflexion nicht nur über Frauen in einer Männerwelt, sondern vor allem über die Zeit und über das Schreiben. Ironisch, witzig, komplex, tiefgründig und manchmal erstaunlich flach, analytisch, liebevoll, zum Heulen, in essayistischen Passagen oft auch zu lang. Mit einer Beinahe-Vergewaltigung, die sich im zweiten Teil des Buchs als Schlüsselszene erweist, aber literarisch ohne Raffinement eingebaut wirkt. Mit ein paar Verweisen zu viel auf andere Bücher, auf umfassende Bildung, auf die Bibliotheken des Wissens und die Weiden der Erkenntnis, die Hustvedt sich erlesen und abgegrast hat.

Siri Hustvedt umkreist in ihrem erzählenden Nachdenken über die Zeit auch die Frage, was es mit dem Jetzt auf sich hat, das so ganz anders ist als die Vergangenheit oder ein Morgen, "dieses Jetzt, das Einstein so beunruhigte". Lässt sich Gleichzeitigkeit erzählen? Eine historische Figur wie die Baroness in die Gegenwart holen? Braucht es dafür die Literatur, oder brächte auch die Physik das fertig? Oder die Hexen?

Die Zukunft jedenfalls ist nicht nur die Zeit, die vor der 23-jährigen Minnesota liegt, sondern auch der Raum, der durchmessen werden will, um an der Position anzukommen, von der aus Siri Hustvedt heute über sie schreibt. Deren Erinnerungen wiederum flottieren durch die Zeiten und können sich unter Umständen sekundenhaft in ein wahres, ein jetziges Gefühl verwandeln, "in ein wildes, rohes, gefährliches Glücksgefühl", wie sie es in einer bestimmten Situation damals empfunden haben mag. Womit Hustvedt bei der Frage landet, was Zeit eigentlich ist? Zeit, die sie sich "ohne räumliche Metaphern" nicht vorstellen kann, "nicht ohne Rückwärts und Vorwärts", obwohl es in Minkowskis vierdimensionaler Raumzeit möglich sein müsste, dass sie ihrem früheren Selbst begegnet, dass sie eine Gleichzeitigkeit herstellen könnte zwischen den unterschiedlichen Personen, die sie im Laufe ihres Lebens gewesen ist und auf die sie von heute aus schaut. So wie ihre Mutter zwar das Gedächtnis verliert, sich aber den Augenblick, indem sie das Siri zum ersten Mal in ihrem Bauch spürte, unmittelbar vergegenwärtigen kann.

Siri Hustvedt hat dieses Buch nicht aus der Position der allwissenden Erzählerin geschrieben. Aber eine allwissende Autorin ist sie schon. Auf Seite 425 schreibt sie nämlich, was diese Kritikerin hier hätte schreiben wollen und was in fast denselben Worten in ihren Notizen stand, geschrieben lange bevor sie Seite 425 erreicht hatte, sie las: "Dieses Buch ist ein Porträt der Künstlerin als junge Frau, der Künstlerin, die nach New York kam, um zu leben, zu leiden und ihren Kriminalroman zu schreiben. Wie der Meisterdetektiv, der ihre Initialen teilt, S. H., sieht, hört und riecht die Schriftstellerin die Hinweise. Die Zeichen sind überall - in Gesichtern, am Himmel, in Büchern. Ein Brief wird unter einer Tür durchgeschoben. Ein Messer kommt mit der Post. Geräusche von Schritten hallen auf der Straße und im Eingang. Sie dreht den Schlüssel im Schloss." Die Tür, die sie öffnet, führt ins Reich der Gleichzeitigkeit von Wissen, Erlebtem, Erlesenem und Gefühl. Ins Reich der Fiktion also, das aus Erinnerungen gebaut ist.

VERENA LUEKEN

Siri Hustvedt: "Damals". Roman. Aus dem Englischen von Uli Aumüller und Grete Osterwald. Rowohlt, 448 Seiten, 24 Euro

Siri Hustvedt: "Eine Frau schaut auf Männer, die auf Frauen schauen: Essays über Kunst, Geschlecht und Geist". Rowohlt, 528 Seiten, 26 Euro

Die Autorin liest am 8. 4. in Hamburg, am 9. 4. in Frankfurt, am 11. 4. in Berlin und am 12. 4. in München.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.04.2019

Hier ein zeitloses Kernselbst
Die Schriftstellerin Siri Hustvedt testet ihre intellektuellen Einsichten in verschiedenen Genres. In ihrem Roman „Damals“ und dem Essayband „Eine Frau schaut
auf Männer, die auf Frauen schauen“ denkt sie weiter über ihr zentrales Thema nach: die Gebundenheit des Denkens an den Körper
VON MEIKE FESSMANN
Eine nackte Frau fliegt fast senkrecht in den Himmel, mit weit geöffneten Armen, verzücktem Gesicht und gezücktem Messer. Im Hintergrund, ungefähr auf der Höhe ihrer behaarten Scham, erkennt man die Spitze des Empire State Building. Die kleine, beinahe naive, auf jeden Fall aber glückselige Zeichnung begleitet neben anderen Zeichnungen der Autorin den neuen Roman von Siri Hustvedt. Im gerade erschienenen Original heißt er „Memories of the Future“, in der deutschen Übersetzung von Uli Aumüller und Grete Osterwald „Damals“. Der Rowohlt Verlag hat die Zeichnung, die am Ende des Romans abgedruckt ist, wie im amerikanischen Original aufs Cover gehoben, zusätzlich aber in ein orange unterlegtes, eiförmiges Passepartout gepackt. Das passt.
Siri Hustvedt, 1955 in Minnesota geboren und seit vielen Jahren in Brooklyn lebend, hat ein Werk geschaffen, dessen intellektuelle Brillanz eng mit einem umfassenden Konzept von Leiblichkeit verbunden ist. Auf verschiedensten Wegen hat sie erkundet, wie sich der Dualismus von Geist und Körper überwinden lässt. Dass er selbst in den Neurowissenschaften noch regiert, die dazu neigen, das Gehirn zum Subjekt zu erklären, statt es als Organ zu behandeln, zeigt sie in einem der komplexen und zugleich gut verständlichen Texte ihres Sammelbandes. „Eine Frau schaut auf Männer, die auf Frauen schauen“ enthält „Essays über Kunst, Geschlecht und Geist“ aus den Jahren 2011 – 2015.
Siri Hustvedt fährt schon lange zweigleisig, was ihr literarisches und ihr essayistisches Schreiben betrifft. Sie versteht den Roman explizit als „wunderbares Vehikel für neue Ideen“. Das schreibt sie in „Die Illusion der Gewissheit“, einem großen Essay über das Geist-Körper-Problem, der auf Deutsch schon 2016 erschienen ist – als eine Art Single-Auskopplung aus der amerikanischen Originalausgabe von „A Woman Looking at Men Looking at Women.“ Auch den Roman „Damals“ sollte man als solch ein Vehikel betrachten, um Vergnügen daran zu haben.
Hustvedt liebt es, ihre intellektuellen Einsichten in verschiedenen Konstellationen durchzuspielen und auf ihre Haltbarkeit zu überprüfen. Ihr letzter Roman, „Die gleißende Welt“, war eine Art Performance in Romanform. An einer Louise Bourgeois nachgebildeten Künstlerin führte sie da vor, wie stark der Kunstmarkt immer noch von Männern und ihren Werken dominiert wird, die viel teurer gehandelt werden als die von Frauen.
„Damals“ ist eine autofiktionale Selbsterkundung. Siri Hustvedt nimmt ihr junges Ich in Augenschein. Und sie spielt dabei Philosopheme durch, die sie seit Jahren beschäftigen. Zum Beispiel die Idee, dass es keine Erinnerung ohne Imagination gibt, und dass jedes Aufrufen einer Erinnerung diese zugleich modifiziert. Zumal sie an der jungen Frau, die sie selbst war, einiges verändert (die Anzahl der Schwestern, den Beruf des Vaters), kann sie sich also darauf verlassen, dass die hochgewachsene Dreiundzwanzigjährige, die im Sommer 1978 von Minnesota nach New York kommt, nicht mit ihr selbst identisch ist.
Im Lauf unseres Lebens werden wir jemand anderes. Was aber bleibt gleich? Gibt es einen inneren Kern, ein „körperliches, affektives, zeitloses Kernselbst“, wie Siri Hustvedt das nennt? In welchem Verhältnis steht es zum „zeitlichen Selbst“, wie es sich in der Narration und im autobiografischen Gedächtnis artikuliert?
Hustvedt arbeitet an einer weiblichen Sicht der Wissensgeschichte, in der be-stimmte Phänomene bisher unterbelichtet sind. Beispielsweise die Tatsache, dass der Mensch sein Leben eben nicht in heroischer Einsamkeit beginnt, wie die Philosophiegeschichte glauben machen will, sondern im Leib der Mutter und nach der Geburt in ständiger, zunächst nonverbaler Zwiesprache mit ihr oder einem nahen anderen.
Die Plazenta als übersehenes Organ hat vor ihr schon Peter Sloterdijk im ersten Band seiner „Sphären“-Trilogie entdeckt. Dort ist sie das erste taktile Gegenüber in der embryonalen Entwicklung, das gemeinsam mit dem werdenden Säugling in der Resonanzblase des Uterus schwebt, in der die Bewegungen und Geräusche des Mutterleibs die erste Erfahrung einer geschützten Sphäre bilden. Von seiner bisher größten philosophischen Entdeckung ist Sloterdijk mittlerweile weit abgedriftet.
Eine Schriftstellerin wie Siri Hustvedt hat dagegen stärkere Gründe, das Konfliktfeld zwischen Resonanzphänomenen und Geltungsbedürfnissen als unteilbares Terrain zu betrachten. Sie ist mit dem Schriftsteller Paul Auster verheiratet. Und es kann ihr schon mal passieren, dass sie auf einer Abendgesellschaft gefragt wird, ob sie ihre profunden Kenntnisse in Neurologie ihrem Mann zu verdanken habe. Oder dass der Schriftstellerkollege Karl Ove Knausgård auf offener Bühne zu ihr sagt, Frauen seien „keine Konkurrenz“.
Hustvedt gehört zu den wenigen Menschen, die sich aus eigenem Antrieb einen interdisziplinären Überblick über verschiedene Fachgebiete erarbeitet haben. Seit ihrem Buch „Die zitternde Frau. Die Geschichte meiner Nerven“, in dem sie quer durch unterschiedliche Forschungsgebiete dem merkwürdigen Zittern auf die Spur kommen wollte, das sie zum ersten Mal im Mai 2006 bei einer Gedenkrede auf ihren zwei Jahre zuvor gestorbenen Vater ergriff, wird sie als Vortragende zu neurologischen und psychiatrischen Fachkongressen eingeladen. Auch „Damals“ ist ein Mosaikstein in der Geschichte ihrer Wissbegierde – und zugleich ein Roman über männliche Herablassung und Gewalttätigkeit.
Von wenigen Zeitsprüngen bis in die Gegenwart der Trump-Ära abgesehen, spielt „Damals“ in der Spanne eines guten Jahres, von August 1978 bis September 1979. Die aufs damalige „Jetzt“ konzentrierte Geschichte ist angelegt wie eine Guckkastenbühne, deren Komplexität zunimmt. Das kann man sich wie Louise Bourgeois’ „Cells“ vorstellen. In gewisser Weise ist sie ganz von innen heraus erzählt, wohl mit dem Blick der älteren Frau auf ihr junges Ich, aber im Versuch, die Innenwelt einer Frau nachzubilden, die aus dem ländlichen Minnesota ins Abenteuer New York aufbricht. Ihr Stipendium hat sie um ein Jahr verschoben, um ihren ersten Roman zu schreiben, eine Detektivgeschichte um zwei Jugendliche, die sie niemals abschließen wird. Lebt die junge S. H., wie die Erzählerin ihren Namen abkürzt, zunächst alleine in ihrem Appartement und belauscht die Stimme ihrer Nachbarin, die offenbar Schlimmes hinter sich hat, so verwandelt sich das akustische Höhlengleichnis bald in ein Porträt der jungen Frau inmitten der intellektuellen und erotischen Verlockungen New Yorks Ende der 70er-Jahre.
Bei einer Lesung des näselnden John Ashbery lernt sie Whitney kennen, eine Künstlerin und Dichterin, die sie auch in andere „Privaträume“ führt. Schnell erweitert sich ihr Radius, schon geht es in Galerien, zu Vorlesungen, die Nächte tanzt sie im Studio 54 und in anderen Clubs durch. Koks kommt nicht infrage, Alkohol ebenso wenig. Sie hat nicht einmal genug Geld, um sich Essen zu kaufen. Aber sie ist jung und neugierig, und sie hat wie ihre Freundin das natürliche Selbstvertrauen einer Frau, die sich sicher ist, dass die Welt auf sie wartet. Zunächst sind es vor allem die Männer. Meist starren sie auf ihren Busen, wenn sie spricht. Und irgendwann begreift sie, vielleicht auch nur durch das Bewusstsein ihres älteren Ichs, dass sie nicht wirklich an ihrem Intellekt interessiert sind, sondern an ihrem Körper.
Ihre Liebhaber schwadronieren über Foucault, Derrida, Deleuze und Guattari und es ist selbstverständlich für sie, sich in die Bücher zu vertiefen. Aber seltsam, umgekehrt interessieren sich die an den Lippen Paul de Mans hängenden, von Batailles Überschreitungsgesten faszinierten Heroen überhaupt nicht für das, was sie interessiert.
Schließlich kommt es zu einer Beinahe-Vergewaltigung in ihrer Wohnung. Weil sie den Mann, von dem sie nur den Vornamen kennt, nicht demütigen will, lässt sie sich Stufe für Stufe von einer Party heimbegleiten. Erst ins Taxi, dann bis zur Haustür und schließlich bis zur Wohnung – und schon ist er drin. Auf ihre Bitte, wieder zu gehen, reagiert er nicht. „Doch selbst auf Deutsch zitiert, hilft Wittgenstein rein gar nichts, wenn ein Mann dich gegen eine Bücherwand schleudert.“ Wochenlang geht ihr das Erlebnis nach. Erst als sie die „verbalen Waffen“ gegen ein Springmesser tauscht, fühlt sie sich wieder sicher. Es beschert ihr ein „wildes, rohes, gefährliches Glücksgefühl“. Offenbar ist es das Messer, das die Frau auf dem Cover verzückt in den Himmel reckt.
Nicht nur in ihren Romanen, auch in ihren Essays vertritt Siri Hustvedt eine Weltsicht, in der die Leiblichkeit des wahrnehmenden und denkenden Subjekts die Voraussetzung für jede Art von Intelligenz und Kreativität ist. Dabei kombiniert sie die Erkenntnisse der Phänomenologie mit neurowissenschaftlichen Forschungen. Über Molekulargenetik und Epigenetik denkt sie ebenso nach wie über die Tatsache, dass Emotionen niemals fiktiv sein können, auch wenn wir sie empfinden, während wir ein fiktives Werk lesen. In den Debatten über künstliche Intelligenz ist ihre Position klar: gleichgültig, mit wie vielen Daten man vernetzte Rechner oder humanoide Roboter füttert, sie bleiben ein „armseliges Gerät“, das Gefühle zwar vortäuschen, aber nicht empfinden kann.
In seinem neuen Buch „Die Mechanik der Leidenschaften“ über den Aufstieg der kognitiven Neurowissenschaft seit den 1990er-Jahren widmet der Soziologe Alain Ehrenberg Siri Hustvedts neurologischer Selbsterkundung ein eigenes Kapitel. „Die zitternde Frau“ ist womöglich ihr wirkmächtigstes Buch: eine Verbindung zwischen den Geistes- und Naturwissenschaften, die durch den eigenen Körper verläuft.
Kann passieren, dass sie gefragt
wird, ob sie ihre Kenntnisse
ihrem Mann zu verdanken habe
Koks kommt nicht infrage, sie
hat nicht einmal genug Geld, sich
Essen zu kaufen. Aber sie ist jung
Emotionen sind nicht fiktiv, auch
wenn wir sie beim Lesen
eines fiktiven Werks empfinden
Siri Hustvedt: Damals. Roman. Mit Zeichnungen der Autorin.
Aus dem Englischen
von Uli Aumüller und Grete Osterwald.
Rowohlt Verlag,
Reinbek 2019.
448 Seiten, 24 Euro.
Siri Hustvedt: Eine Frau schaut auf Männer, die auf Frauen schauen.
Essays über Kunst,
Geschlecht und Geist.
Aus dem Englischen
von Uli Aumüller und Grete Osterwald. Rowohlt Verlag, Reinbek 2019.
528 Seiten, 26 Euro.
„Doch selbst auf Deutsch zitiert, hilft Wittgenstein rein gar nichts, wenn ein Mann dich gegen eine Bücherwand schleudert.“ In ihrem jüngsten Roman blickt Siri Hustvedt, geboren 1955, auf sich selbst als junge Frau. Foto: mauritius / Martina Bocch
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Das Panorama der Blicke offenbart nicht nur eine kluge Schriftstellerin, die auf Männer schaut, die auf Frauen schauen, sondern tiefe Einsichten in die verwirrende Komplexität der menschlichen Psyche und die Unwägbarkeiten unserer Existenz. Andrea Köhler Neue Zürcher Zeitung 20190302