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Sophie Calle findet ein Adressbuch und kopiert die Seiten daraus, bevor sie es anonym an den Besitzer, einen gewissen Pierre D., zurückgibt. Dann beginnt sie, zu denen, die in dem Buch verzeichnet sind, Kontakt aufzunehmen, sie trifft sich mit D.s Familie, Freunden, Bekannten, Affären. Mit jeder Begegnung wird Pierre D. plastischer und zugleich undurchdringlicher, Calles Recherche verkompliziert sich zusehends, während sie versucht, die schiere Vielzahl von Details - scheinbar Triviales wie potentiell Aufschlussreiches - zu dem bündigen Porträt eines Unbekannten zu fügen. Und im Lauf ihrer…mehr

Produktbeschreibung
Sophie Calle findet ein Adressbuch und kopiert die Seiten daraus, bevor sie es anonym an den Besitzer, einen gewissen Pierre D., zurückgibt. Dann beginnt sie, zu denen, die in dem Buch verzeichnet sind, Kontakt aufzunehmen, sie trifft sich mit D.s Familie, Freunden, Bekannten, Affären.
Mit jeder Begegnung wird Pierre D. plastischer und zugleich undurchdringlicher, Calles Recherche verkompliziert sich zusehends, während sie versucht, die schiere Vielzahl von Details - scheinbar Triviales wie potentiell Aufschlussreiches - zu dem bündigen Porträt eines Unbekannten zu fügen. Und im Lauf ihrer Nachforschungen hat Sophie Calle auch die eigenen Motive, Obsessionen und Ängste zu hinterfragen.
Sophie Calle hat diese Begegnungen mit den Menschen aus D.s Adressbuch in Text und Bild dokumentiert, 1983 erschienen diese Dokumentationen einen Monat lang als Serie in der französischen Tageszeitung Libération. Und lösten einen handfesten Skandal aus, der bis heute nachhallt.

Was interessiert uns an anderen? Und was verbirgt sich hinter unserem Interesse? Charakterstudie, Bekenntnis, Essay, Konzeptkunst - Sophie Calle unternimmt eine voyeuristische Abenteuerreise durch das Adressbuch eines Fremden und erfindet eine Form, in der Leben und Kunst, Rolle und Identität, Vertrautes und Unbekanntes ineinander zu oszillieren beginnen.
Autorenporträt
Sophie Calle, geboren 1953, ist eine international renommierte Künstlerin mit einem methodischen Interesse an Überschreitung und Tabubruch, in ihren häufig autobiographischen, häufig kontroversen Arbeiten verschränkt sie Konzeptkunst mit oulipotischen Formenzwängen. Sie ist, in Paul Austers Worten, »eine unorthodoxe Frau, die ihr Leben einer Reihe ebenso ausgeklügelter wie bizarrer Privatrituale unterwirft. Manche nennen sie eine Fotografin, andere sehen in ihr eine Vertreterin der Konzeptkunst, wieder andere halten sie für eine Schriftstellerin, aber keine dieser Bezeichnungen erfasst sie auch nur annähernd.« Calle lebt in Malakoff bei Paris.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 26.11.2019

Wolke in Hosen
Im Juni 1983 fand die Künstlerin Sophie Calle in Paris ein Adressbuch. Sie recherchierte und beschrieb das
Leben des Besitzers in Zeitungskolumnen. Ein Skandal aus den Jahren vor der digitalen Durchsichtigkeit
VON ALEX RÜHLE
Anfang Dezember 2008 veröffentlichte das französische Magazin Le Tigre einen Text, der als „Google-Porträt“ überschrieben war und in dem ein Architekt aus Nantes, den es tatsächlich gibt, direkt angesprochen wurde. Das Magazin erschien an dem Tag, an dem der Mann Geburtstag hatte und begann, als schreibe Big Brother einen Brief: „Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Jules! Wir dürfen doch Jules sagen, oder? Du kennst uns zwar nicht, aber wir wissen extrem viel über dich.“ Daran schloss sich ein nahezu lückenloses Porträt dieses Mannes. Aus Texten und Fotos, die er auf Portalen wie Facebook und Flickr gepostet hatte, konnte sein Musikgeschmack genauso beschrieben werden wie seine Hobbys und Reisen, sein Tätigkeitsbereich in einem Architekturbüro in der Umgebung von Nantes sowie viele Details über sein Intimleben. Der Mann war geschockt, wollte das Magazin zunächst verklagen, merkte dann aber, dass er damit wenig Erfolg haben werde – schließlich hatte er all das selbst geteilt.
Der Fall von „Pierre D.“ liegt sehr anders. Und ist doch im Vergleich interessant. Im Juni 1983 fand die junge Künstlerin Sophie Calle in Paris ein Adressbuch. Sie kopierte es und schickte es kommentarlos an seinen Besitzer Pierre D. zurück. Dann rief sie nach und nach die im Adressbuch enthaltenen Nummern an und bat die Menschen, die ans Telefon gingen, sich mit ihr zu treffen, damit sie selbst sich ein Bild des unbekannten Besitzers machen könne. Die aus den Anrufen resultierenden Treffen goss sie in pointierte Kolumnen, die den August über in der Tageszeitung Libération abgedruckt wurden. Der Suhrkamp-Verlag gibt sie nun erstmals auf Deutsch heraus.
Sophie Calle hatte Glück mit ihrem Fund. Pierre D. war anscheinend eine so liebenswerte wie interessante Person. Die Menschen, die bereit waren, über ihn zu sprechen, zeichnen das Porträt eines freundlich-exzentrischen Vogels, der recht ziellos durch sein Leben und den Kulturbetrieb von Paris driftete: Pierre D. lebt zum Zeitpunkt des Experiments alleine in einer abenteuerlich vollgekruschten Wohnung, er schreibt immer wieder neue Drehbücher mit Titeln wie „Die Geschichte vom getriebenen Fleisch“, drückt sich umständlich und gewählt aus, scheint äußerst gutmütig zu sein, liebt die Filme von Lubitsch und Jerry Lewis, wollte in seinen jungen Jahren Ägyptologe werden, erinnert die einen an „eine Figur aus einem Kinderbuch“, andere an einen „shakespearehaften Charakter“. Er gleiche einer „Wolke in Hosen“, sagt eine Frau, und ergänzt, er sei „der Typ Mensch, der sogar von einem Computer vergessen werden würde“.
Spätestens bei diesem Satz muss jeder, der noch einen Rest Empathie im Leib hat, sich fragen, ob er solche Aussagen über sich selbst gerne in einer der größten Tageszeitungen Europas lesen möchte. Die Frage wird umso dringlicher, als nach rund drei Wochen ein enger Freund erzählt, Pierre D. neige dazu, romanhafte Geschichten zu erzählen, „in denen er immer die Rolle des vom Pech verfolgten Opfers spielt“. Es drängt sich zudem der Verdacht auf, dass Pierre D. zuweilen zu Paranoia und Manien neigt. Hätte Calle nicht hier ihr Projekt abbrechen müssen? Sie schreibt mehrfach selbst, Schuld- oder Schamgefühle würden sie umtreiben, wischt das aber jedes Mal sofort wieder weg: Das Experiment sei einfach zu spannend.
Noch viel mehr Glück hatte Calle mit ihrem Experiment insofern, als Pierre D., kurz bevor die Textserie begann, nichtsahnend nach Nordnorwegen aufgebrochen war, wo er mehrere Wochen lang einen Workshop gab. Da das Ganze lange vor der Erfindung des Internets stattfand, erfuhr er erst nach seiner Rückkehr von den 29 voyeuristischen Texten über sich. Er war empört und veröffentlichte einen offenen Brief in Libération, in dem er schrieb, wie verletzt er sei. Calle habe zwar weder seine genaue Adresse noch seinen Nachnamen preisgegeben, aber jeder, der ihn auch nur entfernt kenne, wisse, dass es sich um ihn handelt. Aus Rache hatte er sich ein Nacktbild von Calle besorgt und die Zeitung gezwungen, dieses Bild nun im Gegenzug zu seinem Text zu veröffentlichen.
Schon diese unbeholfene Art der Rache zeigt, wie ungleich die Machtverhältnisse waren: Calle spielte in ihrem Werk von Anfang an mit Grenzüberschreitungen, Indiskretionen und der Frage nach den Grenzen des Privaten. Sie hatte eine Weile als Stripperin gearbeitet und Bilder davon veröffentlicht. Was macht da also ein Nacktbild von ihr? Im Grunde vervollständigt es nur ihr Werk, in dem es immer wieder um die Grenze von Privatheit geht. Pierre D. aber fühlte sich missbraucht. Man kann es ihm auch 35 Jahre später kaum verdenken, im Gegenteil, eigentlich kommt man aus dem Staunen nicht heraus, wie eine seriöse Tageszeitung seinerzeit bei solch einem Projekt mitmachen konnte.
Natürlich ist das Ganze ästhetisch apart. Alles beruhte auf einem Zufallsfund. Und es war anfangs auch reiner Zufall, bei wem die Reise in Richtung Pierre D. beginnen sollte. Diese Kontingenz paarte Calle in ihren Texten mit pedantischer Akribie. Ähnlich einem Privatdetektiv traf sie täglich eine Person, vermerkte Name und Uhrzeit des Treffens und gab dem Ganzen so den Anstrich von behördlich-protokollarischer Strenge. Wer mag, kann das kurzschließen mit der oulipotischen Konzeptkunst, bei der am Anfang stets eine strukturelle Spielregel stand. Die kommentarlos dazu gezeigten Fotos werfen zudem immer wieder die Frage auf, was eigentlich auf solchen Zeitungsbildern zu sehen ist. Zeigt das erste Foto wirklich das gefundene Adressbuch? Hat Calle es tatsächlich so gefunden? Pittoresk neben einem Bistrotischchen? Und die Frau auf unserem zweiten Bild? Ist das nicht Sophie Calle? Geradezu symbolhaft ausgestellt und zugleich verhüllt? Was ist hier dokumentarisch, was Fiktion?
Wie auch immer, im Zentrum dieses Werks steht ein Mensch, der nie gefragt wurde, was er vom Experiment rund um seine Identität hält. Pierre D., der in Wahrheit Pierre Baudry hieß, verfügte, dass das Werk zu seinen Lebzeiten nicht mehr gezeigt oder gedruckt werden darf. Er arbeitete als Dokumentarfilmer und verstarb 2005. In all den Jahren dazwischen gab es nur eine fiktionale Spur des Werks: Paul Auster setzte Sophie Calle ein Denkmal, indem er in „Leviathan“ eine Künstlerin namens Maria Turner auftreten lässt, die lauter Werke konzipiert hat, in denen sie über die Fragen nach Privatheit und Diskretion, nach Identität und Öffentlichkeit fragt. Eines der darin beschriebenen Werke heißt „Das Adressbuch“.
Mittlerweile darf „Das Adressbuch“ gezeigt werden und so hat Suhrkamp es nun in der eleganten Übersetzung von Sabine Ebitsch veröffentlicht. Sophie Calle scheint das Ganze bis heute nicht zu bereuen. „Das einzige Werk, wo ich zu weit gegangen bin, ist ,Das Adressbuch’“, sagte sie 2009 in einem Interview. „Aber ich würde es wieder machen – der Reiz ist einfach sehr viel größer als das Schuldgefühl“.
Heute hat kaum noch jemand ein analoges Adressbuch. Weil wir all unser Nummern und Freunde digital speichern. Facebook und Google wissen, wen wir kennen, wann wir Kontakt aufnehmen, worüber wir sprechen. Und so ist „Das Adressbuch“ bei all seiner sinistren Instrumentalisierung eines Privatmenschen mittlerweile zu einer fast rührend antiquierten Allegorie geworden. Wir alle sind heute viel durchsichtiger, als Pierre D. es jemals war.
Sophie Calle: Das Adressbuch. Aus dem Französischen von Sabine Erbrich. Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 105 Seiten, 22 Euro.
Pierre D. schien „der Typ Mensch,
der sogar von einem Computer
vergessen werden würde“
Sie würde, sagt sie, wieder zu weit
gehen: „Der Reiz ist einfach sehr
viel größer als das Schuldgefühl“
Hat Sophie Calle das Adressbuch tatsächlich so gefunden? Pittoresk neben einem Bistrotischchen? Und die Frau auf dem zweiten Bild? Ist sie das?
Foto: Sophie Calle/Abb. aus dem bespr. band
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.01.2020

In der Falle der Flaneurin

Spionin im eigenen Auftrag: Sophie Calles Nachforschungen über einen Unbekannten sind heute so beunruhigend wie zur Zeit ihrer Entstehung in den achtziger Jahren.

Sie ist eine der prominentesten Künstlerinnen der Gegenwart. Berühmt gemacht haben Sophie Calle, 1953 in Paris geboren, die von ihr inszenierten Nachstellungen, Recherchen und Schnüffeleien in den Leben und in den Privatsphären anderer Menschen, wobei sie selbst sich nicht ausnimmt. Das betreibt sie, die sich am ehesten eine Konzeptkünstlerin nennen lässt, an den Schnittstellen von Text und Fotografie zu ihrer eigenen Person, die immer Maskerade ist, in der Grauzone von Realität und Fiktion. Sie schlich sich als Zimmermädchen in ein Hotel in Venedig ein und durchsuchte die persönlichen Dinge der Gäste. Bei der Biennale in Venedig 2007 ließ sie die angebliche E-Mail, mit der sich ihr Lebensgefährte von ihr getrennt hatte, von mehr als hundert Frauen verlesen und deuten.

Ihren bis heute am meisten umstrittenen Coup landete sie Anfang der Achtziger: Es war eine Serie von Artikeln, die in der französischen Tageszeitung "Libération" veröffentlicht wurde, zwischen dem 2. August und dem 4. September 1983; sie geriet zum Skandal unter dem Titel "L'homme au carnet". Als "Das Adressbuch" sind diese Kolumnen jetzt auf Deutsch erschienen, 36 Jahre später. Sie habe, schreibt Sophie Calle im Vorwort zur deutschen Ausgabe, Ende Juni 1983 in der Rue des Martyrs in Paris ein Adressbuch gefunden. Der Name der Straße im 9. Arrondissement von Paris klingt beinah wie ein kryptischer Hinweis, Straße der Märtyrer. Sie habe das Buch, so schon der Auftakt in "Libération" damals, komplett kopiert und dann anonym an seinen Besitzer zurückgeschickt. Die darin genannten Personen werde sie, so die Ankündigung, anrufen und ihnen sagen: "Ich habe auf der Straße zufällig ein Adressbuch gefunden. Ich habe darin Ihren Namen gesehen und möchte Sie gerne treffen." Sie werde diese Personen bitten, ihr vom Besitzer des Adressbuchs zu erzählen: "Mit der Zeit werde ich ihn kennenlernen. Er heißt Pierre D."

Zunächst einmal geht es, jedenfalls scheinbar, um die Obsession einer Flaneurin. Die Zufälligkeit des Projekts, das als Kunstaktion zu gelten hat, soll auch ein Foto beglaubigen, das ein stark benutztes carnet am Fuß eines Bistrotischchens liegend zeigt. Die Frage nach dem Wahrheitswert dieser Fotografie stellt sich unmittelbar. Auch deshalb trifft Sophie Calles heute nachgerade veraltet analog anmutende Methode noch immer einen empfindlichen Nerv. Die Gefährlichkeit liegt im Gedanken der Observation, obwohl - oder vielleicht gerade weil - die Zielperson selbst außen vor gelassen, aber durch die Aussagen Dritter eingekreist wird. Die Anmutung des stalking drängt sich auf, wenn die Schnüfflerin eine Verliebtheit in "Pierre D." früh anklingen lässt: "Als hätte er gewusst, dass ich noch nicht bereit war, ihm gegenüberzutreten", kommentiert sie am 10. August 1983 ein Foto, das ihr einer der Befragten gegeben haben soll. Darauf blicken vier Personen in die Kamera, nur "Pierre D." dreht ihr den Rücken zu. Dass Calle später in Interviews ihre Verliebtheit in ihn bekräftigt, gehört dazu, wie ein Nachspiel auf dem Theater.

"Das Adressbuch" ist eine tatsächlich unheimlich spannende Lektüre. Obwohl die Kolumnen sich meistens als sachliche Gesprächsprotokolle ausgeben, handeln sie nur auf den ersten Blick von oberflächlichen Alltagsinformationen in Berufs- und Liebesdingen. Er "wäre ein abgeklärter Marx Brother, ein abgeklärter Clown"; dass er an einem Filminstitut arbeitete, ein Drehbuchautor sei; dass er einen Film drehen wollte, der "Passage der Lust" heißen sollte; dass er "sehr witzig, ein Verführer" war, sich aber schnell aus diesem Spiel zurückzog. Der zweite Blick aber macht argwöhnisch, ein Freund von "Pierre D." sagt: "In seiner Persönlichkeit hat sich etwas herausgebildet, was man eine ,dreckige Seite' nennen könnte", und: "Die Liebe ist für ihn ein aussichtsloses Unterfangen." Ob sich das nicht auch über seine Nachstellerin sagen ließe, fragt man sich unwillkürlich. Die obendrein das unerhörte Glück hatte, dass sich "Pierre D." während ihrer Recherchen angeblich weit weg, im Norden Norwegens, aufhielt.

Nicht leicht zu glauben ist da, dass keine der befragten Personen jemals bei ihm in Tromsø angerufen haben sollte. Von Calle ist dazu keine verlässliche Auskunft zu erwarten. Einziger Hinweis könnte sein, dass sie in der vorletzten Kolumne schrieb: "Ich frage mich, ob Pierre schon von unserer Geschichte weiß, ob er es mir übelnehmen wird." Im Nachwort schreibt sie nun: "Er nahm es mir übel. Und teilte mir das ebenfalls in der ,Libération' mit. Er beklagte sich nachdrücklich über mein Verhalten, das Eindringen in seine Privatsphäre, er sagte, wie sehr er verletzt sei, und versah seine Replik mit einer Unterschrift und einer Nacktfotografie von mir, die er sich auf meine Art beschafft hatte. Es nahm ein böses Ende. Auch wenn er damit im Grunde meine Erzählung beglaubigte. Ich habe ihn nie getroffen."

Und wie "Pierre D." es ihr übelnahm! Es ist deshalb bedauerlich, dass seine Replik in der "Libération" vom 28. September 1983, die er mit seinem wahren Namen Pierre Baudry unterzeichnete, in dem schmalen Band nicht enthalten ist. Baudry ließ danach jede weitere Publikation der Kolumnen zu seinen Lebzeiten juristisch untersagen; gestorben ist er im Februar 2005. Tatsächlich ist seine Reaktion mit der Überschrift "Droit de réponse à Sophie Calle" und dem Titel "Calle, calepin, calembredaines" (Calle, Notizbuch, Albernheiten) schwer auffindbar. Doch wer recherchiert - damit übrigens schon in der Calle-Falle gefangen - wird fündig.

Baudry konterte extrem scharf, über seine "Antwort" stellte er das private Foto einer jungen Frau, die nackt mit übereinandergeschlagenen Beinen in einem Stuhl sitzt, hinter ihr an der Wand eine große Collage mit der Frontfigur von Ingres' "Türkischem Bad". Dazu schreibt er, frei übersetzt: "Da ja Sophie Calle Fotografin ist, möchte ich kurz für sie das Bild hier kommentieren; es ist mir gelungen, es vor einigen Tagen in der Rue des Martyrs zu finden, gemacht wurde es von dem Fotografen Patrice B.; merkwürdig genug ist die Anspielung auf den Fundort seines Fotos, Rue des Martyrs."

Was soll das? Zunächst gibt es der Spekulation Nahrung, die ohnehin im Raum steht: dass es sich bei dem grenzwertigen Hasard um ein, wenigstens teilweise abgekartetes, Spiel gehandelt haben könnte. Wie sonst konnte Baudry zu dem Foto kommen, das angeblich Sophie Calle zeigt und nicht von einem ihrer früheren Striptease-Auftritte stammt? Hinzu kommt, dass Calle auf diese Art womöglich genau das bekommt, was sie als Verfolgerin provozieren wollte. Baudry stellt öffentlich eine nackte Frau gegen einen in Maßen bloßgestellten Mann, der auf den Fotos zum "L'homme au carnet" nie erkennbar ist. Das grenzt zumindest an Sexismus. Angemerkt sei noch: Das Gesicht der jungen nackten Frau, von der Baudry erbost vermutet, ihr Lächeln wäre ihr im umgekehrten Fall schon vergangen, hat "Libération" zu einer weißen Fläche gemacht. Die Redaktion erläutert das mit ihrer Sorgfaltspflicht. Jedenfalls entspricht es den Weißflächen auf einem der Bilder in Calles Kolumne.

"Das Adressbuch" machte sie bekannt; zweifellos ist es das Dokument einer in den Medien so zuvor nicht dargestellten Übergriffigkeit. Ist das also Kunst? Dafür spricht die literarische und fotografische Qualität. Dahinter steht das intellektuelle Konzept einer Dekonstruktion, exerziert am lebenden Objekt; im selben Zug konstruiert Calle ihre eigene Autorschaft. Dies geschieht vor dem Hintergrund, dass "L'homme au carnet" in die hohe Zeit französischer Theoriebildungen fällt, für die das Modell intakter Identität unter Generalverdacht steht. Das abendländische Subjekt wird nurmehr als sujet begriffen, das den Diskursen von Macht unterworfen ist; der Sprache kommt dabei eine entscheidende Funktion zu. Genau diese Denkbewegungen spiegelt 1983 Sophie Calles Intervention, nicht zuletzt als Frau, in den öffentlichen Diskurs par excellence. Es macht sie zum unhintergehbaren Zeitzeugnis.

ROSE-MARIA GROPP

Sophie Calle: "Das Adressbuch".

Aus dem Französischen

von Sabine Erbrich.

Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 105 S., Abb., geb., 22,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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»Sophie Calles Das Adressbuch ist eine Erkundung darüber, ob es überhaupt etwas bedeutet, jemanden zu kennen.« DIE WELT 20191221