Im Jahre 1969 schrieb Peter Handke ein Stück mit dem Titel Das Mündel will Vormund sein, ein Stück ohne Worte. Mehr als zwanzig Jahre später knüpft der Autor an diese Form an. Der Hauptakteur des neuen Stücks ist ein Platz, und Leser und Betrachter erleben ihn als den Ort eines Schau-Spiels im wörtlichen Sinn. Schauend erleben sie, wie auf diesem Platz, der realen Charakter hat, zugleich aber ein beliebiger Platz irgendwo sein könnte, etwa zwölf Akteure die alltäglichsten Dinge und das Besondere spielen. Jedermann ist hier zu sehen in seinem typischen Verhalten, aber auch in seinen besonderen Merkmalen. Die Begegnungen zwischen den einzelnen intensivieren sich, sie nehmen teilweise burleske Züge an - teilweise hat es für den Schauenden den Anschein, als ob sie zu einem Volk zusammenwachsen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.02.2008Als wär's ein Stück London
Handkes "Stunde da wir nichts voneinander wussten" schlägt im National Theatre
LONDON, 11. Februar
Wie die phantomhaften, perspektivisch verzerrten Kulissen in den Bildern von Giorgio de Chirico bietet sich im Londoner National Theatre jener freie Platz im hellen Licht dar, dem in Peter Handkes stummem Drama "Die Stunde da wir nichts voneinander wussten" die Hauptrolle zukommt. Kalkige Mauern, klare Konturen, stechendes Licht beschwören in Hildegard Bechtlers Bühnenbild die traumverzerrte und -verlorene Atmosphäre metaphysischer Gemälde.
Dieser Platz ist die Bühne des Lebens. Auf ihm sind alle Frauen und Männer nur Spieler. Sie treten aus engen Gassen, Gullylöchern und Haustüren in Erscheinung und gehen wieder ab ins Nichts - liebende, streitende, winselnde, schimpfende, vor Glück strahlende, vom Unglück niedergeschlagene, sterbende, wahnsinnige, neurotische, vergessliche, kopfschüttelnde, gelangweilte, märchenhafte und stinknormale Menschen, junge Schönheiten, ehrgeizige Geschäftsmänner, gaffende Touristen, Straßenfeger, biblische und mythische Gestalten, Postboten, von Halluzinationen Verfolgte, der zwischendurch ein paar Züge einer Zigarette erhaschende Koch, gekrümmte Tattergreise, deren ganzer Lebensinhalt sich auf die Überwindung der Hürden des Alltags reduziert.
Der Zuschauer wird zum Beobachter einer rätselhaften menschlichen Komödie. In unzähligen kleinen Vignetten erlebt er die aberwitzig-reale Chronik einer eines langen, kurzweiligen Tages Reise in die Nacht, erfasst auf sechzig Seiten Regieanweisungen, in die jeder hineinlesen kann, was ihm gefällt. Aus dem seltsamen Tun und Treiben der vierhundertfünfzig von siebenundzwanzig Schauspielern verkörperten Personen ergibt sich ein surreales Bild.
Handkes Stück, das 1992 in Wien uraufgeführt wurde, kommt in England zum ersten Mal in einem professionellen Theater heraus. Der "Daily Telegraph" vermeldete diesen Umstand nicht nur auf der ersten Seite, widmete ihm auch einen dumm frotzelnden Leitartikel, der sich, allerdings nicht ganz zu Unrecht, darüber mokierte, dass das National Theatre eine neue Übersetzung des wortlosen Stückes von Meredith Oakes besonders hervorhebt. Ein Windstoß fegt Papier auf den Platz, ein ferngesteuertes Auto braust auf die Bühnenmitte, mustert das Publikum, schlägt die Rückwärtsrichtung ein, setzt mit Vollgas wieder den Vorwärtsgang ein und rammt eine Hauswand, bevor es sich kleinlaut verkriecht, wie ein gescholtener Hund mit eingezogenem Schwanz. Ein Landarbeiter in blauem Kittel und Gummistiefeln sät aus einem Blecheimer sorgfältig Asche auf dem Platz. Ihm folgt ein Mann, der, eine Wiege auf dem Kopf balancierend, über den Platz tänzelt. Wie in einem Slapstickfilm versucht der Straßenkehrer des vom Wind verwehten Zeitungspapiers Herr zu werden. Sobald er glaubt, es in seiner Schaufel eingefangen zu haben, kommt eine Bö und hebt die Fetzen wieder weg, bis der Feger schließlich seinen Windmühlenkampf aufgibt.
Ein Geschäftsmann holt aus den Taschen mit der feierlichen Bestimmtheit des Zauberers eine Jakobsmuschel, ein Kreditkarten-Leporello, einen Frauenstrumpf, einen Taschenrechner, ein Lebkuchenherz und andere Kuriositäten, die er dann alle sorgfältig wieder verstaut, bis auf einen Apfel, in den hineinbeißend er wieder seines Weges geht. Ein alter Mann torkelt in weißem Nachthemd und Strümpfen mit einer brennenden Kerze daher, die ihm ein anderer kaltschnäuzig ausbläst. Lauter Metaphern der Vergeblichkeit.
In London entdeckt der Regisseur James Macdonald hinter Handkes flüchtigen Menschenbeobachtungen skizzenhafte Biographien. Will die Frau etwa, die den eiligen Schrittes ins Büro schreitenden Mann vergeblich einfangen will, sich nach einem Streit noch schnell versöhnen, oder hat sie bloß vergessen, ihm etwas auszurichten? Die Flugzeugbesatzung wartet mit ihren Rollkoffern ungeduldig auf einen Kollegen, der offensichtlich nicht zum ersten Mal zu spät kommt, ein traumatisierter alter Mann hält sich beim Sirenengeheul die Ohren zu, als wolle er nicht nur das Geräusch, sondern auch die Kriegserinnerungen ausblenden, die sich damit verbinden.
Mit schönem Blick fürs Humoristische zeichnet Macdonald Typen, die aus dem städtischen Alltag vertraut sind. Die Frau in der Schlange vor dem Postschalter, die auf dem Mobiltelefon wie besessen die verschiedenen Schelltöne ausprobiert; der angeberische Skateboardfahrer, der nach einem Sturz einen Augenblick überlegt, wie er das Gesicht wahren kann, das Brett dann lässig auf die Schultern hievt und mit betont coolem Gang abtritt; die um ihre Figur besorgte Joggerin, die holprig versucht, die geschmeidigen Streckübungen ihrer Fitnesstrainerin nachzuahmen; die flüchtige Karikatur einer Glyndebourne-Operngesellschaft mit Smoking und Picknickkorb; der Widerwille des jungen Fremdenführers, wenn seine geriatrische Reisegruppe ein andächtiges Ah! ausstößt, das er womöglich schon hundertfach gehört hat. Wunderbar auch der Zug der klapprigen Alten, die schwankenden Ganges über den Platz defilieren, zunächst in der Gestalt von armseligen Rentnern, dann als würdige Professoren im Talar, als Bauern mit Panamahut und schließlich, bevor sich das Kollektiv auflöst, als stolze britische Veteranen bei der Ehrung der Kriegstoten.
Alle die Menschen, die den Platz zeitweilig queren, stehen vor dem "brückenlosen Abgrund", den Hofmannsthals Lord Chandos beschreibt. Die Worte zerfallen ihnen im Munde "wie modrige Pilze", es zerfällt "alles in Teile, die wieder in Teile", und nichts mehr lässt sich "mit einem Begriff umspannen".
Draußen setzt sich die Komödie auf dem Nachhauseweg durch die Londoner Innenstadt fort. Als ein junger Handwerker an einer roten Ampel aus einem Lastwagen springt, dem draußen vor einem Lokal sitzenden Paar das Feuerzeug mit drecküberkrusteten Händen wortlos entleiht, die selbstgerollte Zigarette anzündet und dann mit einem frechen Lächeln wieder in das Fahrzeug klettert, wähnt man sich wieder als Zuschauer auf dem hellen Platz, der am Schluss in Dunkelheit erstarrt ist.
GINA THOMAS
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Handkes "Stunde da wir nichts voneinander wussten" schlägt im National Theatre
LONDON, 11. Februar
Wie die phantomhaften, perspektivisch verzerrten Kulissen in den Bildern von Giorgio de Chirico bietet sich im Londoner National Theatre jener freie Platz im hellen Licht dar, dem in Peter Handkes stummem Drama "Die Stunde da wir nichts voneinander wussten" die Hauptrolle zukommt. Kalkige Mauern, klare Konturen, stechendes Licht beschwören in Hildegard Bechtlers Bühnenbild die traumverzerrte und -verlorene Atmosphäre metaphysischer Gemälde.
Dieser Platz ist die Bühne des Lebens. Auf ihm sind alle Frauen und Männer nur Spieler. Sie treten aus engen Gassen, Gullylöchern und Haustüren in Erscheinung und gehen wieder ab ins Nichts - liebende, streitende, winselnde, schimpfende, vor Glück strahlende, vom Unglück niedergeschlagene, sterbende, wahnsinnige, neurotische, vergessliche, kopfschüttelnde, gelangweilte, märchenhafte und stinknormale Menschen, junge Schönheiten, ehrgeizige Geschäftsmänner, gaffende Touristen, Straßenfeger, biblische und mythische Gestalten, Postboten, von Halluzinationen Verfolgte, der zwischendurch ein paar Züge einer Zigarette erhaschende Koch, gekrümmte Tattergreise, deren ganzer Lebensinhalt sich auf die Überwindung der Hürden des Alltags reduziert.
Der Zuschauer wird zum Beobachter einer rätselhaften menschlichen Komödie. In unzähligen kleinen Vignetten erlebt er die aberwitzig-reale Chronik einer eines langen, kurzweiligen Tages Reise in die Nacht, erfasst auf sechzig Seiten Regieanweisungen, in die jeder hineinlesen kann, was ihm gefällt. Aus dem seltsamen Tun und Treiben der vierhundertfünfzig von siebenundzwanzig Schauspielern verkörperten Personen ergibt sich ein surreales Bild.
Handkes Stück, das 1992 in Wien uraufgeführt wurde, kommt in England zum ersten Mal in einem professionellen Theater heraus. Der "Daily Telegraph" vermeldete diesen Umstand nicht nur auf der ersten Seite, widmete ihm auch einen dumm frotzelnden Leitartikel, der sich, allerdings nicht ganz zu Unrecht, darüber mokierte, dass das National Theatre eine neue Übersetzung des wortlosen Stückes von Meredith Oakes besonders hervorhebt. Ein Windstoß fegt Papier auf den Platz, ein ferngesteuertes Auto braust auf die Bühnenmitte, mustert das Publikum, schlägt die Rückwärtsrichtung ein, setzt mit Vollgas wieder den Vorwärtsgang ein und rammt eine Hauswand, bevor es sich kleinlaut verkriecht, wie ein gescholtener Hund mit eingezogenem Schwanz. Ein Landarbeiter in blauem Kittel und Gummistiefeln sät aus einem Blecheimer sorgfältig Asche auf dem Platz. Ihm folgt ein Mann, der, eine Wiege auf dem Kopf balancierend, über den Platz tänzelt. Wie in einem Slapstickfilm versucht der Straßenkehrer des vom Wind verwehten Zeitungspapiers Herr zu werden. Sobald er glaubt, es in seiner Schaufel eingefangen zu haben, kommt eine Bö und hebt die Fetzen wieder weg, bis der Feger schließlich seinen Windmühlenkampf aufgibt.
Ein Geschäftsmann holt aus den Taschen mit der feierlichen Bestimmtheit des Zauberers eine Jakobsmuschel, ein Kreditkarten-Leporello, einen Frauenstrumpf, einen Taschenrechner, ein Lebkuchenherz und andere Kuriositäten, die er dann alle sorgfältig wieder verstaut, bis auf einen Apfel, in den hineinbeißend er wieder seines Weges geht. Ein alter Mann torkelt in weißem Nachthemd und Strümpfen mit einer brennenden Kerze daher, die ihm ein anderer kaltschnäuzig ausbläst. Lauter Metaphern der Vergeblichkeit.
In London entdeckt der Regisseur James Macdonald hinter Handkes flüchtigen Menschenbeobachtungen skizzenhafte Biographien. Will die Frau etwa, die den eiligen Schrittes ins Büro schreitenden Mann vergeblich einfangen will, sich nach einem Streit noch schnell versöhnen, oder hat sie bloß vergessen, ihm etwas auszurichten? Die Flugzeugbesatzung wartet mit ihren Rollkoffern ungeduldig auf einen Kollegen, der offensichtlich nicht zum ersten Mal zu spät kommt, ein traumatisierter alter Mann hält sich beim Sirenengeheul die Ohren zu, als wolle er nicht nur das Geräusch, sondern auch die Kriegserinnerungen ausblenden, die sich damit verbinden.
Mit schönem Blick fürs Humoristische zeichnet Macdonald Typen, die aus dem städtischen Alltag vertraut sind. Die Frau in der Schlange vor dem Postschalter, die auf dem Mobiltelefon wie besessen die verschiedenen Schelltöne ausprobiert; der angeberische Skateboardfahrer, der nach einem Sturz einen Augenblick überlegt, wie er das Gesicht wahren kann, das Brett dann lässig auf die Schultern hievt und mit betont coolem Gang abtritt; die um ihre Figur besorgte Joggerin, die holprig versucht, die geschmeidigen Streckübungen ihrer Fitnesstrainerin nachzuahmen; die flüchtige Karikatur einer Glyndebourne-Operngesellschaft mit Smoking und Picknickkorb; der Widerwille des jungen Fremdenführers, wenn seine geriatrische Reisegruppe ein andächtiges Ah! ausstößt, das er womöglich schon hundertfach gehört hat. Wunderbar auch der Zug der klapprigen Alten, die schwankenden Ganges über den Platz defilieren, zunächst in der Gestalt von armseligen Rentnern, dann als würdige Professoren im Talar, als Bauern mit Panamahut und schließlich, bevor sich das Kollektiv auflöst, als stolze britische Veteranen bei der Ehrung der Kriegstoten.
Alle die Menschen, die den Platz zeitweilig queren, stehen vor dem "brückenlosen Abgrund", den Hofmannsthals Lord Chandos beschreibt. Die Worte zerfallen ihnen im Munde "wie modrige Pilze", es zerfällt "alles in Teile, die wieder in Teile", und nichts mehr lässt sich "mit einem Begriff umspannen".
Draußen setzt sich die Komödie auf dem Nachhauseweg durch die Londoner Innenstadt fort. Als ein junger Handwerker an einer roten Ampel aus einem Lastwagen springt, dem draußen vor einem Lokal sitzenden Paar das Feuerzeug mit drecküberkrusteten Händen wortlos entleiht, die selbstgerollte Zigarette anzündet und dann mit einem frechen Lächeln wieder in das Fahrzeug klettert, wähnt man sich wieder als Zuschauer auf dem hellen Platz, der am Schluss in Dunkelheit erstarrt ist.
GINA THOMAS
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