Kay hängt zu stark an seinen westlichen Sehgewohnheiten und kann mich nicht überzeugen
Shen Tai ist in den Norden des Reichs der Mitte unterwegs, um nach dem Tod seines Vaters die traditionellen Trauerzeremonien zu vollziehen. Eigentlich hatte Shen Tai sich auf die anspruchsvolle Prüfung für die
Beamtenlaufbahn vorbereiten wollen, um wie sein Bruder in den Dienst des Kaisers zu treten. Doch davon…mehrKay hängt zu stark an seinen westlichen Sehgewohnheiten und kann mich nicht überzeugen
Shen Tai ist in den Norden des Reichs der Mitte unterwegs, um nach dem Tod seines Vaters die traditionellen Trauerzeremonien zu vollziehen. Eigentlich hatte Shen Tai sich auf die anspruchsvolle Prüfung für die Beamtenlaufbahn vorbereiten wollen, um wie sein Bruder in den Dienst des Kaisers zu treten. Doch davon kann in der 2 1/2 Jahre dauernden Trauerzeit keine Rede mehr sein. Auch die Pläne der Familie mit der Schwester Li Mei wurden durch den Tod des Vaters durchkreuzt, sie kann während der Trauerzeit nicht verheiratet werden. Shen Gao, der Vater, hatte dem chinesischen Kaiser als General gedient. Shens Tais älterer Bruder ist ein einflussreicher Hofbeamter, seine Schwester als Zofe im Dienst der Kaiserin. Ein großzügiges Geschenk aus dem Nachbarreich von 250 Pferden bringt Shen Tai in eine gefährliche Lage. Nimmt er die Pferde an, muss er sie versorgen und schützen, lehnt er ab, beleidigt er die Jadeprinzessin. Die Pferde symbolisieren die Macht des kriegerischen Kaiserreichs und könnten zum Ziel eines Angriffs werden. Ein Mordversuch an ihm verdeutlicht Shen Tai die Gefahr, in der er sich im Niemandsland außerhalb des Kaiserreichs befindet. Er muss sich in einer Welt der Gestaltwandler, Wölfe, Dämonen und phantastischen Kampfkünste bewähren.
Das Setting des historischen Fantasyromans ist im 8. Jahrhundert im China der Tang-Dynastie angesiedelt (618 bis 907). Xian ist der Mittelpunkt des Chinesischen Reiches und Sitz des Kaiserhofs. Besonderes Merkmal des Reiches ist seine herrschende Beamtenkaste, die sich durch Kenntnis der chinesischen Klassiker, von Lyrik und fortgeschrittenen Kalligrafie-Künsten auszeichnet. Kays Figuren sind bestens ausgebildete Krieger und Kampfkünstler. Man könnte sich fragen, wie es funktionieren kann, wenn Gelehrte ein kämpferisches Reitervolk regieren. Außerhalb Chinas stellen sich die Menschen im Alten China und auch Kays Figuren eine ferne, gefährliche Einöde voller unzivilisierter Fremder vor. Reist man in abgelegene Gegenden, geht die Reise in den Norden oder den Westen. Auf der Seidenstraße gelangen jedoch Kaufleute aus dem Rest der Welt ins Reich der Mitte. Die Sichtweise, dass sich die Welt rund um Xian dreht und zu drehen hat, steht der westlichen Sehgewohnheit komplett entgegen, selbst der Nabel der Welt zu sein.
Das Setting im Alten China nutzt Guy Gavriel Kay meiner Ansicht nach leider viel zu wenig, weil er sich nicht von seinen westlichen Sehgewohnheiten lösen kann. Der Perspektivwechsel in die Stiefel eines Reitervolkes oder die Seidenpantoffeln bei Hofe gelingt ihm nicht. Historische und kulturelle Details seines Szenarios nennt er, aber er beschreibt sie zu selten anschaulich oder bildhaft. Dinge sind prunkvoll oder etwas ist staubig, aber wie sind sie denn nun genau? Auch die Innenwelt seiner Figuren wirkt seltsam nüchtern. Zu oft setzt Kay voraus, dass ihm vertraute Dinge auch auf der anderen Seite des Globus so sein müssten. Seine mangelnde Präzision in Details wird durch die Übersetzung nicht besser. Nordamerikaner glauben vielleicht, dass Seide auf einer „Farm“ erzeugt wird, in China stammen die Kokons aus einer Seidenraupenzucht; und im Deutschen gibt es keine Seidenfarmen. Die Erzählerstimme klingt häufig sehr modern und zu westlich für eine Handlung im China des 8. Jahrhunderts. Sie wirkt weichgespült, ohne Ecken und Kanten. Kay wagt nicht, sich auch sprachlich in eine traditionsreiche fremde Kultur zu begeben.
Auf die Übersetzung von Guy Gavriel Kays Büchern ins Deutsche hatte ich mich sehr gefreut. Sein umfangreiches Epos kann mich weder sprachlich überzeugen noch mit dem versprochenen historischen Hintergrund der Tangzeit.