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Das neue Werk des Büchner-Preisträgers »An mein Leben denkend und die Erinnerungen daran, fallen mir immer bloß Sätze ein, manchmal nur noch einzelne, manchmal ein paar mehr.«Jörn Winter sagt diesen Satz am Ende des Buches, in dem aus einzelnen Sätzen und ganzen Geschichten ein Journal der Augenblicke und Erinnerungen entsteht. Beides, die Erfahrung des Augenblicks und die Erinnerung ans Früher, stellt den Raum der Gleichzeitigkeit her, in dem sich Jörn fortwährend aufhält. Man kennt ihn aus früheren Büchern: Der fehlende Rest (1997), Aus der Geschichte der Trennungen (1999), Schnee in den…mehr

Produktbeschreibung
Das neue Werk des Büchner-Preisträgers »An mein Leben denkend und die Erinnerungen daran, fallen mir immer bloß Sätze ein, manchmal nur noch einzelne, manchmal ein paar mehr.«Jörn Winter sagt diesen Satz am Ende des Buches, in dem aus einzelnen Sätzen und ganzen Geschichten ein Journal der Augenblicke und Erinnerungen entsteht. Beides, die Erfahrung des Augenblicks und die Erinnerung ans Früher, stellt den Raum der Gleichzeitigkeit her, in dem sich Jörn fortwährend aufhält. Man kennt ihn aus früheren Büchern: Der fehlende Rest (1997), Aus der Geschichte der Trennungen (1999), Schnee in den Ardennen (2003), und manches Motiv daraus findet man hier wieder, als Spur, als Schatten, als Wiederholung, die im bereits Erzählten nach dem Nicht-Erzählten, nach dem Vergessenen, dem Verschwiegenen sucht. Jörn folgt dabei den Wahrnehmungen und Erlebnissen, den biographischen Wegen des Verfassers; sie gehen zurück in die dreißiger Jahre, in Kriegs- und Nachkriegszeit, in die fünfziger Jahre, in die Gegenwart, und Jörn spricht davon, als wäre es sein eigenes Leben. Der Verfasser beschäftigt ihn als Alter Ego, um die Distanz zum eigenen Lebenslauf zu wahren; als Korrespondenten, der von Orten und Personen, Landschaften und Gegenden die Geschichten erzählt, die vom Jetzt und vom Damals handeln. Dieses Buch setzt das Prosawerk Jürgen Beckers eindringlich fort; es erneuert die Art seiner offenen Schreibweise; es ist eine Chronik der angehaltenen und zugleich vergehenden Zeit.

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Autorenporträt
Jürgen Becker wurde 1932 in Köln geboren und verbrachte dort seine Kindheit. Während der Kriegs- und Nachkriegsjahre, zwischen 1939 und 1947, lebte er in Erfurt. Nach Aufenthalten in Osterwieck/Harz und Waldbröl kam er 1950 nach Köln zurück. 1953 Abitur. Nach kurzem, abgebrochenem Studium begann er seine Existenz als freier Schriftsteller; seinen Lebensunterhalt bestritt er jahrelang mit wechselnden Tätigkeiten, als Arbeiter und Angestellter, als Werbeassistent und Journalist. Er arbeitete für den WDR und in den Verlagen Rowohlt und Suhrkamp. Zwanzig Jahre lang, bis 1993, leitete er die Hörspielredaktion des Deutschlandfunks.

Große Aufmerksamkeit fand Jürgen Becker mit seinem ersten Prosabuch Felder (1964); die beiden folgenden Bücher Ränder (1968) und Umgebungen (1970) festigten seinen Ruf als Verfasser experimenteller Literatur. Zugleich wirkte er mit seinen ersten Hörspielen (Bilder, Häuser, Hausfreunde) am Entstehen des "Neuen Hörspiels" mit. In seinem 1971 veröffentlichten Fotobuch Eine Zeit ohne Wörter verschmolz er seine literarische Arbeit mit dem visuellen Medium. Die künstlerischen Grenzüberschreitungen der Avantgarde hatte er 1965 bereits mit dem Band Happenings dokumentiert, einer Gemeinschaftspublikation mit dem Happening-Künstler Wolf Vostell.
In den Siebziger und achtziger Jahren konzentrierte sich Jürgen Becker auf die Lyrik. Die in dieser Zeit entstandenen Gedichtbücher - darunter Das Ende der Landschaftsmalerei (1974), Odenthals Küste (1986), Das Gedicht der wiedervereinigten Landschaft (1988) - plazierte die Kritik in die obersten Ränge der zeitgenössischen Poesie. Gleichzeitig schrieb Jürgen Becker weiterhin Hörspiele und die beiden Prosabücher Erzählen bis Ostende (1980) und Die Türe zum Meer (1983). Dazu korrespondierte er weiterhin mit dem visuellen Medium: Fenster und Stimmen (1982), Frauen mit dem Rücken zum Betrachter (1989), Korrespondenzen mit Landschaft (1996) entstanden nach Collagen seiner Frau, der Malerin Rango Bohne, Geräumtes Gelände (1995) nach Bildern seines Sohnes, des Fotografen Boris Becker.
Wende und Wiedervereinigung wirkten entscheidend auf das Schreiben Jürgen Beckers ein. Die Wiederentdeckung der Orte und Landschaften zwischen Elbe und Oder, Rügen und Thüringer Wald motivierten seine Gedichtbände Foxtrott im Erfurter Stadion (1993) und Journal der Wiederholungen (1999), die Erzählung Der fehlende Rest (1997) und vor allem den im Sommer 1999 erschienenen Roman Aus der Geschichte der Trennungen. Mit den Vorbereitungen dazu begann er während eines Stipendiums im Künstlerhaus Schloß Wiepersdorf. Es ist Jürgen Beckers erster Roman; eine bewegende, persönliche Geschichte, die zugleich von den Widersprüchen der deutschen Erfahrungen erzählt.

Jürgen Beckers Werk wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. erhielt er den Preis der Gruppe 47, den Literaturpreis der Bayerischen Akademie der schönen Künste, das Stipendium der Villa Massimo, den Bremer Literaturpreis, den Heinrich-Böll-Preis.
Jürgen Becker ist Mitglied der Akademie der Künste in Berlin-Brandenburg, der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, der Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur, sowie des PEN-Clubs. 2001 erhält er für seinen Roman Aus der Geschichte der Trennungen den Uwe-Johnson-Preis, der von der Mecklenburgischen Literaturgesellschaft vergeben wird. 2006 wird er für sein Prosa-Werk, insbesondere den Journalroman Schnee in den Ardennen, mit dem Hermann-Lenz-Preis ausgezeichnet, 2009 erhält er den Schiller-Ring. 2014 wird Jürgen Becker als »maßgebliche Stimme der zeitgenössischen Poesie« mit dem Georg-Büchner-Preis geehrt.

Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Für Martin Oehlen ist Jürgen Becker eindeutig kein Schriftsteller des Erfindens, sondern des Findens, genauer gesagt des Beobachtens, Erfahrens und Entdeckens. Alles was ihm begegnet, am Wegrand, im Keller oder in der Erinnerung, schleift er mit "gelassener Präzision" zu wunderbarer Prosa, schwärmt der Rezensent: "Cool Jazz zum Süchtigwerden" sei das, ein unverwechselbarer Sound. In seinem Journalroman "Jetzt die Gegend damals" tritt wieder sein Alter Ego Jörn Winter auf, der diesmal kurz vor dem Altwerden Bilanz zieht, zurückblickt und das Vergangene ergründet. Lustiges hat Oehlen dabei gefunden, etwa die bissige Bemerkung über die Literatur junger Autoren, "so könnten nur Nichtraucher schreiben". Dass Jörn Winter am Ende nach Griechenland reist beschert dem Rezensenten ein sommersonnengrelles Jetzt.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.01.2016

Endlose Nachkriegszeit
Den Bestand sichern: Jürgen Beckers Journalroman "Jetzt die Gegend damals"

Als Jürgen Becker im vergangenen Jahr den Büchner-Preis erhielt, eröffnete er seine Dankesrede mit einer Episode aus den fünfziger Jahren. Sie handelte von Jörn und Nora, die auf ihrer Tramp-Reise von einem belgischen Ehepaar in einem französischen Dorf in ein Café eingeladen werden: "Bevor sie hineingingen, bat Monsieur die beiden jungen Deutschen, jetzt nicht mehr deutsch zu sprechen, es gebe in der Gegend hier noch ein paar ungute Erinnerungen."

Dies ist offenbar eine Schlüsselszene für Beckers neues Buch "Jetzt die Gegend damals": nicht bloß der Augenblick politisch-historischer Erkenntnis, sondern auch, wie Becker betont, der Moment, in dem er seine Unbefangenheit, seine sprachliche Unschuld verloren hat. Jörn und Nora sind die Protagonisten, denen er die eigene Erfahrung zuschreibt.

Solche Übertragungen gehören zur Regel dessen, was Becker einen "Journalroman" nennt. "Jetzt die Gegend damals" ist bereits sein dritter. Der Verfasser teilt sich Erfahrung wie Tagebucharbeit mit einem fingierten Koautor, eben seinem Jörn Winter. Das bringt den Vorzug der zweiten Perspektive. Man kann auch à la Rimbaud sagen: Ich ist ein anderer. Becker ist Winter, und trotzdem reklamiert er seinem Jörn ausdrücklich eine eigenständige Identität.

Man kennt diesen Jörn Winter aus Beckers letztem Journalroman "Schnee in den Ardennen" (2003), wo der Name trefflich zu Stoff und Titel passte. Dort war Winter eine Nebenfigur, ein Zuträger von Nachrichten. Im neuen Buch avanciert er zum hauptamtlichen Doppelgänger. Mühelos könnte man den Buchtitel als Schreibanweisung, ja als Imperativ auffassen: "Jetzt die Gegend damals". Im Jetzt des Journals wird die Welt von damals aufgerufen, ein Erzählraum, die dem Jürgen-Becker-Leser vertraut ist. Also die Kölner Bucht, nämlich Köln und Odenthal, wo Becker seit vielen Jahren lebt. Von hier erkunden Beobachtungen, Berichte und Einfälle die Tiefe der dreißiger Jahre und die Aktualität der deutsch-deutschen Geschichte. Über all dem könnte ein Satz aus einem älteren Bändchen mit Journalgeschichten stehen: "Nie hört die Nachkriegszeit auf, so viele können das gar nicht mehr sagen." Jürgen Becker vom schon gelichteten Jahrgang 1932 kann es.

Jörn Winter hat Anfang der fünfziger Jahre als Oberprimaner ein Theaterstück geschrieben: "Das Haus mit den zwei Türen". Darin ging es um "Vorgänge in der Küche eines Bauernhauses, das geteilt war vom Verlauf der Zonengrenze; links zur Küchentür ging es hinaus zum Hof im Osten; rechts die Küchentür hinaus, und man stand auf der Straße im Westen." Dieser Plot - ob nun referiert oder erfunden - wird in einigen Details ausgeführt, so dass in der überdeutlichen Allegorie etwas vom damaligen Zeitgeist aufscheint.

Mehr als vom Ost-West-Konflikt war das Bewusstsein jener Zeit von den Relikten des kaum überstandenen Krieges bestimmt, von Schuldanerkennung und Schuldverdrängung. Jörn erinnert sich (ähnlich wie Karl Heinz Bohrer in seinem Erinnerungsbuch "Granatsplitter") an die Flak- und Bombensplitter, wie sie jeder Junge damals sammelte. Ja, er stellt sie in einen überraschenden Kulturzusammenhang, wenn er auf der zweiten Documenta in Kassel die ersten abstrakten Skulpturen sieht: "Jörn hatte zwar den Bescheid mitbekommen, daß abstrakte Kunst anekdotische Bedeutungen nicht zulasse, aber er hielt sich nicht daran." Poetischer als solche Reflexionen sind die vielen Erinnerungspartikel, die manchmal als Epiphanien aufleuchten. So in den wenigen Worten, die ein Prosa-Kurzgedicht ergeben: "Wenn ein Sonnenstrahl darauf fiel, glitzerten die winzigen Glassplitter, die nach der Bombennacht noch in den Türen des Küchenschranks steckten."

Der Journalroman ist auch ein Alltagsjournal, bei dem man vergessen kann, wer es führt; und auch, mit welcher historisch-gesellschaftlichen Intention: "Alles eng und quer im Gehöft, und weil das Sofa durch die Tür nicht paßte, hievten wir es durchs Fenster." Solche Alltäglichkeiten durchziehen unauffällig den Text, quasi als Füllmaterial, das kaschiert, wie stark das historische Motiv das Innerste bestimmt. Denn der Beobachter, der hier am Werk ist, wird nicht müde, nach den Spuren der Vergangenheit zu suchen. So registriert er die überwachsenen Bombentrichter, von denen er annimmt, dass sie spätere Archäologen interessieren. Und anlässlich der Entschärfung eines Blindgängers vermutet er gar, derlei werde Arbeitsplätze für eine ewig lange Zukunft sichern. Eine Übertreibung, die auf die riskante Pointe hinausläuft: "Der Bombenkrieg hat nicht aufgehört."

Nicht aufgehört hat jedenfalls Beckers Beschäftigung mit dem Komplex Erinnerung, seine Suche nach einer immer neu zu rekonstruierenden Zeit. Davon zeugt (selbst in seinen Schwächen) das neue Journalbuch. Für die Erinnerung an die Gegend von damals gibt es keine leere Wiederholung. Auf die Frage, ob ihm denn nichts Neues einfalle, lässt Becker seinen Protagonisten antworten: "Es geht nicht um Neues, sagt Jörn, es geht darum, den Bestand zu sichern. Was ist noch vorhanden, was ist vielleicht vorhanden, was ist vielleicht hinzugekommen, was weiß ich noch, was ist weg."

Das ist ein Bekenntnis Jörn Winters. Sollte es auch das Bekenntnis Jürgen Beckers sein, dann ist es diskret plaziert. Aber so kennen wir Becker. So mögen wir ihn.

HARALD HARTUNG

Jürgen Becker: "Jetzt

die Gegend damals".

Journalroman.

Suhrkamp Verlag, Berlin 2015. 162 S., geb., 19,95 [Euro].

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»All diese Wahrnehmungen und Erinnerungen werden dargereicht als poetische Kondensate. Sie fügen sich in diesem schmalen Band erneut zu einer wunderbaren Prosa, geschaffen aus einer immer hellwachen Souveränität.« Martin Oehlen Frankfurter Rundschau 20150808