Produktdetails
  • Heyne Bücher
  • Verlag: Heyne
  • Gewicht: 296g
  • ISBN-13: 9783453116344
  • Artikelnr.: 23929911
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.09.1995

Kaukasische Spiele
John Le Carré spioniert wieder Von Peter Demetz

John Le Carré, heute vierundsechzig Jahre alt, darf den Anspruch erheben, den Spionageroman zerstört und neu geschaffen zu haben. Präsident Kennedy liebte es noch, Ian Flemings James-Bond-Romane zu lesen, aber die Späteren sympathisierten eher mit Le Carrés George Smiley. James Bond litt niemals an jet-lag, dem echten Signum des Übermenschen, und war, nach zwei Martinis und dem obligaten Flirt mit Ms. Moneypenny im Vorzimmer des Chefs, immer bereit, sich in einen neuen Entscheidungskampf mit den Erzfeinden der Menschheit zu stürzen. Mit George Smiley war weniger Staat zu machen; er war immer melancholisch, mit Fettansatz, unlösbaren Eheproblemen und zerknitterten Hosen, ein verletzlicher Mensch unter anderen verletzlichen Geschöpfen.

Mehr noch: Im alten Spionageroman war man von der eigenen Sache felsenfest überzeugt; das Gute war das Gute, und es war politisch nicht korrekt, an den eigenen Absichten zu zweifeln. Das aber war die erste Voraussetzung für die Formel Le Carrés. Im Londoner oder Moskauer Apparat waren nicht Ideale entscheidend, sondern miserabler Ehrgeiz, Taktik und Erfolg, und wenn es im Schachspiel der Zentralen nützlich war, lieferte man die eigenen Leute, ohne viel Aufhebens, ans Messer. Im Zeitalter der Überläufer und Doppelagenten waren sich West und Ost einig im Zynismus und in der Immoralität der Praxis. Moral und Gerechtigkeit waren leere Worte, die man den Politikern überließ.

In seinem neuen Roman "Unser Spiel" (der Titel mag Rudyard Kiplings Wort vom Großen Spiel des Imperialismus ironisieren) befreit sich Le Carré von den beliebten Konventionen, die er selbst geschaffen hat, und revidiert seine Revisionen des roman noir. Er ist zu klug, um nicht zu wissen, daß Umstürze, in der Geschichte und in der Literatur, neue Formeln bilden, und er nimmt es in Kauf, eine geneigte Leserschaft, die Geschichten von der gleichen Art hören will, durch ältere Motive anzulocken und zugleich durch radikale Wendungen vor den Kopf zu stoßen. Es wäre nicht das erste Mal, daß er gegen den eigenen Strich schreibt; ein früher Roman war ein traditioneller Krimi (allerdings mit Smiley als Part-time-Detektiv), und später publizierte Le Carré sogar einen Liebesroman oder wechselte Szenerie und Personal von Grund auf.

Im neuen Roman geschieht etwas viel Entscheidenderes und Überraschenderes. Ein helles Licht der Hoffnung, Sitte und Freiheit leuchtet wieder auf " allerdings nicht mehr in der Welt der ramponierten großen Mächte, sondern in den Tälern und auf den Gipfeln des fernen Kaukasus, wo jene heroischen Völker wohnen, die einen langen Kampf gegen Zaren und Stalinisten geführt und sich einer geradezu religiösen Hingabe an Integrität und Selbstbehauptung noch nicht entfremdet haben. Es sind, "ein Haufen aufsässiger Gebirgsbewohner", die lang vergessenen Inguschen, die (gehaßt von den mit der russischen Armee verbündeten Osseten und gut Freund mit den Tschetschenen) am Horizont der Menschlichkeit auftauchen - eben in der Rolle, die im historischen Roman des neunzehnten Jahrhunderts die archaisch schottischen Highlander spielten, heute aber mit Kalaschnikows, nicht Musketen, und in Lammfelljacken, nicht im Kilt. Le Carré, ein Tory halblinks, legt uns seine romantischen Karten, die er bisher geschickt im Ärmel versteckte, offen auf den Tisch.

Die älteren Agenten und ihre Kontrolleure sind nach dem Fall der Mauer "deaktiviert" oder in Pension, aber die Pensionisten revoltieren gegen das Establishment. Man hat sie lange genug manipuliert, und jetzt manipulieren sie die ratlosen Aufsichtsbehörden und Regierungsbüros. In Moskau unternimmt es der ehemalige sowjetische Kulturattaché in London, Konstantin Abramovitsch Tschetschejew (das russische Büro hat ihm den ein wenig jüdischen Namen gegeben, aber er ist Ingusche, und was für einer), russische Regierungsgelder im Betrag von fünfzig Millionen (Valuta) zu unterschlagen, um Waffen für die Inguschen zu kaufen, und es fällt ihm nicht allzu schwer, seinen englischen Mitarbeiter Larry Pettifer für den Coup zu gewinnen - Larry war aber schon immer ein Doppelagent, und sein englischer "Kontrolleur" Timothy Cranmer (der Erzähler der Geschehnisse) gerät in London prompt in den Verdacht, sich an den Geldern bereichert zu haben. Timothy wird scharf verhört und hat (als verfolgter Verfolger) keine andere Wahl, als seinen Freund Larry zu suchen, um sich von dem Verdacht zu reinigen. Zugleich drängen ihn höchst intime Gründe, denn seine Freundin Emma, die immer bereit ist, sich mit Friedensgruppen und Hausbesetzern für irdische Gerechtigkeit zu engagieren, ist mit Larry auf und davon. Eine kaukasische Gegengruppe der Osseten ist dabei, die Waffenlieferungen zu verhindern, die Schauplätze wechseln kinematographisch: London, Bristol, Paris, Moskau, der Kaukasus, und die bombardierten Dörfer brennen.

Le Carré hat eine nervöse, aber zuletzt viktorianische Begabung, glaubhafte Charaktere auf die Füße zu stellen. Timothy und Larry, Freunde seit ihrer Schulzeit, lieben und hassen einander in unverbrüchlicher Wahlverwandtschaft, der eine ist, was der andere sein möchte (Timothy, der Distanzierte, Larry der Anarchische und Lebenskräftige), oder die schutzlose Emma, die sich selbst definieren will und immer an den Falschen gerät (eine jüngere Vanessa Redgrave). Gelegentlich arbeitet Le Carré, zu unserem aktuellen Vergnügen, mit politischen Assoziationen (die politische Kontrolleurin der britischen Spionagebehörde erinnert deutlich an Margaret Thatcher), aber auch die Menschen, die kommen und gehen, eine schlampige Hausfrau in Bristol oder die ahnungslose Tochter des türkischen Waffenhändlers, prägen sich fest ins Gedächtnis. Ein Satz genügt, und die Spannung, wie sie sich unser nur in der wirklichen Welt bemächtigt, steigt mit einem Ruck.

Es wäre simpel zu behaupten, daß sich Le Carré von den Bestsellerautoren des internationalen Intrigenromans durch den ungewöhnlichen Reichtum seiner Sprache unterscheidet; schwieriger schon, die vielen Schichtungen seines Vokabulars und seiner Syntax genauer zu beschreiben. Er ist ein philologisch raffinierter Autor, und nicht nur, weil er Germanistik studierte (George Smiley wollte immer ein Buch über Martin Opitz schreiben). Der Oxforder Don, der in ihm steckt, hat das feinste Unterscheidungsvermögen dafür, wie man Englisch spricht und ausspricht und nach drei Worten Herkunft, Klasse und Bildungsgang verrät. Die Verhöre Timothys durch die beiden Polizeibeamten sind wunderbare Demonstrationen seiner dramaturgischen und sprachlichen Intelligenz. Timothy, der Verhörte, muß aus den Fragen der Polizisten rekonstruieren, was sie wissen und was nicht, und das Ganze ist noch kompliziert durch das wachsende Ressentiment, denn der Gentleman Timothy fühlt sich von den Beamten, die einer anderen sozialen Schicht angehören, und sie von ihm, zunehmend irritiert, und der kleine Klassenkampf äußert sich in sprachlichen Signalen.

Der erfahrene Übersetzer Werner Schmitz hat das Menschenmöglichste getan, um Le Carré gerecht zu werden, aber er bleibt doch, ohne Schuld, in den Begrenzungen der deutschen Sprache gefangen, in der die idiomatischen und soziologischen Verhältnisse ganz anders liegen. Er überträgt einen komplizierten und spannenden Roman ersten Ranges, wie es "Die Libelle" oder "Der Spion, der aus der Kälte kam" waren, nicht mehr und nicht weniger, aber doch nicht ganz die kunstvolle Prosa, die Le Carré geschrieben hat. In der angelsächsischen Welt gibt es schon vier oder fünf Bücher über Le Carré, aber die deutsche kritische Theorie hält leider keine Begriffe parat, mit denen man sich ihm nähern könnte. Er macht weltliterarischen Ernst mit einer Erzählart, die man sonst mit einer Handbewegung als unterhaltsam oder trivial abtut. Sein Vorfahre ist Dostojewski, der von Schuld, Verrat und Sühne nicht loskommt, sein Vater der schwerblütige Joseph Conrad, sein älterer Bruder Graham Greene. Es ist die interessanteste Familie, die man sich denken kann.

John Le Carré: "Unser Spiel". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Werner Schmitz. Verlag Kiepenheuer und Witsch, Köln 1995. 424 S., geb., 45,- DM.

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Tim Cranmer, der Ich-Erzähler des Romans, ist ein vorzeitig ausgemusterter Geheimdienstmann. Der erholsame Aufenthalt auf seinem Landgut im englischen Somerset ist allerdings nur von kurzer Dauer: Bald treibt ihn die Suche nach zwei Verrätern durch das chaotische Rußland von heute. "'Unser Spiel' überzeugt sowohl als sorgfältig aufgebaute Geheimdienstgeschichte wie auch als literarisch verarbeitete politische Satire." (Neue Zürcher Zeitung.)