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Der Eifer, mit dem Schüler und Gotteskrieger, Familienväter und Selbstmordattentäter mit Schrotflinten und Bomben ihrem eigenen und dem Leben möglichst vieler anderer ein Ende machen, ist den meisten von uns rätselhaft. »Man muß nicht alles verstehen, aber ein Versuch kann nicht schaden«: Das ist das Motto dieses Essays, den Hans Magnus Enzensberger dem »radikalen Verlierer« widmet. Gibt es, jenseits aller Ideologie, Gemeinsamkeiten zwischen dem einsamen Amokläufer, der in einem deutschen Gymnasium um sich schießt, und den organisierten Tätern aus dem islamistischen Untergrund? Größenphantasie…mehr

Produktbeschreibung
Der Eifer, mit dem Schüler und Gotteskrieger, Familienväter und Selbstmordattentäter mit Schrotflinten und Bomben ihrem eigenen und dem Leben möglichst vieler anderer ein Ende machen, ist den meisten von uns rätselhaft. »Man muß nicht alles verstehen, aber ein Versuch kann nicht schaden«: Das ist das Motto dieses Essays, den Hans Magnus Enzensberger dem »radikalen Verlierer« widmet. Gibt es, jenseits aller Ideologie, Gemeinsamkeiten zwischen dem einsamen Amokläufer, der in einem deutschen Gymnasium um sich schießt, und den organisierten Tätern aus dem islamistischen Untergrund? Größenphantasie und Rachsucht, Männlichkeitswahn und Todeswunsch gehen auf der verzweifelten Suche nach einem Sündenbock - beim isolierten Täter wie im Kollektiv der Fanatiker - eine brisante Mischung ein, bis der radikale Verlierer explodiert und sich und andere für sein eigenes Versagen bestraft. Hans Magnus Enzensberger, geboren 1929 in Kaufbeuren, lebt in München. Im Suhrkamp Hauptprogramm erscheint Josefine und ich (Juni 2006) und im suhrkamp taschenbuch Gedichte. 1950-2005 (Dezember 2006).
Autorenporträt
Hans Magnus Enzensberger wurde 1929 in Kaufbeuren geboren. Als Lyriker, Essayist, Biograph, Herausgeber und Übersetzer ist er einer der einflussreichsten und weltweit bekanntesten deutschen Intellektuellen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.05.2006

Die Zukunft der Selbstmordattentäter
Eine Zivilisation der radikalen Verlierer: Hans Magnus Enzensbergers Streitschrift über den Islamismus verschärft die Konfrontation

Einen "Versuch über den radikalen Verlierer" nennt Hans Magnus Enzensberger das schlanke Buch, das unter dem Titel "Schreckens Männer" in der edition suhrkamp erschienen ist. Fünfzig Seiten, auf denen er den Islamismus analysiert, als hätte es nicht schon Berge von Analysen über dieses seit dem 11. September 2001 ins Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückte Phänomen gegeben. Die Kürze der Darlegungen stellt einen ungeheuren Anspruch, und dieser wird durch die Lakonik der neunzehn mit römischen Ziffern überschriebenen Abschnitte noch erhöht. Dies ist die Form des Traktats, der eine arabische Erfindung sein soll.

Der Verlierer, den Enzensberger zur Leitfigur seines Traktats macht, ist nicht einer von jenen zahllosen Gescheiterten, die in jeder Gesellschaft die Straßen des Erfolges säumen. Enzensberger faßt vielmehr den "radikalen Verlierer" ins Auge. Er ist, was man früher eine Gestalt genannt hätte: eine Verkörperung von Tendenzen der historischen Stunde. Über ihn sagt Enzensberger in einer an Benn gemahnenden Formulierung, er "sondert sich ab, wird unsichtbar, hütet sein Phantasma, sammelt seine Energie und wartet auf seine Stunde". Es ist klar, daß diese Definition den Selbstmordattentäter ins Visier nimmt. Wir würden nicht vom "radikalen Verlierer" reden, wenn dieser nicht ein psychologischer Schlüssel zu jenen Bombenträgern wäre, die in die Zentren der westlichen Metropolen vordringen.

Was aber kann die Figur des Verlierers dazu beitragen, ein so neues und klar konturiertes Phänomen wie den Selbstmordattentäter verständlich zu machen? Der Verlierer ist isoliert, niemand interessiert sich für ihn, er driftet in sein Phantasma, und ob er den radikalen Ausweg von Zerstörung und Selbstzerstörung findet, bleibt dem Zufall überlassen. Selbst wenn er Amok läuft oder Bomben zündet, bleibt er eine verschwindende Gestalt, mit verschwommener Botschaft, ein Fall, der Verlegenheit auslöst.

Ganz anders, wenn der radikale Verlierer seine Isolation überwindet und in ein Kollektiv eintaucht, wenn er Auftraggeber findet, geschult wird, seine Verliererenergie diszipliniert und mit Normalität tarnt. Dann, so Enzensberger, schießen "Todeswunsch und Größenwahn" in einem Allmachtsgefühl zusammen, die Zündschnur zu Katastrophen ist gelegt. Es ist klar, wovon die Rede ist: Die einzige Bewegung, die heute aus dem Reservoir der Verzweiflung schöpft und zugleich global zu agieren vermag, ist der Islamismus mit seinem Terrornetzwerk. Die Verbindung von antiwestlicher Ideologie mit moderner westlicher Technik, von Traditionalismus mit moderner Flexibilität macht die Schlagkraft dieser Bewegung aus, die mühelos in die westlichen Gesellschaften vordringt.

Damit ist zwar die neueste Spielart des Terrors erfaßt, nicht aber die kulturelle Konfrontation, die durch die Anschläge von New York bis London auf beispiellose Weise verschärft wurde. Hier bringt Enzensberger Besonderheiten der Tradition ins Spiel, als deren Hüter der Islamismus sich aufspreizt. Es ist die schon Jahrhunderte währende Geschichte des Niedergangs der einst dem Abendland überlegenen arabischen Zivilisation, die sich in die Nostalgie flüchtete, den Fortschritt versäumte und statt dessen ein Überlegenheitsgefühl kultivierte, das zum grundlosen Dünkel werden mußte. Enzensberger zeichnet auf wenigen Seiten eine Verliererkultur, die eigenes Versagen nie anzuerkennen vermochte, sondern die Gründe dafür immer nur bei anderen, zumal im Westen, suchte, der für den Islamismus die Züge des "großen Satans" angenommen hat.

Nur am Rande erwähnt Enzensberger, daß die Gesellschaften, die sich heute dem islamischen Traditionalismus verschrieben haben, alle schon einmal den Ideologien des Westens, dem Nationalismus oder dem Sozialismus, anhingen und mit diesen westlichen Modellen scheiterten. Sie begegnen der modernen westlichen Gesellschaft nicht erst heute, sie haben eine weit ins neunzehnte Jahrhundert zurückreichende Erfahrung mit westlichen Ideologien und Institutionen. Daß der Islamismus eine Reaktion auf nicht gelungene Anpassungen an die Moderne ist, verleiht ihm zweifellos seine Durchschlagskraft. Dazu gehört auch, daß die einflußreichsten Ideologen der islamistischen Reaktion, wie Sayid Qutb und Usama Bin Ladin, westliche Biographien hatten, ehe sie sich zur Tradition bekehrten.

Die lange, am Ende in Sterilität mündende Geschichte der kulturellen Wechselwirkungen von Orient und Okzident bleibt stumm. An ihrem Ende diagnostiziert Enzensberger nur die Wiederkehr all jener aus der individuellen Psychologie bekannten Charakteristika des Scheiterns und des Versagens, die er in sein Psychogramm des radikalen Verlierers eingetragen hat: Verzweiflung über das Versagen, Suche nach Sündenböcken, Realitätsverlust, Rachebedürfnis, Männlichkeitswahn, kompensatorisches Überlegenheitsgefühl, Fusion von Zerstörung und Selbstzerstörung, der Wunsch, Herr über das eigene wie das Leben anderer zu werden - und über den Tod.

Als Psychogramm der islamischen Zivilisation überschreitet dies zweifellos die Grenzen dessen, was man verantwortlich aussagen kann. Der Diagnostiker überläßt sich seinerseits einem Wahnbild, dem des Fortschritts, an dem die westliche Zivilisation trotz wachsender Einsicht in seine Grenzen als Maß aller Dinge festhält. An diesem Fortschrittsmodell mißt der sonst so skeptische Enzensberger auch die gesellschaftliche Verfassung der arabischen Welt. Aber auch in Europa waren Niedergangsängste die Begleiter des Fortschritts, das große achtzehnte Jahrhundert lebte in einer Niedergangspanik, der es letztlich nur durch die Technik entkam. Niedergangsangst kann ein kluger Ratgeber sein, und große Vergangenheit muß nicht die Gegenwart entmündigen. So müssen die islamischen Traditionalisten nicht notwendig Hindernisse der Zukunft sein. Im Gegenteil, nach den gescheiterten Versuchen entschlossener Verwestlichung dürfte der Versuch, die Tradition mit moderner westlicher Technik zu amalgamieren, durchaus Aussicht auf Erfolg haben.

Die Verbindung eines rückständigen Traditionalismus mit moderner Technologie und moderner Organisationsform, wie sie Al Qaida praktiziert, muß nicht nur ein Avantgardismus des Todes sein, sondern könnte zur Avantgarde einer neuen, nicht tödlichen Verbindung von Tradition und moderner Gesellschaft werden. Diese Zivilisierung steht noch aus. Im Unterschied zu den meisten Beobachtern sieht Enzensberger, daß die Religion bei diesen "Gotteskriegern" eine weit geringere Rolle spielen dürfte, als meist angenommen wird: Es sei "Religion aus zweiter Hand", die ihre Evidenzen mehr aus dem Kulturschock beziehe als aus echten religiösen Quellen. Für gegenwärtige Taten braucht man gegenwärtige Belohnungen, sie liegen eher in der momentanen Überlegenheit als in vagen Heilsversprechen. Vom Technischen geht eine schwer zu lenkende Faszination aus, so daß der Selbstmordattentäter sich selbst als Bombe sehen kann.

Der Ertrag, den Enzensberger aus seiner Psychologie des radikalen Verlierers gewinnt, ist eher negativer Art: Die Beliebigkeit der Angriffsziele, das Fehlen eines gelebten Rückhalts in der Bevölkerung, wie er noch für den Guerrillakrieg charakteristisch war, die Verklärung der destruktiven Energie, die Faszination durch die schiere Menge der Opfer, die Gleichgültigkeit gegenüber den offenkundigen Zivilisationsverlusten der eigenen Seite - alles spricht für den wahnhaften, letztlich unpolitischen Charakter der Bewegung.

Nachdem Enzensbergers Psychogramm des Selbstmordattentäters schließlich zu jenem ewigen Verlierer zurückgekehrt ist, von dem es seinen Ausgang nahm, sehen wir eine ganze Zivilisation von Schreckensmännern vor uns - eine Karikatur jener Phantasien von Sinnlichkeit und Despotie, die das europäische Orientbild seit dem achtzehnten Jahrhundert ausmachten. Es erstaunt bei diesem ehemals linken Kritiker der westlichen Gesellschaften, wie unangreifbar diese Zivilisation ihm nun erscheint angesichts der Konfrontation mit dem Islamismus. Als habe es erst des terroristischen Angriffs auf sie bedurft, um sich mit ihr zu befreunden.

Zwei Nebenerträge gehören zum Besten, was Enzensbergers Traktat zutage fördert: Einmal ist es eine souverän mit ein paar geistesgeschichtlichen Hinweisen untermauerte Zweifelsbetrachtung über das Prinzip der Selbsterhaltung. Dieses spiele, wie nicht erst die Todessucht der Selbstmordattentäter beweist, im menschlichen Affekthaushalt nicht jene fundamentale Rolle, welche die europäische Philosophie ihm zugesprochen hat: "Jenseits der Begriffsgeschichte scheint die Menschheit nie damit gerechnet zu haben, daß das eigene Leben als der Güter höchstes zu gelten hätte." Die zweite Überlegung, die durch die Figur des radikalen Verlierers veranlaßt wird, hätte man früher als geschichtsphilosophisch bezeichnet: Mit jedem Fortschritt, wie den Menschenrechten oder den gestiegenen Gleichheitserwartungen, entstünden nicht nur neue Ansprüche, sondern auch bis dahin nicht gekannte neue Enttäuschungen. Die Menschheit besteht nicht nur aus Elenden und Rechtlosen, sondern auch aus Enttäuschten. Überhaupt habe, erklärt Enzensberger, die Enttäuschbarkeit des Menschen ungemein zugenommen.

HENNING RITTER

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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Hans Magnus Enzensbergers Gedanken über den "radikalen Verlierer" wirken auf den ersten Blick so eingängig und eindeutig, dass Sven Hillenkamp zunächst in einen "Klarheitsrausch" verfällt und glaubt, endlich habe er den großen Nenner von Selbstmordattentätern, Nationalsozialisten und Amokläufern gefunden. "Doch die diskursive Überlegenheit ist Fiktion", Enzensbergers Argumentation gar "tautologisch", muss Hillenkamp schließlich feststellen. Die Gewalt ausschließlich aus Selbstverachtung und der Freude an der Gewalt zu erklären, ist für den Rezensenten "an sich so erhellend, wie inmitten eines Sturms von starkem Wind zu reden". Zudem ist Hillenkamp der Begriff des Verlierers zu ungenau und passe etwa beim äußerlich erfolgreichen Bin Laden schon nicht mehr. Hillenkamp schlägt "Verletzte" vor. Enzensberger spare die persönlichen Faktoren bei der Entstehung von Gewalt aus und vernachlässige die menschlichen Seiten von Gewalttätern. Und auch Enzensbergers direkter Weg von der "Bitterkeit des Einzelnen" hin zu einer gewaltorientierten Bewegung scheint Hillenkamp ein "Kurzschluss" zu sein.

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