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Die Sensation: bisher unveröffentlichte Tagebücher aus dem Krieg von Heinrich Böll.
Das hat man so noch nicht gelesen: Knapp, assoziativ, stellenweise geradezu lyrisch notiert Heinrich Böll, was ihn in den letzten Kriegsjahren beschäftigt, quält und am Leben hält.Anders als in den Kriegsbriefen, die zusammenhängend beschreiben, was ihm widerfuhr, aber die Zensur passieren mussten, hält er hier stichwortartig fest, was den einzelnen Tag bestimmte und innerhalb der grausamen Kriegsroutine an der Front und in der anschließenden Kriegsgefangenschaft zu etwas Besonderem machte. Fixpunkte dabei…mehr

Produktbeschreibung
Die Sensation: bisher unveröffentlichte Tagebücher aus dem Krieg von Heinrich Böll.

Das hat man so noch nicht gelesen: Knapp, assoziativ, stellenweise geradezu lyrisch notiert Heinrich Böll, was ihn in den letzten Kriegsjahren beschäftigt, quält und am Leben hält.Anders als in den Kriegsbriefen, die zusammenhängend beschreiben, was ihm widerfuhr, aber die Zensur passieren mussten, hält er hier stichwortartig fest, was den einzelnen Tag bestimmte und innerhalb der grausamen Kriegsroutine an der Front und in der anschließenden Kriegsgefangenschaft zu etwas Besonderem machte. Fixpunkte dabei sind seine junge Frau Annemarie, die er schmerzlich vermisst, und Gott, den er im Angesicht des Grauens der Schützengräben als Hoffnungsspender und Schutzinstanz anruft. Beeindruckend ist die Intensität dieser skizzenhaften Aufzeichnungen, die zeigen, wie Böll um seelische Integrität und Selbsterhaltung ringt. Geschrieben in der Zeit von der Abreise nach Frankreich über die Verlegung an die Ostfront bis zur Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft im September 1945 - und ungekürzt veröffentlicht.
Autorenporträt
Heinrich Böll, 1917 in Köln geboren, nach dem Abitur 1937 Lehrling im Buchhandel und Student der Germanistik. Mit Kriegsausbruch wurde er zur Wehrmacht eingezogen und war sechs Jahre lang Soldat. Seit 1947 veröffentlichte er Erzählungen, Romane, Hör- und Fernsehspiele, Theaterstücke und zahlreiche Essays. Zusammen mit seiner Frau Annemarie war er auch als Übersetzer englischsprachiger Literatur tätig. Heinrich Böll erhielt 1972 den Nobelpreis für Literatur. Er starb im Juli 1985 in Langenbroich/Eifel.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.10.2017

Banales
und
Angst
Heinrich Bölls
Stichwortkladde
wird zu Unrecht als
„Kriegstagebuch“
vermarktet
VON GÖTZ ALY
Literaturwissenschaftler werden aus dem faksimilierten Kalender des Infanteristen Böll einige Fußnoten destillieren – Leserinnen und Leser, die Heinrich Böll als menschenfreundlich erzählenden Vermittler zwischen dem gewalttätigen Gestern und dem friedlichen Heute schätzen, werden diese Dokumentation schnell beiseitelegen. Der Untertitel „Die Kriegstagebücher 1943 bis 1945“ entpuppt sich nach den ersten Seiten als Schwindel. Es handelt sich keineswegs um ein Tagebuch – wie es etwa Victor Klemperer oder Thomas Mann hinterlassen haben –, sondern um schnell hingeworfene Stichwörter, dürre Gedächtnisstützen, meist um Banalitäten. Einer der durchschnittlichen, hier vollständig wiedergegebenen Einträge lautet: „9.11.44. Post von Anne-Marie / Stanislau die Stadt / Spaziergang in Stanislau / Die Deutschen und die Volksdeutschen“.
Böll hatte diese Kladden „konsequent in seinem Testament von einer Veröffentlichung ausgeschlossen“. Das teilt dessen Sohn René mit, um sich dann mit gewundener Rechtfertigung („Nach langer und reiflicher Überlegung und Beratung …“) über den letzten Willen seines Vaters hinwegzusetzen.
Das Titelzitat „Man möchte manchmal wimmern wie ein Kind“ stimmt bestenfalls halb. In der gekürzten Form weist es auf den späteren Pazifisten, in der originalen Langform auf gewöhnliches Elend im Schützengraben – „Man möchte vor Dreck und Müdigkeit manchmal wimmern wie ein Kind.“ Auch die im Untertitel angegebene Jahreszahl 1943 führt den Leser an der Nase herum. Die Notate umfassen nicht das ganze Jahr, sie beginnen am 30. Oktober mit dem (hier gleichfalls komplett zitierten) Eintrag: „Abfahrt in Eu“. In den Ankündigungen behauptet der Verlag Kiepenheuer & Witsch, er präsentiere den Freunden des guten Heinrich B. „die Sensation“ der Herbstsaison, und das zum 100. Geburtstag des Autors. Die irreführende Reklame macht der gutgläubigen, häufig um weihnachtliche Geschenkideen verlegenen Böll-Gemeinde weiß, der Autor habe diesen Kladden das Allergeheimste anvertraut, weil sie im Gegensatz zu den Briefen „die Zensur nicht passieren mussten“.
Reine Sensationsmache! In dem gesamten Stichwortkonglomerat findet sich kein oppositioneller Satz, nichts, was auch nur entfernt als sogenannte Wehrkraftzersetzung hätte gedeutet werden können. So lesen wir am 8. November 1943 lapidar: „Abends Führerrede im Waggon!“.
Am 24. Dezember 1943 meinte der leichtverwundete, langsam Genesende: Wir werden den Krieg gewinnen, „denn die Verwundeten mit einem Arm wichsen die Stiefel und waschen ihre Kragenbinde“. Das kann man als Sarkasmus deuten. Aber am nächsten Tag, notiert derselbe Böll voller Ernst: „Zum ersten Mal gewinnt in meinem Gehirn der Gedanke Realität, dass ich vielleicht mit Anne-Marie nach dem Krieg vielleicht hier im Osten ein koloniales Dasein führen könnte …“ War er noch von der Weihnachtsfeier betrunken? Vermutlich nicht. Denn eine Woche später, im 2001 veröffentlichten Silvesterbrief an die Familie, schreibt er: „… und doch denke ich oft an die Möglichkeit eines kolonialen Daseins hier im Osten nach einem gewonnenen Krieg.“
Wie die allermeisten Landser freute Böll sich über Zigaretten, Cognac, notfalls Kräuterbitter, die „Marketender-Ware“, „Die russische Medizinstudentin! Natascha!“ und über „das Führerpaket“, das er aus dem Osten für den Urlaub mitbekam. Er klagte viel über den öden Soldatentrott und las – das unterschied ihn von seinen Kameraden – so viele Bücher wie möglich. Am 13. Juli 1944 fand er: „Ernst Jünger: In Stahlgewittern, ein tolles Buch“. Am 20. Juli notierte er knapp: „Attentat auf Hitler während wir im Konzert sind.“
Nichts daran ist sensationell. Mit dem schillernden und deshalb eindrucksvollen Gehalt der 2001 erschienen Kriegsbriefe, kann es die Edition der Kladden nicht entfernt aufnehmen. Ebendeshalb greifen die Herausgeber immer wieder auf die Briefe zurück, um die dürftigen Notate wenigstens mit etwas Inhalt zu füllen – sofern man bis zu den Anmerkungen durchhält. Leider strotzen auch die vor Umstandskrämerei und Banalitäten. Wer braucht zum Eintrag „Domhotel“ in Köln diese Belehrung: „Gegenüber der Südfassade des Kölner Doms gelegenes Hotel, das nach einem Vorgängerbau zwischen 1890 und 1893 im neugotischen Stil errichtet wurde.“
Der 1917 geborene Heinrich Böll gehörte zu jener um ihre jungen Jahre komplett betrogenen Männergeneration, die 1938 zum Reichsarbeitsdienst eingezogen, dann direkt in den Krieg gejagt wurde, um im Fall des Überlebens noch eine mehr oder weniger lange Zeit in Gefangenschaft zu verbringen. Gemessen am Schicksal der meisten seiner Altersgenossen kam Böll glimpflich durch den Krieg. Er bevorzugte Schreibstuben und – in „la douce France“ - Übersetzertätigkeiten, er bewachte russische Gefangene und erkrankte häufig. Kampfgeist, Kommissdrill, grobes Herummännern, Hass und Herrenmenschentum blieben ihm fremd. Das lag an seinem Individualismus, seinem katholischen Glauben, seinem Familiensinn, seiner Liebe zu Anne-Marie (später Annemarie geschrieben). Durchaus verständlich machte auch ihn der Krieg stumpf und selbstbezogen. Das Leid der von deutschen Aggressoren terrorisierten Menschen in Frankreich, Polen, Russland, Rumänien, Ungarn ließ ihn ziemlich kalt. Böll wollte weder für den Führer noch für Volk oder Vaterland sterben. Obwohl er knapp sechs Jahre lang Soldat sein musste, hatte er insgesamt nur sechs Wochen lang Fronteinsätze auszustehen. Doch während des ersten Einsatzes hätte es ihn in jeder Minute tödlich treffen können. Im Herbst 1943 wurde er mit seiner Einheit von Frankreich auf die Krim verlegt und nahe der Stadt Kertsch an die Front geworfen. Dort hockte er eingegraben „in einem von Artillerie zermahlten Sonnenblumenfeld“. Die wenigen Seiten aus der Zeit vom 12. November bis zum 2. Dezember 1943 unterscheiden sich fundamental vom meist nichtssagenden Rest der Notate: Ungeformt, karg, verzweifelt, öffnen sie den Blick auf den flackernden Glutkern des vom Krieg geprägten Frühwerks von Heinrich Böll, ebenso machen sie dessen spätere literarischen und politischen Anstrengungen verstehbar, diese Traumata mit Hilfe anderer, aktueller Themen wenigstens zu überdecken. Wirklich überwinden konnte er sie niemals – wie so viele seiner Altersgenossen. Hier nicht dramatisierend zusammengefasst lesen sich die Notate dieser 20 Tage so: „Anne-Marie, mein Leben. Gott gebe, dass ich Dich wieder sehen darf. Gott lebt! Gott lebt! Abends vorne eingeschlossen. Morgens Trommelfeuer durch Artillerie, Granatwerfer, Flieger, Panzer; zwischendurch Panzerangriff. 3 Panzer sind vor unserer Linie erledigt!“ – „Blut, Dreck, Schweiß und Elend; das Gejammer der Verwundeten und Sterbenden“ – „Vorne bei irrsinniger Kälte. Das Fluchen der russischen Kutscher. Die Stukas“. – „Uffz. Scheer gefallen +, Strieche vermisst. Das Essenholen!! Das Feuer der Scharfschützen.“ – „Morgens Trommelfeuer, das Schlimmste bisher die ‚Stalin-Orgel‘“.
Dazwischen kleine Bunker bauen, Gräben schanzen, Zigaretten, „der wunderbare Cognac“. – „Die entsetzlich kalte, elende Nacht.“ – „4 Wochen nicht gewaschen“, im Halbschlaf „unglaublich nahe und innige Gedanken und Erinnerungen an Anne-Marie, mein Leben …“ Läuse. „Zwei Mann meiner Kp. werden vom eigenen MG erschossen.“ „Lt. Spieß fällt neben mir um 12.40 (Die ‚brauchbaren‘ Dinge!). Die russische dunkle Erde trinkt viel Blut von Lt. Spieß. (Seine Frau: Frau Spieß, Köln-Nippes Auerstr.) Fürbitten für Lt. Spieß.“
Schließlich. Am 2. Dezember: „Abends selbst verwundet“ – an Kopf und Hand, aber nur mäßig. Panjewagen, LKW, Hauptverbandsplatz, kleine Operation.
Drei Tage später wurde Böll mit einer Ju 52 nach Odessa ausgeflogen: „Für 30 Mark Dankesmesse lesen lassen, dass meine Verwundung so glücklich verlaufen ist. Die Russenmädchen. Die entsetzlichen Stukas und Unfreundlichkeit der Sanitäter. Furchtbare Nacht voller Schmerzen ohne Schlaf, die Latrine, beim Arzt! Deutschland?!! Nachmittags zum Arzt, D.L.Z. (Durchgangslazarett) das Zauberwort wird auf meinen Zettel geschrieben. In Erwartung des Herrn Obergefreiten. Das Rattengesicht. Noch eine Nacht in der Sammelstelle zwischen Tripper-Kranken! Schmerzen, Schmerzen.“ Nach diesen dramatischen Wochen versanden die Notate im Alltäglichen: „Mein 8 Wochen Bart fällt durch den russischen Frisör. Entlausung!“
Von den 352 Seiten der Böll-Dokumentation sind allein jene 26 Seiten lesenswert, die von der Schlacht um die Krim berichten, von Verzweiflung, Tod, Schlamm, Durst, Suff, Kampfeszwang und Verwundung. Sie gehören zum Kanon der deutschen Nachkriegsliteratur und in den Schulunterricht. Ohne die überflüssigen Komplettfaksimiles des Kalenders würden sie auf sechs Seiten schrumpfen.
Heinrich Böll: Man möchte manchmal wimmern wie ein Kind. Kriegstagebücher 1943 bis 1945. Hrsg. von René Böll, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2017. 352 Seiten, 22 Euro.
In diesem Stichwortkonglomerat
findet sich
kein oppositioneller Satz
Im Herbst 1943 wurde
Böll mit seiner Einheit
auf die Krim verlegt
Heinrich Böll gehörte zu einer um ihre jungen Jahre komplett betrogenen Männergeneration.
Foto: Sven Simon/ullstein bild
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.12.2017

Mit imaginärem Ausrufezeichen

Heute vor hundert Jahren wurde Heinrich Böll geboren. Mit ihm starb die deutsche Nachkriegsliteratur; niemand stand so programmatisch für sie wie Böll. Zum Jubiläum sind nun drei Bücher erschienen, die sein Leben erklären wollen.

Wer die bedeutendsten, bekanntesten und meistgelesenen deutschsprachigen Schriftsteller des zwanzigsten Jahrhunderts seien, wollte das Allensbacher Institut für Demoskopie im Sommer 2005 wissen. Die Umfrage ergab: In allen drei Kategorien standen Thomas Mann und Bertolt Brecht auf den Plätzen eins und zwei. In Sachen Bedeutung lag Heinrich Böll mit Hermann Hesse auf Rang vier, vor ihnen fand sich mit Günter Grass ein einziger damals noch lebender Autor unter den ersten zehn. Mit Grass teilte sich Böll den dritten Platz in Sachen Bekanntheit, 83 Prozent der repräsentativ Befragten wussten um ihn. Ganz allein auf dem dritten Platz landete Böll bei der Lektürefrequenz. In toto 34 Prozent gaben an, schon einmal etwas von ihm gelesen zu haben, stattliche 46 Prozent konnte er bei den weiland Sechzehn- bis Neunundzwanzigjährigen verbuchen. So sieht das Profil eines Gegenwartsklassikers aus.

Im gerade erschienenen Porträtessay "Heinrich Böll und die Deutschen" teilt Ralf Schnell, emeritierter Germanist der Uni Siegen, einige Erfolgszahlen mit, die das einstige Umfrageergebnis aktuell untermauern. Bölls bis heute bestverkauftes Buch ist die Anti-"Bild"-Erzählung "Die verlorene Ehre der Katharina Blum" (1974), ein effektvolles Exempel gelungener Kolportage - 2,7 Millionen Exemplare. Es folgen das "Irische Tagebuch" (1957) mit 1,9 und der Roman "Ansichten eines Clowns" (1964) mit 1,8 Millionen - Ersteres das Kontrastbuch zur bundesrepublikanischen Borniertheit, Letztere die in den besten Szenen an Becketts "Warten auf Godot" erinnernde Gesellschaftsskizze von existentiell Verlorenen. Auf jeweils knapp eine halbe Million bringen es die Romane "Billard um halb zehn" (1959) und "Gruppenbild mit Dame" (1972), Bölls trotziges Gegenstück zu Fontanes "Effi Briest".

Gestorben ist Böll im Juli 1985, heute vor hundert Jahren wurde er geboren. Seit geraumer Zeit sind seine Person und sein Werk Figuren in einem Schlechte-Laune-Spiel mit Namen "Was bleibt?". Er sei ein guter Mensch gewesen, heißt es, also ein Gutmensch. Seine Romane und Erzählungen seien verblasst, sein politisches und gesellschaftskritisches Engagement wirke zwar wacker, aber etwas anachronistisch. Zu diesen Befunden gibt es Varianten. Mal findet man, Variante eins, das erzählerische OEuvre, die späten Romane "Fürsorgliche Belagerung" (1979) und "Frauen vor Flusslandschaft" (1985) unbegreiflicherweise eingeschlossen, dann doch unterschätzt, also einer wertsteigernden Neulektüre wert. Mal wird, Variante zwei, das Fehlen eines moralischen Mahners von Bölls Kaliber dann doch beklagt und nach einem möglichen Nachfolger, einer möglichen Nachfolgerin Ausschau gehalten. Das Spiel "Was bleibt von Böll?" wird dadurch nicht besser. Es stellt schlicht die falsche Frage. Die richtige lautet: Was ist von der Literatur geblieben - ohne ihn?

Was die Literatur mit ihm war, zeigt sich vor allem an der Aufnahme der frühen Prosa - von "Der Zug war pünktlich" (1949) bis eben zu "Ansichten eines Clowns" (1963). Als im Frühjahr 1953 "Und sagte kein einziges Wort" erschien, der Eheroman im katholischen Kleinbürgermilieu vor der Kulisse des zerbombten Kölns, urteilte Karl Korn, damals Herausgeber und Feuilletonchef dieser Zeitung: "Wenn mich künftig einer fragt, was denn die Deutschen heute an Büchern von wirklicher Kraft und Wahrhaftigkeit vorzuweisen hätten, werde ich den Böll nennen." Nicht unähnlich im Ton wird wenige Monate danach Korns Kritik von Wolfgang Koeppens "Das Treibhaus", dem ersten politischen Roman der Bundesrepublik, konstatieren: "Literatur, wie sie nur selten erreicht wird."

Der neue Böll, der neue Koeppen im selben Jahr. So ging es damals fort, mal mit dem neuen Frisch, dem neuen Dürrenmatt, der neuen Bachmann, bald dem ersten Walser, dem ersten Enzensberger. Zum Mirakel von 1959 mit der "Blechtrommel" von Grass und Johnsons "Mutmaßungen über Jakob" trug auch Böll bei: mit "Billard um halb zehn", dem Kölner Großbürgerreigen fast schon ohne Kriegsruinen, aber mit viel seelischem Kriegs-, Mitläufer- und Schuldgepäck. Karl Korn druckte das Buch im Feuilleton dieser Zeitung vorab und notierte: "Der neue Roman ist anders und ist ein großer Schritt vorwärts . . . Das Buch hat Reife."

Es geht hier nicht um rückwärtsgewandte Sehnsucht, die sich an einstiger Fülle berauscht. Im Gegenteil, die erst im Rückblick sichtbar werdende Hochphase der deutschsprachigen Literatur des Westens - diejenige der DDR ist ein weites, aber sehr anderes Feld - hat Gründe, die in einer zeitlich recht genau zu begrenzenden Öffentlichkeits- und Medienstruktur verankert sind. Die Literatur und die Autoren hatten bis weit in die siebziger Jahre hinein einen entschieden gewichtigeren Anteil am gesellschaftlichen Geschehen als heute - heute sind sie Akteure in einer (noch) komfortablen, (noch) florierenden Nische. Welchen Autor, welche Autorin kennen gegenwärtig 83 Prozent der Leute? Unter den nach dem Zweiten Weltkrieg geborenen Schriftstellern war Elfriede Jelinek in der Allensbach-Umfrage mit 31 Prozent die mit Abstand bekannteste, in allererster Linie wegen des Literaturnobelpreises von 2004. Von ihr etwas gelesen oder im Theater gesehen hatten ganze vier von hundert.

Es gab bis zum Entstehen des Privatfernsehens in der ersten Hälfte der achtziger Jahre und erst recht seit dem Werden und Wachsen des Internets von den mittleren Neunzigern an schlicht weniger mediale Konkurrenz. Es gab weniger Radioprogramme, die dafür weit mehr öffentlich-rechtliche Sendezeit für Wortbeiträge, für Hörspiele, Essays, Features und Gespräche bereitstellten, damit eine ganze Generation von Schriftstellern mäzenierten. Es gab weniger Fernsehen, in dem dafür mehr Autoren interviewt und darüber öffentlich sichtbarer, bekannter wurden. Es gab nicht zuletzt mit der Gruppe 47 eine Autorenvereinigung, die, weil stets umstritten, stets auch ein manifester Faktor war.

Heinrich Böll ist inzwischen der einzig ungetrübte Repräsentant dieser emphatischen Literaturepoche - mit seinem Tod vor gut dreißig Jahren ist sie zu Ende gegangen, fast unmerklich zunächst, weil andere ja publik und präsent blieben. Grass aber, dessen "Blechtrommel" literarisch alles überragt, hat durch das verspätete SS-Geständnis moralisches Gewicht eingebüßt, Martin Walser durch die Paulskirchenrede. Enzensberger ist schon wegen seiner Romanabstinenz nie populär gewesen, Repräsentanz ist seine Sache nicht.

Böll hat von Anfang an nicht nur mit den Verlagen, Literaturzeitschriften und Zeitungen, sondern sofort auch mit den Radiostationen Kontakt aufgenommen, während das frühe Fernsehen meist auf ihn zukam. "Er", schreibt Ralf Schnell, "war ein Autor des Medienzeitalters. Sein literarisches Werk besitzt ein mediales Äquivalent in seiner virtuellen Präsenz." Die ganz spezifische, paraproletarische, etwas bohemehafte, dabei glaubhaft uneitle Böll-Aura mit Baskenmütze und Zigarette ist darüber entstanden. In Interviews pflegte er die Floskel "Verstehen Sie?" einzustreuen, gab der Frage dabei aber stets ein imaginäres Ausrufezeichen mit auf den Weg, ganz so, als wolle er dem jeweiligen Gegenüber ein Erkenntnislicht aufsetzen.

Nicht ohne weiteres zu begreifen war, dass der frühe Böll nie einen anderen Beruf als den des freien Autors in Betracht zog, begann seine persönliche Stunde null doch buchstäblich mit nichts. Viel plausibler geworden ist der Eigensinn durch die Aberhunderte von "Briefen aus dem Krieg", die der notorische Infanterist an seine Familie sowie an seine Freundin und, seit März 1942, an seine Ehefrau Annemarie schrieb. Es sind, der Zensur eingedenk, Briefe eines genuinen, zumindest eines prospektiven Erzählers. Der Böll-Forscher Jochen Schubert hat sie vor sechzehn Jahren in vorbildlicher Sorgfalt ediert (F.A.Z. vom 9. Oktober 2001). "Heinrich Böll", die Biographie des Dichters, die er nun vorlegt, ist hingegen staubtrocken und uninspiriert - nach Heinrich Vormwegs einst ebenso materialreichem wie hagiographischem Zugang zu Leben und Werk (F.A.Z. vom 12. Dezember 2000) ein neuerlicher Fehlversuch.

Tüchtig ist die Nachlass-Strategie von Bölls Erben. 1992, zum 75. Geburtstag, erschien mit "Der Engel schwieg" ein bis dato unpublizierter Roman aus den endvierziger Jahren, der sich als eine Art Böllscher "Urfaust" erwies (F.A.Z. vom 8. Dezember 1992). Den Kriegsbriefen von 2001 folgen nun, ediert vom Sohn René Böll, die bibliophil präsentierten "Kriegstagebücher 1943 bis 1945" in Faksimile, typographischer Umschrift und mit akribischem Stellenkommentar. Aber nein, Tagebücher sind das im Grunde nicht - es sind angstentsetzte Existenzschreie auf Papier. Stets aufs Neue wird "Anne-Marie!" aus Front-, Kasernen- und Lazarettferne herbeibeschworen und herzergreifend angehimmelt, es wird "Gott helfe uns" gebetet und gestammelt, "Kälte, Elend und Hunger" verzeichnet, aber auch "Schmerz um Deutschland". Am 2. Mai 1945, schon im Gefangenenlager, findet sich der trotz aller Christgläubigkeit irritierende Eintrag des Nazigegners Böll: "Hitler Tod Gott sei ihm gnädig". Juden, die Judenvernichtung: keine Notiz. Weil er nichts wusste, nichts wissen wollte, Entdeckung fürchtete? Jedenfalls bildet das Erratische dieser Einträge einen heftigen, psychologisch allerdings völlig plausiblen Kontrast zu den parallel geschriebenen und durchaus kontrollierten Briefen in die Heimat.

Der erste Böll, den ich las, waren Mitte der sechziger Jahre die bereits 1950 erschienenen Kurzgeschichten von "Wanderer, kommst du nach Spa . . ." Die Initiation in eine gerade vergangene Zeit, in die letzte Phase des Kriegs und den unmittelbaren Nachkrieg, die ich selbst nicht erlebt hatte, prägte enorm. Weder mit dem Katholischen noch mit dem Rheinland hatte ich etwas zu tun. Aber die Atmosphäre, die dieser Erzähler heraufbeschwor und spürbar machte, war unausweichlich. Er, Böll, nannte sie "Staub und Stille".

JOCHEN HIEBER.

Ralf Schnell: "Heinrich Böll und die Deutschen".

Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2017. 237 S., geb., 19,- [Euro].

Heinrich Böll: "Man möchte manchmal wimmern wie ein Kind". Die Kriegstagebücher 1943 bis 1945.

Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2017. 351 S., geb., 22,- [Euro].

Jochen Schubert: "Heinrich Böll". Biographie. Hrsg. von der Heinrich-Böll-Stiftung.

Theiss Verlag/WBG, Darmstadt 2017. 344 S., geb., 29,95 [Euro].

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»Was für ein Schmuckstück von einem Buch. [...] Freunde und Sammler werden begeistert sein!« Stefan Berkholz SWR 2 lesenswert 20171020