Anne Wiazemsky, Mein Berliner Kind, C.H. Beck 2010, 260 Seiten, ISBN 978-3-4096-60521-5
Dieses wunderbare Buch der berühmten französischen Filmschauspielerin Anne Wiazemsky, die mit dem nicht weniger berühmten Regisseur Jean-Luc Godard verheiratet ist, ist zweifellos eines der herausragenden
Bücher dieses Sommers. Ich habe mich in diesem Buch regelrecht verloren, bin eingetaucht in die Welt,…mehrAnne Wiazemsky, Mein Berliner Kind, C.H. Beck 2010, 260 Seiten, ISBN 978-3-4096-60521-5
Dieses wunderbare Buch der berühmten französischen Filmschauspielerin Anne Wiazemsky, die mit dem nicht weniger berühmten Regisseur Jean-Luc Godard verheiratet ist, ist zweifellos eines der herausragenden Bücher dieses Sommers. Ich habe mich in diesem Buch regelrecht verloren, bin eingetaucht in die Welt, die sie beschreibt, die Welt in Mitteleuropa zwischen 1944 und 1947, in die Welt der französischen Resistance und die Welt von jungen Menschen, wie Claire Mauriac, deren Erlebnisse in diesen Jahren ihre Tochter Anne 2009 aufgrund von Tagebüchern, Briefen und Gesprächen mit der einzig noch lebenden Zeitzeugin aufgeschrieben hat.
Claire Mauriac ist die Tochter des französischen Literaturnobelpreisträgers Francois Mauriac, ein Mann, den sie liebt und verehrt, der ihr aber relativ kühl und distanziert begegnet. In der Arbeit beim französischen Roten Kreuz im zunehmend sich von der nationalsozialistischen Besetzung befreienden Frankreich und später dann im befreiten Berlin, von wo aus sie mit ihren Freunden hauptsächlich Elsässer aus der russischen Gefangenschaft herausholt, findet sie eine Erfüllung und einen Lebenssinn mitten in der Gewalt und dem Elend dieser Jahre. Vor allen Dingen wird sie dort als junge Frau akzeptiert und nicht andauernd als „Tochter von Mauriac“ ihrer eigenen Identität beraubt.
Wie Claire und ihre Freunde, die in Berlin eine große Wohnung miteinander bewohnen, von der sie zu ihren nicht ungefährlichen Aufträgen aufbrechen, dem allgegenwärtigen Elend, dem Hunger der Deutschen und den unzähligen Verletzten und Toten, die sie pflegt und betreut, ins Auge sieht, ohne zynisch oder depressiv zu werden, hat mich sehr beeindruckt, und mich lange darüber nachdenken lassen, woher diese Generation eine Kraft genommen hat, die den meisten der heutigen Generation schon bei weit weniger schlimmen seelischen Belastungen fehlt. Meine Schwiegermutter ist mir dafür ein fast tägliches Beispiel. Bewegend auch jene Szenen, wo für Claire angesichts des Elends immer öfter die vorher während des Kriegs so klare Grenze zwischen Tätern und Opfern verschwimmt und sie in den Gesichtern der Deutschen auch Anderes wahrnimmt. So wird sie zu einer der ersten Protagonistinnen der später erst in großem Stil möglichen Aussöhnung zwischen Deutschen und Franzosen.
In Berlin lernt die den politischen Flüchtling Yvan Wiazemsky kennen, ein Sohn einer bis ins 7. Jahrhundert zurückreichenden russischen Fürstenfamilie, die nach der Oktoberrevolution in Ungnade fiel und nach Frankreich flüchten musste. Mit ihm beginnt Claire eine Beziehung und ihre schwierige und dennoch einzigartige Liebesgeschichte nimmt den Leser über weite Strecken des Buches gefangen. Obwohl für diese Zeit ungewöhnlich, geben beide Familie zu Ihrer Ehe ihren Segen.
„Mein Berliner Kind“, so wird die Tochter Anne nach ihrer Geburt genannt, ist ein bewegendes literarisches Zeugnis, das von Liebe und Freundschaft, von Solidarität und Völkerverständigung erzählt. Ein Buch, das die Schriftstellerin Anne Wiazemsky auf der Höhe ihres Schaffens zeigt.