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»Ein Roman wie von Dostojewski.« Hannes Stein, Rheinischer MerkurMaxim Billers erster Roman erzählt die Geschichte einer verzweifelten Suche nach Glück und Erlösung: Der Israeli Motti Wind will im München der 90er Jahre die Schrecken des Libanonkrieges vergessen und ein neues Leben beginnen. Aber die Beziehung mit seiner deutschen Frau Sofie scheitert, und Motti flieht in eine neue, gefährliche Liebe - die Liebe zu der gemeinsamen Tochter Nurit.Mottis Leidensgeschichte kulminiert an einem einzigen Tag. In verblüffenden Wendungen treibt uns der Autor durch das Lebenslabyrinth seines Helden,…mehr

Produktbeschreibung
»Ein Roman wie von Dostojewski.« Hannes Stein, Rheinischer MerkurMaxim Billers erster Roman erzählt die Geschichte einer verzweifelten Suche nach Glück und Erlösung: Der Israeli Motti Wind will im München der 90er Jahre die Schrecken des Libanonkrieges vergessen und ein neues Leben beginnen. Aber die Beziehung mit seiner deutschen Frau Sofie scheitert, und Motti flieht in eine neue, gefährliche Liebe - die Liebe zu der gemeinsamen Tochter Nurit.Mottis Leidensgeschichte kulminiert an einem einzigen Tag. In verblüffenden Wendungen treibt uns der Autor durch das Lebenslabyrinth seines Helden, durch Erinnerung und Imagination, Wahn und Wirklichkeit. Gelungen ist Biller ein Stück aufregender schwarzer Prosa und zugleich ein ganz eigener Blick auf die Gegenwart durch das Auge der Literatur.
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Autorenporträt
Maxim Biller, geboren 1960 in Prag, lebt seit 1970 in Deutschland. Er ist Autor der Romane »Esra« und »Die Tochter«, der Erzählbände »Liebe heute«, »Bernsteintage«, »Land der Väter und Verräter« und »Wenn ich einmal reich und tot bin«, der Essaybände »Die Tempojahre« und »Deutschbuch« sowie des autobiographischen Bands »Der gebrauchte Jude«; darüber hinaus schreibt er Theaterstücke (»Kanalratten«) und Kolumnen. Zuletzt erschienen seine Novelle »Im Kopf von Bruno Schulz«, sein monumentaler Roman »Biografie«, der Roman »Sechs Koffer«, der auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis stand, der Erzählband »Sieben Versuche zu lieben. Familiengeschichten« sowie der Roman »Der falsche Gruß«.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.03.2000

Beglückend wie die Nähe von Galeerensklaven auf der Ruderbank
Wo Hass und Liebe eins sind: Maxim Biller hat einen großen Roman über die gegenwärtige Vergangenheit geschrieben / Von Thomas Wirtz

Vierhundertsechsundzwanzig Seiten kann kein Polemiker. Mit nur einem Lungenflügelschlag erschöpft er sich lieber über die Kurzdistanz der Tirade, spurtet er dem Gegner leidenschaftlich in die offenen Arme oder dribbelt atemraubend auf der Stelle. Die Kondition des Polemikers bevorzugt das Spiel aus dem Erregungsstand, den trockenen Blattschuss auf engem Zeilenraum, die Blutgrätsche mit Erholungspause. Auf die lange Strecke würde ihn auch das langsamere Argument überholen.

Als Maxim Biller für die spurtbewegte Zeitschrift "Tempo" schrieb, hieß seine Kolumne "100 Zeilen Haß". Dies ist das Längenmaß des Polemikers, der eben kein Spielfeld von epischer Breite durchlaufen will. Auch Billers Erzählungsbände wählten die kleine Form, mikroskopierten den Aberwitz oder falteten die Jahrzehnte eines ganzen Lebens auf die Handlichkeit eines Steckbriefs zusammen: Die Einsamkeit des Langstreckenläufers war daraus nicht zu erfahren. Und nun vierhundertsechsundzwanzig Seiten. Auf dem Deckblatt prangt unter dem Titel "Die Tochter" die Gattungsbezeichnung "Roman" in einer kaum kleineren Schrift, als sei sie das eigentliche, das unübersehbare Ereignis: der ehemals begriffsschlaksige Hässling nun im Breitwandformat. Maxim Biller ist aus der zeilenerregten Polemik in die große, weite Literatur gesprungen - und mit beiden Beiden sicher gelandet. Sein Roman "Die Tochter" verleugnet die alte Besessenheit nicht, die Lust am Veitstanz im Minengelände der deutsch-jüdischen Geschichte, doch bändigt er den Bewegungsdrang mit strenger Disziplin. Wenn bei diesem Buch noch jemandem der Atem stockt, dann ist es der Leser.

"Als Motti Wind nach zehn langen, bedrückenden Jahren seine Tochter Nurit wiedersah, hatte sie fast gar nichts an." So lautet der erste Satz, und mit ihm endet die Entblößung noch nicht. Denn der Eingang nimmt für die Tochter vorweg, was dem Vater ein ganzes Buch hindurch abverlangt wird: die pornografische Erniedrigung, die ihm das Seelenkostüm bis zum letzten Fetzen zerreißt. Seine Geschichte ist die des einen handlungsarmen Tages in München, der durchsetzt ist von Rückblenden: der Jugend in Tel Aviv, der Teilnahme am Libanon-Krieg, der Emigration nach Deutschland, wo Motti heiratet, Vater wird, von der Familie sich trennen muss, zehn Jahre allein bleibt. Und seitdem die Sonntage mit der Videothek teilt.

Lange hat Motti den Videoangriff auf die männliche Netzhaut hinausgezögert. Er kleidet das Mädchen, das sich vor ihm auf dem Schirm auszog, mit einer Biografie ein: Erstaunt ist er über die gepflegte Erscheinung der Körperakrobatin, was er ihrer gutbürgerlichen Vergangenheit zuschreibt. Sorgende Eltern denkt er sich, die das junge Mädchen mit einer Daunendecke gegen die Nachtluft schützten, Abende im Konzertsaal, Tage in der Bibliothek. Was auf dem Schirm flimmerte, wird von diesem inneren Bildungsfilm überblendet. Das Stöhnen verschwindet im Hintergrundrauschen, vor dem die ausgedachte Idylle ihre unerregten Akzente setzt.

Biller hat an den Anfang seines Buches dessen Leitthema gesetzt: die wüste Dissonanz von Wahrnehmung und Gedanke, die Mauerschau auf der Kopfbühne. Was unmittelbar angeschaut werden muss, taucht unter im Fluss der rauschenden Assoziationen, dessen Strömung reißender ist als jeder bilderflutende Moment. Aus dem Widerspruch zwischen gefilmtem Sex und gedachter Sorge ersteht der väterliche Liebesroman. Mottis Anhänglichkeit hat die zehnjährige Trennung überdauert und damit den Beweis ihrer Unbedingtheit angetreten. Die Abwesenheit der Tochter, so will es der alte Topos der Fernliebe, ist Bedingung des fortdauernden Gefühls. Als Sehnsucht nach dem Untergetauchten, Verschwundenen hat es seinem Leben einen blinden Fleck gegeben. Lieben musste seitdem immer nur der Kopf. Heute sollen auch die Füße nach der Tochter suchen.

Doch der Kopf ist in diesem Roman nur eine wild gewordene Maschine, eine betriebsame Fehlfunktion. Motti ist Herr und Knecht dieser Kopflosigkeit des Denkens, seine Gedankenarbeit eine Zwangshandlung, die den Regelverstoß auf Dauer setzt, alles - israelische Heimat, der Krieg, die Ehe, das Kind - nur ein Eintopf von Lebensdichtung und Faktenwahrheit. Der traurige Held geht in die selbst gebaute Falle - und mit ihm der Leser, der Mottis Behauptungen Vertrauen vorschießt. Den Figuren anfänglich zu glauben ist Bedingung jeder Lektüre, und Billers Plan sieht vor, diese Gemeinsamkeit bis zur vollkommenen Zerstörung aufzukündigen, um neue Abhängigkeit darauf zu bauen. Motti ist der Köder, mit dem er Leser angeln geht.

Denn Mottis entsetztes Glück, seine Tochter Nurit gänzlich bloßgestellt wiederzusehen, macht Biller zum Albtraum des Lesers. In dem Moment, als der Vater im gefilmten Angesicht der Tochter masturbiert, wird der Leser zu seinem Komplizen. Von nun an darf er nicht mehr hoffen, in einem solchen Helden einen Verbündeten auf verschlungenen Romanwegen zu haben. Mottis Höhepunkt ist des Lesers Absturz, ihre Gemeinschaft fortan so beglückend wie die Nähe von Galeerensklaven auf der Ruderbank.

Zur klassischen Moderne hat es die Literatur am Anfang des letzten Jahrhunderts nicht zuletzt durch ihre strenge Architektur gebracht. Ihre Experimente galten damals den Baugesetzen, die der zerfallenen Welt einen zeilengenauen Masterplan entgegenstellten. Im ruinierten Haus des Seins spielte die Literatur den formvollendeten Türhüter. Dieser Versuch, die Unordnung mit Genauigkeit wieder zu überbauen, teilte die Literatur mit Freuds Psychoanalyse. Deren archäologische Metapher, das schichtenweise Freilegen einer Urgeschichte durch feinmotorische Traumarbeit, entstammt dem gleichen Geist: Überwinden der Anarchie durch ihre benennende Wiederholung.

Maxim Biller - und das ist sicher die überraschendste Erkenntnis nach seinem ersten Roman - ist ein bis in die kratzende Wolle hinein eingefärbter Traditionalist, ein Freud-Joyce-Musil-Leser. Seinen einsamen Helden - schon er eine Verbeugung vor der alten großen Zeit - lässt er in die Keller der Erinnerung hinabsteigen und bricht zugleich alle Treppen hinter ihm ab. Unrettbar verliert Motti sich in diesem dunklen Labyrinth, weil die Grubenlampe des Denkens blind geworden ist. Wie Freud erträumt er sich im Erinnern die Rettung, wie Leopold Bloom findet er in einem einzigen Tagestaumel durch München sein ganzes Leben, wie Ulrich macht er Gott und den Inzest zu seinen Weggefährten. Dieser Traditionalismus, dem sich Biller verschreibt, ersetzt Neuerungssucht durch Komplexität. Den Stammvätern des Romans treu ergeben, ist "Die Tochter" von gleicher staunenswerter Anhänglichkeit an die eine formgewordene Idee, an die Literatur als Monumentalarchitektonik. Ihr Wagemut ist, in der Polemik gegen den gut gelaunten Betrieb der Gegenwart auf den beschwerlicheren Gesetzen des Handwerks zu bestehen.

Mottis Gang in den Keller folgt dem analytischen Verfahren. Die Vergangenheit, dauernd präsent an diesem Tag, ist ein verzweigtes, nur langsam zu durchlaufendes Gebäude. Im Jahr 1982 floh er vor einer eigenhändigen Gräueltat im Libanon-Krieg ausgerechnet nach Deutschland. Dort, so sagt ihm die Erinnerung, lebte er im "Totenland" mit Sophie, die seinetwillen zum Judentum konvertierte. Seine Liebe aber dankte diese blonde Frau mit Apathie und Selbstmorddrohungen, die sich bei der Geburt ihrer Tochter verschärften. Nurit machte der Vater zu seiner symbiotischen Komplizin im Kampf gegen die deutsche Mutter, eine "kleine, stumme Königin", die er in seiner Obhut verschloss. Deutschland bleibt für ihn das Land der Richter, der Henker und zugleich der entfernteste Ort vom Selbstbehauptungswillen des todbringenden, aggressiven Israel. Vor dessen Kriegen gegen die Palästinenser ist er zum historischen Feind übergelaufen, mit dem er nichts als Auschwitz-Erzählungen teilt.

Was an dem einen Tag mit Motti geschieht, ist ein Stationendrama von biblisch-psychoanalytischen Ausmaßen. Je tiefer der Archäologe seiner selbst in den Erinnerungen schürft, desto ungeheuerlicher sind die Funde und desto unumkehrbarer ist sein Verfall. Gesammelt werden Symptome einer Krankengeschichte aus dem Geiste Pschyrembels: Der Tag ist nur mit Psychopharmaka zu überstehen, die Wahrnehmung zerfällt in Vexierspiele, Halluzinationen sind der Alltag der Kranken. Am tiefsten verschlossenen Punkt wütet der jahrelange Inzest mit seiner Tochter. Die Länge des Romans ist Mittel einer für den Leser schmerzhaften Strategie. Nur allmählich schreitet die Verfallsanalyse voran, nur stockend werden Heilslügen zertrümmert, mit denen der Kranke das unerträgliche Geheimnis zum eigenen Schutz ummauert hat. Als erst nach dreihundert Seiten aus den kleinen Andeutungen die eine große Tatsache zu werden scheint, ist der Leser mitgefangen. Er kann sich der Zumutung des Inzests nicht entziehen, weil seine Neugier ihn über die erste Buchzeile hinweggestoßen hat. Die Länge des Romans ist so Bedingung einer Komplizenschaft mit dem Leser. Als Seelenvoyeur hat er das Abwenden versäumt. In seinem Kopf ist nun eingeschlossen, was den zerstörten Helden in die Emigration der Verdrängungen getrieben hat. Er teilt mit ihm eine Geschichte, die ihm nur die unterlassene Lektüreleistung des ersten Satzes erspart hätte.

Diese peinigende Anteilnahme, die Verwandlung des Beobachters in den Mitwisser, wiederholt eine andere, wichtigere Dialektik. Denn Biller hat das Inzest-Motiv nicht wegen seines Erregungswerts gewählt. Was ihn interessiert, ist der Umschlag des schändenden Täters in das Opfer: Das Vergehen an der Tochter ist im selben Moment schon Beginn der Strafe, der Verfall faltet nur in die Zeit aus, was mit der einen Tat begann. Mottis Bedürfnis, die Tochter vor der vermeintlichen Kälte seiner Frau in Schutz zu nehmen und einen Kordon an Zuwendung um sie zu legen, schließt einen Teufelskreis. Mit der Flucht nach Deutschland, die Israel und dessen kollektive Schuld im Libanon vergessen wollte, hoffte Motti aus der öffentlichen, auferlegten Geschichte herauszutreten. Stattdessen aber hat er sie nun in die private Biografie hineinverlängert. In seinen Tagträumen muss er das Morden wiederholen, die Ermordeten immer wieder begraben.

Biller hat sein Thema weiter ausgeschrieben. "Die Tochter" ist ein Roman über die jüdische Vergangenheit, die Übertragung historischer Schuld an die Opfer, die Vergewaltigung einer ganzen Generation durch ihre Erzeuger; und er ist ein Exempel ohne Zwang, eine Parabel ohne Lehre. Denn mit einem genuin erzählerischen Verfahren wendet Biller den Vorwurf ab, lediglich die pathologische Beschädigung eines Vereinzelten vorgeführt zu haben.

Über wenige Nebensätze hat Biller die Auftritte eines Ich-Erzählers verstreut, der Mottis Stationenweg durch München wie zufällig kreuzt. Erst am Ende erfährt man die namenlose Identität dieses Ich, eines jüdischen Schriftstellers. Er hat - so erfahren wir aus einer zweiten, wieder verschachtelten Analyse - sein eigenes Leben diesem Motti an den Hals geschrieben, indem er aus den wenigen ihm bekannten Tatsachen eine unhaltbare Inzest-Geschichte erfand. Das ganze Leben eine Lüge, eine Projektion. Sein eigenes privates Scheitern - die Unfähigkeit, das Totenland zu verlassen, die Trennung von seiner zum Judentum konvertierten Frau - hat er zu einem Szenario gesteigert, mit dem er stellvertretend seinen Bekannten Motti belastet. Diesen macht er zum Sündenbock für die unmögliche Assimilation, zum Lastesel des eigenen Versagens. "Auf einmal kam ich mir vor wie Motti": Das projizierte Elend schlägt so auf seinen Urheber zurück.

Maxim Billers Roman ist ein hochambitioniertes Unternehmen, das seinen Kunstwillen meist verbergen kann. Die analytische Technik, der Selbstverrat eines Verratenen, baut eine Subtilität in die große Form auf, die über Unebenheiten im Detail hinwegträgt. So unauffällig wird Wirklichkeit widerrufen, so virtuos Liebe als Kehrseite des Selbsthasses vorgeführt, dass der Leser in seiner Aufmerksamkeit nicht nachlassen darf. Solcher Ernst ist schwer erträglich, und er ist ein Glück. Seine Entdeckung sollte man nicht anderen überlassen.

Maxim Biller: "Die Tochter". Roman. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2000. 426 S., geb., 45,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.03.2000

Motti im Totenland
Maxim Biller legt nach zwei Bänden mit Erzählungen seinen ersten Roman vor: „Die Tochter”
Motti ist unglücklich, sein Geist verwirrt. Letzteres merkt man jedoch erst allmählich. Zumal da er ganz am Anfang einfach nur als ein übles Machowrack erscheint. Denn Maxim Biller, der Mottis Geschichte erzählt, hat mit seinem Gespür für knallige Effekte gleich drei topaktuelle Köder aufgeboten, um die Leserneugier auf den Haken zu nehmen: Pornografie, Masturbation und Kindesmissbrauch.
Motti sitzt zuhause im verdunkelten Zimmer und legt Hand an sich, während er zusieht, wie seine Tochter in einem Sex-Video dasselbe tut. So lässt es Biller in seinem ersten Roman Die Tochter (nach zwei Erzählbänden) scharf angehen. Die sehnsüchtige Innigkeit, mit der sich Motti in den Anblick des Mädchens vertieft, signalisiert allerdings, dass es mit dieser Szene noch eine andere, nicht ganz so verwerfliche Bewandtnis hat.
Denn Motti hat eine verfahrene, heillose Lebensphase hinter sich und auch für seine Zukunft gibt es keine greifbaren Hoffnungszeichen. Es begann damit, dass er sich in die falsche Frau verliebte und ihr in das falsche Land folgte. Nachdem Mordechai Wind, genannt Motti, aus der israelischen Armee mit einigen traumatischen Erinnerungen an den Libanonkrieg entlassen worden war, lernte er zufällig die deutsche Touristin Sophie kennen. Verführt vom völkerverbindenden Impuls der erotischen Neugier verliebte er sich in sie, einfach weil sie anders war als die Mädchen die er kannte: blonder, stiller, zurückhaltender. Er ging mit ihr nach München, wo ihnen die Tochter Nurit geboren wurde. Doch dann begann sich schon bald alles ins Schlimme zu wenden.
Sophie entpuppte sich als depressiv-egozentrische, kommunikationsgestörte Leistungsneurotikerin, die nur in Momenten der Regression ein bisschen zärtlich mit ihrem Mann sein konnte, doch so gut wie nie mit ihrer Tochter. Sophies Eltern erwiesen sich als Harlachinger Villenspießer mit sonntäglichen Zwangsritualen. Mottis Jeansladen war ein Reinfall, sein Posten als Sicherheitsmann bei der jüdischen Gemeinde frustrierte ihn, und in seinem aktuellen Job als Nachhilfelehrer für konversionswillige Christentöchter leidet er unter seinen dämlichen Klientinnen, mit denen er auch noch schlafen muss.
Als der Roman einsetzt, hat Motti seinen Tiefpunkt erreicht. Er ist längst von Sophie getrennt (die einen anderen Israeli geheiratet hat), und auch seine heißgeliebte Tochter Nurit hat er seit zehn Jahren nicht mehr gesehen. Was ihn vor Sehnsucht und Schmerz schier verrückt macht. So taumelt er denn, nachdem er sich vor dem flimmernden Videobild seiner Tochter verausgabt hat, durch die Münchner Straßen und bedenkt in wild durcheinandergehenden Rückblenden sein bisheriges Leben und wie alles gekommen ist. Fast mutet das wie ein gewaltsamer Sog des Erinnerns an. Biller spricht über Motti in der dritten Person als allwissender Erzähler und er tut das mit dem Unterton der sympathetischen Identifikation auf wahrhaft mitreißende Weise.
Dieser rasante und nie stockende erzählerische Drive ist fraglos das Beste an dem ganzen Roman. Da fällt es auch kaum ins Gewicht, wenn beim Ausmalen von Mottis Vaterliebe und Leid gelegentlich einiges Schmalz aufgetragen wird. Mit diesem beredten, virtuos zwischen Themen und Gegenständen wechselnden Erzählfluss scheint Biller genau das im Überfluss vorführen zu wollen, was in seinen Augen den Büchern anderer deutscher Autoren fehlt: eine Fülle an Wirklichkeitsstoff, das Temperament, dem Lachen und Weinen gleich nahe sind, Gefühl, Zärtlichkeit und, ja, wahrscheinlich auch Angriffslust.
Die schrecklichen Deutschen
Denn dieser beklagenswerte Simplicissimus Motti ist zwar als Hauptfigur ein sehr gut gewählter Schalldämpfer für Billers polemischen Impetus. Aber des Autors Vorliebe für Schwarz-Weiß-Malerei wird dadurch nicht im mindesten gemildert. Wobei das Schwarz auf jeden Fall immer pauschal für alles reserviert bleibt, was – zu Recht oder Unrecht – sich irgendwie mit dem Adjektiv „deutsch” verknüpfen lässt.
Darum sind die Schicksalsschläge, die auf den armen Motti niederprasseln, auch immer und ausschließlich „Made in Germany” – und das hat nichts mit seinem Wahn zu tun, sondern mit den Überzeugungen seines Autors.
Für die gedankliche und erzählerische Differenzierung ist das natürlich kein Vorteil. So funktionieren Mottis Beobachtungen im deutschen Raum ein bisschen zu sehr nach dem Muster des bekannten Touristenwitzes, in dem die Frage „Wie war’s?” mit der Antwort beschieden wird: „Das Land wäre ja wunderbar, wenn es nur nicht diese schrecklichen Bewohner gäbe. ”
Die schrecklichste Deutsche ist Sophie. Und obwohl sie eigentlich ziemlich unverkennbar als pathologischer Fall gezeichnet wird, besitzt ihre Figur dennoch einen repräsentativen Status: Von „Sophies Totenland” ist da fortwährend die Rede, und so tot, verstockt, kalt und affektgehemmt sind in Mottis Augen mehr oder weniger alle Deutschen. Während in Israel zwar auch manches im Argen liegt, aber ansonsten alle wunderbar lebendig sind. Es gibt ja in der Literatur eine ganze Reihe von Geschichten über das Scheitern der Beziehungen jüdischer Männer zu anfangs heiß begehrten „Schicksen” – unter anderem von Philip Roth und Saul Bellow. Aber so eine schlicht konstruierte Negativfigur wie Sophie findet man sonst nirgendwo.
Lust am Vorurteil
Alles in allem erzählt Biller also nicht einfach die Geschichte eines unglücklichen Mannes. Mehr als das ist Motti – darüber lässt der Roman keinen Zweifel – das neueste jüdische Opfer der schrecklichen Deutschen. Und dabei bleibt er nicht allein, weil es seinem Erzähler, wie sich allmählich herauskristallisiert, nicht besser ergeht.
Denn nachdem er schon zuvor hin und wieder durchs Bild gehuscht ist, tritt der allwissende Erzähler auf Seite 367 (nun mit auktorialen Kompetenzen ausgestattet) gänzlich in den Vordergrund. Was nicht heißt, daß diese Persona mit der Person Maxim Billers gleichzusetzen wäre, obwohl der demonstrativ (und auch hier wieder in Roth’ Fußstapfen) mit dem Gleichheitszeichen spielt. Jedenfalls erfährt man, dass der Erzähler die Geschichte seines entfernten Bekannten Motti deshalb so mitfühlend wiedergeben konnte, weil er selbst einen Teil seiner eigenen Beziehungsschwierigkeiten mit der Deutschen Marie in ihn hineinprojiziert hat. Zugleich hat er dadurch sein eigenes Schwarz-Weiß-Bild bekräftigt. Denn er frönt seiner Lust am Vorurteil – dem Hass auf Deutschland, wie er einmal sagt – so unverblümt wie einer gewissen Selbstüberhebung, die man auch aus Billers Kolumnen kennt.
Das Bekenntnis des Erzählers zur radikalen Eindimensionalität schränkt seinen Gesichtskreis ziemlich ein. Das Ceterum censeo von Billers Kritik an Deutschland lässt sich aus diesem Roman etwa folgendermaßen ablesen: Selbst wenn die Deutschen gerade mal nicht mit Mord und Totschlag beschäftigt sind, schrecklich bleiben sie auf jeden Fall.
Diskutabel ist das kaum noch, daher wird man es schlichtweg als Marotte des Autors verbuchen müssen. (Oder soll man darin etwa eine Art von Opferkinderchauvinismus gegenüber dem unverbesserlichen „Tätervolk” sehen, der eben als verdiente Revanche ergeben hinzunehmen wäre?) Solange diese Haltung in die beklemmende Perspektive des Romanhelden Motti eingelagert bleibt, wird eine gewisse Schlüssigkeit immerhin gewahrt. Und wenn sie dann im letzten Teil durch den Erzähler als seine eigene entschiedene Position bekräftigt wird, kann man wenigstens noch der Frage nachgehen, was der Hass als literarischer Erregungsquell zu leisten vermag. Womit es Maxim Biller geschafft hätte, eine ergreifende, spannend erzählte Geschichte mit einer nicht mehr ganz frischen Provokation zu vermischen, von der man nur hoffen kann, daß er wenigstens selber weiß, was er damit erreichen will.
EBERHARD FALCKE
MAXIM BILLER: Die Tochter. Roman. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2000. 428 Seiten, 45 Mark.
Maxim Biller. Sein hier besprochener Roman Die Tochter erscheint zu Beginn der kommenden Woche.
Foto: Bert Nienhuis
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Ein großer Roman der großen Form an großen Vorbildern geschult: Thomas Wirtz ist nicht kleinlich in seinem Lob für diesen Debütroman. Hier ist, so Wirtz, "Literatur als Monumentalarchitektur" zum Ereignis geworden - und das von einem Autor, der sich bisher eher als Polemiker und Erzähler einen Namen gemacht hat, der sich mit seinem Roman jedoch als Traditionalist und "Freud-Joyce-Musil-Leser" entpuppt. Wirtz entfaltet in der Besprechung seine Thesen zu Biller als Romancier neben der Nacherzählung des Romans: der in Deutschland lebende Israeli Motti sieht in einem Pornostreifen seine Tochter als Darstellerin; daraufhin verbringt er einen Tag (in München) als Erinnerungsgang durch sein Leben und legt Schicht um Schicht frei, was Billers Thema auch hier wieder ist: "der Veitstanz im Minengelände deutsch-jüdischer Geschichte". Nebenher gibt es allerdings noch einen - durchaus vage und hintergründig bleibenden - Ich-Erzähler, der sich den Inzest seines Freundes Motti mit der Tochter zusammenreimt. Ein äußerst ehrgeiziges Schreibprojekt, das Liebe und Hass virtuos überblendet, urteilt Wirtz und rät dringend zur Lektüre.

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