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Macht der Kapitalismus wenige reich und viele arm - oder immer mehr immer weniger arm? Nicht erst seit der Finanzkrise ist es wieder üblich geworden, den Kapitalismus für fast alle Übel der Welt verantwortlich zu machen. Dem setzt der renommierte Wirtschaftshistoriker Werner Plumpe die Geschichte des Kapitalismus entgegen, die zeigt, wie viele Probleme die kapitalistische Marktwirtschaft gelöst hat - und nur diese. Denn «der» Kapitalismus ist kein System, sondern eine Art der Wirtschaft, bei der der Konsum im Mittelpunkt steht - und zwar der Konsum gerade der wenig vermögenden Menschen, die…mehr

Produktbeschreibung
Macht der Kapitalismus wenige reich und viele arm - oder immer mehr immer weniger arm?
Nicht erst seit der Finanzkrise ist es wieder üblich geworden, den Kapitalismus für fast alle Übel der Welt verantwortlich zu machen. Dem setzt der renommierte Wirtschaftshistoriker Werner Plumpe die Geschichte des Kapitalismus entgegen, die zeigt, wie viele Probleme die kapitalistische Marktwirtschaft gelöst hat - und nur diese. Denn «der» Kapitalismus ist kein System, sondern eine Art der Wirtschaft, bei der der Konsum im Mittelpunkt steht - und zwar der Konsum gerade der wenig vermögenden Menschen, die jahrhundertelang ihrem Schicksal überlassen waren. Nur so ist die ökonomisch erfolgreiche Massenproduktion möglich. Das hat früh Kritik auf sich gezogen, aber Plumpe zeigt, wie die kapitalistische Art des Wirtschaftens darauf reagiert hat, sich immer wieder wandelt.
Der Kapitalismus ist folgenreich wie wenige andere Ideen, und wir entkommen ihm nicht, nicht mal in der Verweigerung. Ihm liegt weder ein böser Wesenskern zugrunde, noch ist er die Summe missliebiger Begleiterscheinungen unseres Gesellschaftssystems. Plumpe zeigt den Kapitalismus als immerwährende Revolution - als eine Bewegung ständiger Innovation und Neuerung, die so gut oder schlecht ist, wie wir sie gestalten. Der Kapitalismus ist und war schon immer das, was wir aus ihm machen.
Autorenporträt
Werner Plumpe, geboren 1954 in Bielefeld, ist Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Bis 2012 war er Vorsitzender des deutschen Historikerverbands. 2010 erschien 'Wirtschaftskrisen. Geschichte und Gegenwart', 2012 'Wie wir reich wurden' (mit Rainer Hank) und 2014 'Die Große Depression' (mit Jan-Otmar Hesse und Roman Köster). Ebenfalls 2014 erhielt Werner Plumpe den Ludwig-Erhard-Preis für Wirtschaftspublizistik.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.03.2019

Die permanente Revolution
Arbeit, Technik und Konsum für Massen: Der Wirtschaftshistoriker Werner Plumpe erzählt die
Geschichte des Kapitalismus neu, einer „Ökonomie der armen Leute und für arme Leute“
VON DIRK BAECKER
In Werner Plumpes großartiger Geschichte des Kapitalismus hat dieser einen entscheidenden Defekt. Er erkauft die Vorteile einer immer kapitalintensiveren Produktion mit den Nachteilen der Abhängigkeit der Arbeit. Das ist kein Widerspruch, der den Kapitalismus irgendwann zwingt, sich selbst aufzuheben, sondern eine unvermeidliche Randbedingung einer Massenproduktion für den Massenkonsum, die ohne massiven Kapitaleinsatz nicht möglich ist. Karl Marx stellte sich vor, dass die Vergesellschaftung der Produktionsmittel zu einer humanen Gesellschaft führt, die ohne dieses Moment der Abhängigkeit auskommt, doch Plumpe argumentiert mit John Maynard Keynes, dass eine kapitalintensive Industrie hohe Investitionsquoten voraussetzt, die wiederum nur möglich sind, wenn dem Produktionsprozess ein Vermögen entnommen wird, das gespart und reinvestiert werden kann.
Soziale Ungleichheit ist damit unvermeidbar. Die einen arbeiten und konsumieren; die anderen lassen arbeiten und investieren. Das gilt auch dann, wenn das Privateigentum in modernen Ökonomien nicht mehr unbedingt in der Hand identifizierbarer Kapitalisten, sondern einer breit gestreuten Menge von Aktionären, Pensionsfonds und Ähnlichem ist.
Dieser Defekt des Kapitalismus ist die Kehrseite einer überwältigenden Erfolgsgeschichte, die Plumpe in angemessener Ausführlichkeit und immer wieder gelingender Zuspitzung auf überraschende Einsichten erzählt. Man sieht dem Buch an, dass es die Summe einer jahrzehntelangen Arbeit und einer intensiven Auseinandersetzung mit der klassischen ebenso wie der neuesten Literatur ist.
Der neueste Forschungsstand bestätigt nicht immer die Theorien der Klassiker. So kann Plumpe mit dem Wiener Wirtschaftshistoriker Michael Mitterauer zeigen, dass weder der Luxuskonsum, den Werner Sombart für die Ausbreitung des Handwerks und Gewerbes in der frühen Neuzeit verantwortlich macht, noch die protestantische Ethik, die für Max Weber Prämien auf ein arbeitsreiches Leben setzt, den Take-off des Kapitalismus begründen, sondern die Roggenkultur. Der Roggen wächst auf schweren Böden, die nur durch den Einsatz entsprechend schweren Geräts, vor allem von Pflügen, bearbeitet werden können. Dies führte bereits im 8. und 9. Jahrhundert unter der Bedingung einer relativ freien Grundherrschaft zu einer Allianz zwischen Bauern und Handwerkern sowie zu einer Steigerung der Produktivität, sodass eine wachsende Bevölkerung der Städte ernährt werden konnte, die wiederum für einen einigermaßen berechenbaren Absatz sorgten.
Dieses Dreigestirn von angebotselastischer Arbeit, Technikeinsatz und marktabhängigem Konsum ist die Maschine, die den Kapitalismus seither antreibt. Kapitalismus, so definiert Plumpe, ist eine Wirtschaftsform, die durch hohen Kapitaleinsatz Massenproduktion für den Massenkonsum ermöglicht.
Er unterstreicht die Pointe, die in dieser Definition liegt. Der Kapitalismus ist eine „Ökonomie der armen Leute und für arme Leute“. Er löst die Unterbeschäftigungskrise, die im Ausgang aus dem Mittelalter endemisch wird, durch das Angebot von abhängigen Arbeitsplätzen und er versorgt eine wachsende Bevölkerung mit erschwinglichen Gütern und Leistungen. Mit der Paradoxie, dass die Arbeit ausgebeutet werden muss, um die Arbeiter mit den Gütern und Dienstleistungen zu versorgen, die sie, freilich mithilfe des Einsatzes von Geld- und Realkapital, selbst erzeugen, muss der Kapitalismus nicht zum Schaden seiner Theoretiker, denen der Stoff nie ausgeht, leben.
Angebotselastizität ist das erste Zauberwort in Plumpes Geschichte. Er ist im Übrigen sparsam mit der Übernahme wirtschaftswissenschaftlicher Begriffe. Ökonomen sind mit Ausnahme von Keynes eher Teil des Gegenstands, den es zu erklären gilt, als Teil der Erklärung. Aber mit dem Begriff der Angebotselastizität wird das eigentliche Rätsel der kapitalistischen Entwicklung erklärt: In den oberitalienischen Städten, die sich auf den Gewürzhandel mit Asien konzentrieren, in Flandern und England, die in die Textilindustrie investieren, in Deutschland und in der Schweiz, wo die Bierbrauerei und der Buchdruck sowie später die Chemie- und Pharmaindustrie hohe Kapitalsummen erfordern, in Amerika, das mit der Eisenbahn die eigenen Märkte erschließt, und schließlich in China und Indien, die damit beginnen, ihr Arbeitspotenzial zu erschließen.
Der entscheidende Punkt ist, dass Unternehmer neue Absatzchancen entdecken und Konsumenten zahlungsfähig genug sind, die Produkte auch abzunehmen. Die Voraussetzungen dafür sind hinreichende Beweglichkeit aller Akteure, Ausbildung zur Klugheit bei den einen und Duldungsbereitschaft bei den anderen, Technikeinsatz und politische Garantien der Rechtssicherheit und der Verfügungsrechte aus Privateigentum. Plumpe widmet vor allem der Entwicklung institutioneller Regelungen durch die Politik viel Aufmerksamkeit. Er kann zeigen, dass es nicht zuletzt die Kritik am Kapitalismus ist, die immer wieder neue Regelungen von der Ordnung der Staatshaushalte bis zur Schaffung von Arbeitsrechten und zur Einrichtung der Sozialversicherung anregt. Und er kann zeigen, dass die Kleinteiligkeit der Fürstentümer und später die Konkurrenz der Nationen dem Erfindungsreichtum politischer Regelungen und wechselseitigen Lerneffekten keinen Abbruch tut.
Allerdings kommen mit den Währungen der verschiedenen Länder auch Wechselkurse und Handelsbilanzsaldeneffekte ins Spiel, die bis in die Gegenwart hinein größte Störungen des freien Handels auf effizienten Märkten bewirken.
Das zweite Zauberwort, ebenfalls den Wirtschaftswissenschaften entlehnt, heißt Skalenökonomie. Skalenökonomie ist die Entdeckung, dass die Grenzkosten mit wachsender Produktion nicht etwa steigen, sondern sinken. Je mehr Einheiten bestimmter Güter und Dienstleistungen produziert werden können, desto geringer sind die Preise, die für sie verlangt werden müssen. Das gilt zunächst für Güter und Dienstleistungen, dann für Transport, Versicherung und Finanzierung, schließlich für den Maschinen- und Anlagebau und nicht zuletzt sogar für die Unternehmensgründung und Unternehmensführung, die von marktgängigen Management- und Beratungsleistungen abhängig werden und auch hier erhebliche Rationalisierungsgewinne durch Professionalisierung und Standardisierung einfahren.
Vom Roggen, den Gewürzen, Holz, Glas und Fellen über die Leinen- und Baumwollkleidung, Bücher und Zeitschriften, Webstühlen und Dampfmaschinen bis zu Farben, Medikamenten, Unterhaltungsgeräten, Urlaubsreisen und der internationalen Küche basiert die Geschichte des Kapitalismus auf Skaleneffekten.
Sogar die Kulturkritik des Kapitalismus profitiert davon, dass bestimmte Argumente mit immer geringerem Aufwand und größerer Reichweite vorgetragen werden können. Das gilt vor allem für jene Kritik, welche die Produkte des Massenkonsums aus Geschmacksgründen ablehnt. Wer sich auf seinen Geschmack beruft, argumentiert im Sinne der Tradition aristokratisch; und daraus können alle möglichen Werte der Distanz gegenüber einer Massenkultur abgeleitet werden.
Wenn die Angebotselastizität und die Skalenökonomie das eine Ende des Spannungsbogens definieren, mit dem Plumpe die Geschichte des Kapitalismus erklärt, so stehen der Wiedereinstieg Chinas und Indiens in diese Geschichte und ein mögliches Ende der Knappheitskultur am anderen Ende. Dieses andere Ende führt zu höchst ambivalenten Einschätzungen der gegenwärtigen Aussichten des Kapitalismus. Plumpe widmet einige herrliche Seiten, offenbar auch aus eigener Anschauung gewonnen, jenen 1960er- und 1970er- Jahren in Westeuropa und Amerika, in denen der Massenkonsum auch die Jugendlichen erreicht und von einer Jugendbewegung aufgenommen wird, die dank der Transistorgeräte in der Unterhaltungsindustrie unabhängig von den Standgeräten wird, die nach wie vor die Altvorderen kontrollieren.
Es entsteht ein überaus angebotselastisches und skalenökonomisches Universum neuer Musikstile, die allesamt unter dem Verdikt schlechten Geschmacks erst recht erfolgreich werden. Vor allem jedoch verlieren jene Vorstellungen und Werte der Sparsamkeit, Zurückhaltung und Wiederverwendung an Überzeugungskraft, die eine Welt der Knappheit erträglich gemacht haben. Eigennutz, bisher als sündhaft verschrien, wird nicht gerade hoffähig, aber doch als Grundlage jener Selbstverwirklichung anerkannt, die erst den mündigen Konsumenten schafft.
Leben wir tatsächlich in einer Überflussgesellschaft? Sind es nicht mehr die Waren, sondern die Kunden, die knapp werden, wie Plumpe Niklas Luhmann zitiert? Ökonomen wie Carl Christian von Weizsäcker sprechen sogar von einem „Ende der Kapitalknappheit“, weil die sinkenden Zinsen bei wachsenden Staatsschulden ein deutliches Zeichen dafür sind, dass die Produktionsumwege ausgeschöpft sind und mehr Kapitaleinsatz im Moment nicht möglich ist. Weizsäcker spricht in diesem Zusammenhang von einem „natürlichen Zins“, der die erreichte Marktsättigung mit dem Wunsch der Anbieter nach Marktausdehnung ausgleicht. Es lohnt sich nicht mehr. Mit Marx würde man vermutlich eher annehmen, dass es sich um einen „gesellschaftlichen Zins“ handelt, der die wachsenden Staatsschulden mit Produktionsverhältnissen in Einklang bringt, die neuen Produktivkräften noch keine Chance geben. Die Entwicklung des Kapitalismus schäumt vor der Schwelle zu Durchbrüchen in ein neues Produktionsregime, das erst in Zukunft durch den weiteren Einsatz elektronisch automatisierter Produktion möglich wird.
Auf der anderen Seite wiederholt sich in China und Indien die alte Geschichte der Bewältigung einer Unterbeschäftigungskrise. China und Indien reformieren auf unterschiedliche Weise ihre institutionellen Regelungen, ermöglichen die Ausschöpfung eines gewaltigen Reservoirs an Arbeitsvermögen und erschließen sich zunehmend die Konsummärkte, auf denen nicht nur die ausländische, sondern auch die inländische Nachfrage generiert und befriedigt werden kann.
Werner Plumpe erzählt auch diese Geschichte mit Respekt und Augenmaß, obwohl man spätestens jetzt gerne genauer wüsste, welche Akteure mit welchem Selbstverständnis hier so elastisch auf die neuen Möglichkeiten reagieren. Plumpes Geschichte des Kapitalismus rechnet eher mit Pull- als mit Push-Faktoren. In seiner Darstellung ziehen Gelegenheiten Leute nach sich, wenn dem keine Verbote im Wege stehen. Nur selten schaffen Leute sich ihre Gelegenheiten.
Möglicherweise hängt dies damit zusammen, dass die Zeit als ein weiterer Faktor eines ökonomischen Kapitalbegriffs unterschätzt wird. Dass Kapital Zeit bindet, ist Plumpe bewusst. Und dass zeitliche Bindungen spekulative Bereitschaften voraussetzen, ebenfalls. Wenn eine kapitalintensive Produktion erst morgen Erfolge in Aussicht stellt, kann heute nur spekulativ mit diesen Erfolgen gerechnet werden. Doch das wirft die Frage auf, wer auf den Arbeits-, Güter- und nicht zuletzt Kapitalmärkten dieses Kapitalismus zu welchen Spekulationen bereit und fähig ist. Zukünfte müssen entworfen werden. Wer ist dazu in der Lage? Und wer hält die damit einhergehende Ungewissheit aus?
Plumpes Geschichte des Kapitalismus zeigt auf eindrückliche Weise, wie sehr die Skalenökonomie des Kapitalismus in technische, politische und auch kulturelle Faktoren eingebettet ist. Ausbeutung, Kolonialismus, politische Gewalt und Kriegswirtschaft werden nicht verschwiegen, doch erweisen sie sich allesamt (mit Ausnahme der britischen Kolonie Indien) als Strategien der kürzeren Reichweite. Allenfalls über den Titel des Buches könnte man streiten. Kalt ist das Herz des Kapitalismus, weil er denen die Anteilnahme verweigert, die auf dem Markt keinen Erfolg haben. Doch warm ist das Herz des Kapitalismus, wenn man in Rechnung stellt, welches Bevölkerungswachstum und welchen Abschied von der Armut er ermöglicht hat.
Der Soziologe Dirk Baecker lehrt an der Universität Witten/Herdecke. 2018 erschien sein Buch „4.0 oder Die Lücke die der Rechner lässt“ (Merve Verlag).
Nicht Luxus oder protestantische
Ethik sind anfangs entscheidend,
sondern die Roggenkultur
Sogar die Kulturkritik
profitiert längst
von Skaleneffekten
Ist das Herz des Kapitalismus
wirklich so kalt?
Und für wen?
Werner Plumpe: Das kalte Herz. Kapitalismus: Die Geschichte einer andauernden Revolution. Verlag Rowohlt Berlin, Berlin 2019, 800 Seiten. 34 Euro.
Die Arbeit muss ausgebeutet werden, um die Arbeiter mit erschwinglichen Gütern zu versorgen. Das ermöglicht auch Schaufenster wie dieses.
Foto: Regina Schmeken
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Perlentaucher-Notiz zur WELT-Rezension

Marc Reichwein erfährt bei Werner Plumpe, wie gut unser Kapitalismus ist, dass er die Armut besiegt und evolutionär reinzieht, revolutionär ist - doch halt, welcher Kapitalismus? Wie der Autor zugleich die Existenz des einen Kapitalismus in Abrede stellt und also die übliche Systemkritik gleich mit, findet Reichwein famos. Als Naturgewalt kommt der Kapitalismus also daher, stellt Reichwein fest und bedauert, wie wenig naturgewaltig Plumpe das zu fassen weiß. Statt anschaulich und konkret zu erzählen, erklärt und referiert er bloß. Für den Rezensenten umso bedauerlicher, da er lange kein klügeres, kompetenteres Buch über den Kapitalismus gelesen hat.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.06.2019

Ein Herz für Menschen
Den Kapitalismus wird es immer geben

Ein Sachbuch mit 800 Seiten! Als der Rezensent den neuen Band von Werner Plumpe in seinem Bekanntenkreis empfiehlt, erntet er Leseverweigerung. Folgendes sei jedoch allen entgegnet, die sich vor dem Umfang dieses Werkes zur Kapitalismusgeschichte fürchten. Erstens: Es handelt sich faktisch nur um 640 Seiten, der Rest sind Anhang und Bibliographie. Zweitens: Diese 640 Seiten sind verständlich geschrieben und absolut erkenntnisfördernd. Drittens: Allein das Endkapitel (Seiten 599 bis 640) lohnt den Kauf des Buches, und wer nur wenig Zeit mitbringt, sollte nach der Einleitung auf Seite 501 weiterlesen, wo das fünfte Kapitel über den "weltweiten Siegeszug des Kapitalismus" beginnt.

Kapitalismus, meint Plumpe, sei eine andauernde Revolution, die Wohlstand bringe und Menschen ein würdiges Leben sichere. "Der Kapitalismus ist eine Ökonomie der armen Menschen und für arme Menschen - und solange diese Menschen die überwiegende Mehrheit ausmachen, wird sich daran nur mit Gewalt etwas ändern lassen, und das sicher nicht zum Besseren." Das eigentliche Geheimnis des Kapitalismus sei seine Zentrumslosigkeit, das Fehlen eines warm schlagenden Herzens. Dass diese effiziente Kälte des Kapitalismus, das "kalte Herz", auf verbreitete Ablehnung stößt, sei paradoxerweise auch darauf zurückzuführen, dass die Bedeutung der Wirtschaft überschätzt werde. "Die alte Marx'sche These von Basis und Überbau trifft eben nicht zu, so verführerisch sie auch für diejenigen sein mag, die nach einer Art Generalschlüssel zur Aufklärung der vermeintlichen Übel der Welt suchen", schreibt der Frankfurter Wirtschaftshistoriker.

In den ersten vier Kapiteln erzählt Plumpe die Geschichte des Kapitalismus, etwa, weshalb dieser zuerst in England und den Niederlanden aufblühte. Später äußert sich Plumpe zu generellen Fragen, unter anderem zum Wohlfahrtsstaat: "Er ist zwar teuer und kann die wirtschaftliche Prosperität gefährden, stabilisiert aber den Kapitalismus." Zum real existierenden Sozialismus: "Der Betrieb des Sozialismus war einfach zu teuer, um mit einer kapitalistisch organisierten Wirtschaft mithalten zu können. Eine vorbehaltlose Bestandsaufnahme der ökonomischen Realität war politisch blockiert, ja geradezu tabuisiert."

Zum Zustand nach der deutsch-deutschen Währungsunion von 1990 heißt es: "Eine Art kapitalistische Landnahme fand im Osten nicht statt, obwohl Transformation und Privatisierung nicht ohne Skandale, Betrug und Bereicherungsabsicht verliefen. Derartige Einzelfälle dienten und dienen aber dazu, die Transformation insgesamt als eine von Geldgier und Profitsucht getriebene Angelegenheit erscheinen zu lassen." Wie eine sozialistische DDR den Strukturwandel hätte bewältigen wollen, bleibe das Geheimnis nostalgischer Gemüter, die ihre Illusionen hinter den Geschichten der bösartigen kapitalistischen Landnahme verstecken, damit ihr mangelnder Realitätssinn nicht offenkundig wird.

Zur Deindustrialisierung in Großbritannien bemerkt der Wirtschaftshistoriker: "Der Industrial Decline war weder Merkmal noch Folge der Wirtschaftspolitik der Regierung Thatcher und auch nicht das Resultat einer kapitalistischen Verschwörung gegen die Interessen der Arbeiter. In ihm kam vielmehr der tiefgreifende technologische und regionale Wandel der Zeit zum Ausdruck; was die Regierung Thatcher tat, bestand vor allem darin, den teuren Widerstand gegen diesen Strukturwandel aufzuheben, ihn im Gegenteil sogar noch zu beschleunigen und die frei werdenden Mittel für eine zielgerichtete Modernisierung der britischen Wirtschaft zu nutzen."

Thatchers Versprechen einer ökonomischen Kehrtwende war erfolgreich, so erfolgreich, "dass auch die folgenden Regierungen im Kern daran festhielten". Ganz ähnlich von Erfolg gekrönt sei auch Ronald Reagans Wirtschaftspolitik gewesen. Zur Finanzkrise: "Sie kann gerade nicht dem Kapitalismus angerechnet werden. Denn die Akteure waren sich darüber im Klaren, dass der Staat die Sanktionsmöglichkeiten der Märkte wirksam blockieren würde, wenn wirklich bedeutende Pleiten drohten."

Zum Privateigentum führt Plumpe aus: "Kapitalintensives Wirtschaften setzt ein großes Produktivvermögen voraus, das einzig und allein als Produktionsmittel Bedeutung hat." Für den individuellen Konsum stehe es nicht zur Verfügung. "Das würde sich auch nicht ändern, wenn die Eigentumsrechte auf den Staat, oder, wie in der DDR, auf das Volk übergingen. Man besäße lediglich einen nominellen Anteil an weiterhin produktiv genutzten Produktionsmitteln."

Zur Überwindung des Kapitalismus: "Bei Appellen, in Zukunft nicht auf Wachstum, sondern auf (Selbst-)Beschränkung zu setzen, handelt es sich entweder um gutgemeinte individuelle Ratschläge oder um unüberlegte gesellschaftspolitische Visionen, wenn nicht Illusionen. Denn wie soll eine Wirtschaft auf etwas verzichten, von dem sie noch gar nicht weiß, ob es möglich sein und unter bestimmten Umständen auch kommen wird?" Zur Zukunft: "Solange der durch Bevölkerungswachstum und technischen Wandel erzeugte Problemdruck anhält, wird die kapitalistische Art des Wirtschaftens, sofern ihre Kernelemente politisch stabilisiert werden, fortdauern - und zwar deshalb, weil sie die höchste Problemlösungselastizität aufweist. Der eigentliche Risikofaktor ist nicht der Kapitalismus, sondern eine prinzipienhafte Politik, die endgültige Lösungen auch dort anstrebt, wo nur zeitbedingte Übergangslösungen möglich sind."

Einziger Wermutstropfen in Plumpes Buch: Der Klimawandel taucht nur in einem einzigen Satz auf (und im Stichwortverzeichnis gar nicht). Dabei ist die Aufgabe der kommenden Jahre, zu erklären, dass nur der Kapitalismus die ökologische Herausforderung meistern kann, außer, man wollte in einem Zustand leben, in dem die andauernde Revolution des Kapitalismus jahrzehntelang unterbrochen wird, wie in Nordkorea.

JOCHEN ZENTHÖFER

Werner Plumpe: Das kalte Herz - Kapitalismus: Die Geschichte einer andauernden Revolution, Rowohlt, Berlin 2019. 800 Seiten. 34 Euro.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Werner Plumpe nimmt die Leser an die Hand, um nicht zuletzt zahlreiche Mythen, die sich um den Kapitalismus ranken, wohltuend zu zerstören. Sein Opus Magnum kommt zur rechten Zeit. Thomas Speckmann Der Tagesspiegel 20190710