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Um drei historische Zeitabschnitte - die Ausrottung der nordamerikanischen Indianer, den ersten Weltkrieg, das Konzentrationslager der Nazis - gruppiert der junge Philosoph Olivier Razac seine ebenso faszinierende wie beklemmende Studie über den Stacheldraht, die bereits in mehrere Sprachen übersetzt wurde. Entwickelt wurde der Stacheldraht im 19. Jahrhundert: Die Kolonisatoren des nordamerikanischen Westens gebrauchten ihn gleichsam als zivilisatorische Waffe zum Schutz der Rinderherden vor wilden Tieren und Indianern sowie zur Trennung und Aufteilung des Raumes, um Besitzansprüche zu…mehr

Produktbeschreibung
Um drei historische Zeitabschnitte - die Ausrottung der nordamerikanischen Indianer, den ersten Weltkrieg, das Konzentrationslager der Nazis - gruppiert der junge Philosoph Olivier Razac seine ebenso faszinierende wie beklemmende Studie über den Stacheldraht, die bereits in mehrere Sprachen übersetzt wurde. Entwickelt wurde der Stacheldraht im 19. Jahrhundert: Die Kolonisatoren des nordamerikanischen Westens gebrauchten ihn gleichsam als zivilisatorische Waffe zum Schutz der Rinderherden vor wilden Tieren und Indianern sowie zur Trennung und Aufteilung des Raumes, um Besitzansprüche zu markieren und durchzusetzen. Ebenso billig und einfach in der Herstellung wie gering an Gewicht war der Stacheldraht von Beginn an ein überaus nützliches und effizientes Instrument der Abgrenzung und Abwehr, was zu seinem massiven militärischen Einsatz führte: Stacheldrahtverhaue markierten das unzugängliche Niemandsland zwischen den Schützengräben des Ersten Weltkrieges. Die Verwaltung des Raumes durch den Stacheldraht erreicht schließlich mit dem Konzentrationslager ihre grauenvollste Gestalt. Als Instrument totalitärer Macht dient er der absoluten Beherrschung menschlicher Existenz und zieht die Linie zwischen Leben und Tod. In Anlehnung an Foucault und Agamben legt Razac prägnant und einleuchtend die Mechanismen von Einschluss und Ausschluss, Schutz und Gewaltanwendung bloß, in deren Rahmen der Stacheldraht die politische Beherrschung des Raums und der Menschen ermöglicht. Eine gerade Linie zeichnet sich ab, die bruchlos von der amerikanischen Prärie über die Mandschurei, Verdun, Dachau bis nach Guantanamo und vor die Schutzwälle der heutigen Ersten Welt führt.
Autorenporträt
Olivier Razac ist Philosoph und lehrt an der Universität Paris VIII. Sein Hauptinteresse gilt den unterschiedlichen Erscheinungsformen von Biomacht und Biopolitik, den Mechanismen von Ausschluss und Integration.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 06.10.2003

Künstliche Brombeersträucher
Und sie zogen eine Grenze: Olivier Razac schreibt die politische Geschichte des Stacheldrahts
Eine unvergleichliche Doppelfunktion kennzeichnet den Stacheldraht: Er ist Linie und Dolch zugleich, eine aktive Grenze, die nicht nur teilt, sondern auch verletzen kann. Im Unterschied zu einer Mauer oder einem Zaun setzt er eine deutlich stärkere Demarkation, indem das Zurückweichen immer schon an die Vorstellung des Schmerzes gebunden ist.
Welche Anwendungsgebiete hat das so wirksame Hilfsmittel seit seiner Patentierung 1874 durch einen Farmer aus Illinois gefunden? Der französische Philosoph Olivier Razac hat eine „politische Geschichte” des Stacheldrahts geschrieben, wobei das Augenmerk auf drei seiner Erscheinungsorte liegt: der amerikanischen Prärie am Ende des 19. Jahrhunderts, den Schützengräben im Ersten Weltkrieg und den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten. Man kann diesen Essay als Ergänzung zu Giorgio Agambens „Homo Sacer” verstehen, dem es ja nicht zuletzt um eine Theorie des Lagers und des „Ausnahmeraums” schlechthin ging.
Razac schreibt diese Theorie von einem materiellen Detail her fort, dem Stacheldraht, ohne dessen Erfindung kein Ausnahmeraum mit vergleichbarer Effizienz hätte konstituiert werden können. In seiner Untersuchung kam es Agamben vor allem darauf an, das KZ als einen Ort zu beschreiben, dessen Möglichkeitsbedingung in der Aufhebung der gängigen Rechtsordnung lag; zuerst mussten die Nationalsozialisten eine Reihe von Verfassungsartikeln außer Kraft setzen, um die Lager als rechtsfreie Räume installieren zu können. Für Razacs Analyse der Funktionsweise des Stacheldrahts ist genau das entscheidend: dass dieser nicht einfach einen Raum in zwei Hälften zerteilt, sondern einen außerhalb der Ordnung liegenden Bezirk schafft, der das Subjekt zum Vogelfreien, zum „Homo Sacer” im Sinne Agambens degradiert.
Schnell und leicht
Nicht umsonst ist der politische Einsatz von Stacheldraht von Beginn an mit Gesetzesänderungen verbunden. Der Dawes Act 1887, der den Indianern in ihren Gebieten nur noch den Anbau jener 80 Hektar Land pro Familie erlaubt, die auch weißen Siedlern zustehen; die Kriegserklärungen von 1914; die „Verordnung zum Schutz von Volk und Staat” 1933: Bevor die Reservate, Schützengräben oder Lager umzäunt werden können, haben immer schon rechtliche Eingriffe die Voraussetzungen für einen Ausnahmezustand geschaffen.
Inwieweit der Stacheldraht zur Durchsetzung politischer Maßnahmen verwendet wird, macht vor allem die Ausrottung der Indianer am Ende des 19. Jahrhunderts deutlich. Denn die strikte Eingrenzung des zugewiesenen Landes eliminiert die nomadische Lebensweise der Stämme, zwingt ihnen eine räumlich und sozial fragmentierte Existenz auf. Wenn der Dawes Act, mit den Worten des „Kommissars für indianische Angelegenheiten” um 1900, „eine mächtige Pulverisierungsmaschine zur Vernichtung des Stammeskörpers” ist, dann sind die Stacheln an den Drähten ihre Armaturen.
Die Welt hinter dem Stacheldraht als Niemandsland, in dem „die Willkür angefacht” wird: Gleiches gilt auch für die Konzentrationslager oder für die Außenseiten der Schützengräben im Ersten Weltkrieg, die mit „künstlichen Brombeersträuchen” gesichert sind und in denen sich die sterbenden Angreifer immer wieder verfangen.
Das Stacheldrahtknäuel vor den Gräben erscheint in vielen zeitgenössischen Schilderungen geradezu als Signatur des Krieges; „es sieht aus”, schreibt ein von Razac zitierter Tagebuchschreiber, „wie ein Gesudel von gekritzelten Federstrichen, das sich über die fahle und durchlöcherte Landschaft ausbreitet”.
Die Schwelle zwischen Eigenem und Fremdem ist durch den Stacheldraht stärker als durch jedes andere Zeichen festgelegt; auf der anderen Seite stehen keine menschlichen Wesen mehr, sondern die im Jargon der Soldaten so genannten „Kriegsbazillen”, genauso wie auch die weißen Siedler die Indianer als „wölfisch” bezeichneten und die Lageraufseher die Gefangenen als „Ungeziefer”. Die Metaphern des Animalischen sind folgerichtig, denn der Stacheldraht, wie Razac schreibt, „beschwört die Überlagerung der Bilder von Mensch und Tier herauf”. Im zweiten Teil des Buches wird die Analogie zwischen den historischen Funktionsweisen auf vielfältige Weise durchgespielt, wobei der stimmigen Kongruenz zuliebe jede Unebenheit geglättet wird. Das führt zu Schwierigkeiten in der Argumentation, wenn etwa das umzäunte Areal grundsätzlich als Außenraum bestimmt wird, das sich von einem geschützten Innenraum abhebt. Das Konzentrationslager muss in dieser Logik als „das Außen schlechthin” beschrieben werden, obgleich es in der Imagination unwillkürlich als Innenraum erscheint. Diese Nivellierung der topographischen Differenzen gehört zu den ganz wenigen Schwachpunkten der Studie.
Olivier Razacs Buch ist einem Gegenstand gewidmet, dessen kontinuierlicher Einsatz bis in die Gegenwart hinein vor allem seiner technischen Schlichtheit wegen überrascht. Die Konstruktionsweise von Stacheldraht musste seit 1874 nicht optimiert werden, und wenn elektronische Sicherungsanlagen ihn zunehmend verdrängen, ist das nicht als Bruch, sondern als Weiterentwicklung eines durch ihn begründeten Ordnungsprinzips aufzufassen. Denn, so Razac: „Bereits die Einführung des Stacheldrahts steht für eine Virtualisierung der räumlichen Abgrenzungen. Hier wird die Leichtigkeit der Schwere vorgezogen, die Schnelligkeit der Blockade.” Was 1874 zur Sicherung landwirtschaftlicher Güter entwickelt wurde, erwies sich mehr als ein Jahrhundert lang als produktives Mittel politischer Raumverwaltung .
ANDREAS BERNARD
OLIVIER RAZAC: Politische Geschichte des Stacheldrahts. Prärie, Schützengraben, Lager. Aus dem Französischen von Nils Hodyas. Diaphanes Verlag, Berlin, 2003. 104 Seiten, 12,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Der französische Philosoph Olivier Razac hat dem Stacheldraht, der zugleich "Linie und Dolch" ist, eine eigene Studie gewidmet, erklärt der Rezensent Andreas Bernhard. Razacs entwickle seine politische Theorie vom "materiellen Detail" aus, und dabei dienen ihm drei der "Erscheinungsorte" des Stacheldrahts als Paradigma: die amerikanische Prärie am Ende des 19. Jahrhunderts, die Schützengräben im Ersten Weltkrieg und die Konzentrationslager der Nationalsozialisten. Der Stacheldraht verlaufe nicht als Grenze zwischen zwei Hälften, sondern zwischen einem Außen und einem Innen, er schaffe einen "Ausnahmeraum", einen "außerhalb einer Ordnung liegenden Bezirk". Daher, so der Rezensent, sei er von Anbeginn stets mit "Gesetzesänderungen" und politischer Ordnung verbunden. Razac mache deutlich, dass die "Schwelle des Eigenen und des Fremden", die durch den Stacheldraht "stärker als durch jedes andere Zeichen" festgelegt sei, zu einer Schwelle zwischen "Mensch und Tier" werde. Einziger "Schwachpunkt" einer sonst sehr überzeugenden Studie ist für den Rezensenten Razacs Versuch einer "Analogie zwischen den historischen Funktionsweisen" des Stacheldrahts, weil er da, der Theorie zuliebe, die "topografischen Differenzen" zu sehr einebene.

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»Es bräuchte mehr Bücher dieser Art.« Berliner Zeitung