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In den dreizehn Erzählungen ihres zweiten Erzählbandes Was ich dir schon immer sagen wollte von 1974, der jetzt erstmals auf Deutsch erscheint, stellt Alice Munro ihre präzise Beobachtungsgabe und den ihr eigenen unprätenziösen Erzählstil, für die sie in unseren Tagen so berühmt ist, unter Beweis. Diese Meisterschaft ließ keinen geringeren als John Updike sie mit Tschechow vergleichen, und Jonathan Franzen greift den Vergleich immer gerne wieder auf, wenn er von Alice Munro schwärmt und sie in seinen Interviews unermüdlich als mögliche nordamerikanische Literaturnobelpreisträgerin ins Spiel…mehr

Produktbeschreibung
In den dreizehn Erzählungen ihres zweiten Erzählbandes Was ich dir schon immer sagen wollte von 1974, der jetzt erstmals auf Deutsch erscheint, stellt Alice Munro ihre präzise Beobachtungsgabe und den ihr eigenen unprätenziösen Erzählstil, für die sie in unseren Tagen so berühmt ist, unter Beweis. Diese Meisterschaft ließ keinen geringeren als John Updike sie mit Tschechow vergleichen, und Jonathan Franzen greift den Vergleich immer gerne wieder auf, wenn er von Alice Munro schwärmt und sie in seinen Interviews unermüdlich als mögliche nordamerikanische Literaturnobelpreisträgerin ins Spiel bringt. Flirrend zwischen Hoffnung und Liebe, Zorn und Versöhnung suchen die Schwestern, Mütter, Töchter, Tanten, Großmütter und Freundinnen in diesen Geschichten immer neue Wege, ihre Vergangenheit und ihre Gegenwart - und das, was sie von der Zukunft zu wissen glauben - auszusöhnen.
Autorenporträt
ALICE MUNRO, 1931 in Ontario geboren, gehört zu den renommiertesten Autorinnen der Gegenwart. Sie hat zahlreiche Erzählbände und einen Roman veröffentlicht. Für ihr umfangreiches literarisches Werk wurde sie mit unzähligen Preisen ausgezeichnet, zuletzt 2009 mit dem renommierten Man Booker International Prize. Alice Munro lebt in Ontario, Kanada. HEIDI ZERNING übersetzt seit vielen Jahren englische und amerikanische Literatur, unter anderem Truman Capote, Steve Tesich, Virginia Woolf und eben Alice Munro, als deren "deutsche Stimme" sie gilt.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.06.2012

Auf dem Rücksitz des Lebens
„Was ich dir schon immer sagen wollte“: Frühe Erzählungen von Alice Munro, erstmals ins Deutsche übersetzt
Sie wirken so einfach und so schlicht, und doch kann man die Geschichten der kanadischen Erzählerin Alice Munro nicht nacherzählen. Wer einem Leser im akuten Bewunderungsstadium begegnet, wird dennoch den lieben langen Tag bombardiert: mit recht gewöhnlichen, aber doch schicksalhaft anmutenden Lebensläufen, mit verqueren Konstellationen, Episoden, Szenen und den Gedanken von lauter Leuten, die er gar nicht kennt. Es ist ein wenig so, als würde jemand seine Großfamilie in allen Windungen und mit sämtlichen Vorgeschichten schildern, bis hin zur Schussligkeit von Onkel Fritz und dem Cousin und der Cousine, die sich spät nachts in die Büsche verzogen, um von der Großmutter im Nachthemd ertappt zu werden.
Wie kommt es, dass uns all das interessiert, wenn Alice Munro es erzählt? Und wie schafft sie es, dass wir nach dreißig, vierzig Seiten glauben, wir kennen diese Menschen nun genau, in ihrer Quintessenz? Ihre Figuren leuchten in der Pracht ihrer Besonderheit, auch wenn sie Landpomeranzen sind, sich durch scheiternde Ehen quälen, ermattet in Zügen reisen, den Faden einer alten Liebe wieder aufnehmen, Lehrer-Existenzen in Kleinstädten führen, seit Jahrzehnten verwitwet sind oder als alternde Männer auf Podien sitzen, bewundert von Frauen in mittleren Jahren, die sich krampfhaft um intelligente Fragen bemühen.
Bei allen Figuren der 1931 in Ontario geborenen Schriftstellerin, die am Küchentisch zu schreiben begann, als ihre drei Töchter noch klein waren, handelt es sich um individuelle Charaktere, meist fest verankert im ländlichen Kanada, selten einmal in einer Großstadt wie Vancouver, Calgary, Toronto lebend. Doch ihre Geschichten haben jenen Zug ins Allgemeine, der uns aufhorchen lässt, als ginge es um uns selbst. Die dreizehn Erzählungen, die nun unter dem Titel „Was ich dir schon immer sagen wollte“ zum ersten Mal auf Deutsch erscheinen, wurden im Original bereits 1974 publiziert. „Something I’ve Been Meaning to Tell You“ war ihr drittes Buch, nach „Dance of the Happy Shades“ (1968) und ihrem einzigen Roman, „Lives of Girls and Women“ (1971).
Die Lebensläufe vieler Figuren gehen bis an den Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts zurück, beispielsweise in der Titelgeschichte, in der sich nach zahlreichen Zeitsprüngen die unscheinbare Et so geschickt in der Ehe ihrer schönen Schwester Char eingenistet hat, dass sie nach dem Tod der heimlich Beneideten umstandslos deren Ehemann übernehmen kann. Ob sie ihm eines Tages tatsächlich verraten wird, dass sich Char in jungen Jahren beinahe eines Mannes wegen umbrachte, bleibt ebenso offen wie die Frage, ob sich Char womöglich mit Rattengift getötet hat, weil Et über den nach dreißig Jahren wieder in der Kleinstadt aufgetauchten Liebhaber eine Lügengeschichte erfand, die ihr suggerierte, er habe ihr ein zweites Mal eine andere Frau vorgezogen.
Auch wenn die literarischen Mittel von Alice Munro überaus vielfältig sind und niemals eintönig wirken, lassen sich doch mit der Zeit Muster erkennen. Meistens stößt sie den Leser direkt ins Geschehen. Namen werden so selbstverständlich genannt, als müssten wir die Figuren bereits kennen. Das schafft sofort eine Atmosphäre von Vertrautheit, auch wenn wir zunächst im Dunkeln tappen, wer diese Menschen sind, die sich häufig durch kurze, schnelle Dialoge einführen.
Kleine Worte geben von Anfang an einen Hinweis, wohin die Reise geht, doch zunächst nehmen wir sie nur subkutan wahr, wie die Gesten eines unbekannten Gegenübers: den abgespreizten kleinen Finger beim Kaffeetrinken, der sich später als erstes Anzeichen von Launenhaftigkeit entpuppt, oder die Art, wie uns jemand mit der Hand in einen Raum schiebt, um unter dem Deckmantel der Höflichkeit seine Überlegenheit zu demonstrieren. Wenn wir am Anfang der Geschichte in Ets Gedanken lesen, ihre Schwester sehe inzwischen aus „wie ein Gespenst mit ihren weiß gewordenen Haaren. Aber immer noch schön, das verlor sie einfach nicht“, dann verrät uns schon das kleine Wörtchen „einfach“ den Neid und der Vergleich mit einem „Gespenst“ die Missgunst.
Um schwesterliche Konkurrenz geht es auch in einer anderen Geschichte, die Anfang der siebziger Jahre spielen muss. Das wissen wir, weil eine der beiden Hauptfiguren, die ältere Schwester, die bei der jüngeren in Vancouver zu Besuch ist, über den Wandel der Zeiten nachdenkt. Mitten auf der Gedenkfeier für ihren bei einem Unfall ums Leben gekommenen Neffen fällt Eileen das merkwürdig disparate Erscheinungsbild der Paare auf, das es erst seit „zwei oder drei Jahren“ gibt: die Frau lässig im Hippie-Look, mit buntem Kaftan und ungeschminkt, der Mann dagegen formell gekleidet. Manchmal ist es auch umgekehrt, dann zeigt er sein Brusthaar im offenen Hemd, während sie im adretten Kostüm erscheint.
„Gedenken“ ist sicher eine der abgründigsten Geschichten in diesem an Abgründen reichen Band. Eine existenzielle Katastrophe wird zum Auslöser eines schwesterlichen Duells, das sich ganz auf der Oberfläche gesellschaftlicher Konventionen abzuspielen scheint, während es darunter rumort und brodelt. June, die Mutter des Verstorbenen, hat ihr Leben mit nun noch vier leiblichen Söhnen und zwei indianischen Adoptivtöchtern auch dann noch im Griff, wenn sie mit dem Tod eines Kindes konfrontiert ist, während Eileen in kürzester Zeit jene „Lähmung“ erreicht, die sie im Haus ihrer Schwester stets überkommt. Voller Ekel registriert sie Junes in dieser Situation geradezu monströse Tüchtigkeit, die fröhliche Stimme, mit der sie am Telefon Mitfahrgelegenheiten für die Trauergäste organisiert, die vor Sauberkeit funkelnde Küche, die Art, wie sie ihre Kinder die „donnernde Herde“ nennt.
Und doch lässt sie sich davon infrage stellen. Ihr eigenes Leben, sie ist geschieden, ihre Tochter tourt gerade per Anhalter durch Europa, kommt ihr ungeordnet und planlos vor. Als sie schließlich betrunken mit ihrem Schwager auf dem Rücksitz seines Autos landet, macht das die Sache nicht besser. Immerhin hat der Leser – oder in diesem speziellen Fall: die Leserin – Freude daran, wie infam Alice Munro schnellen Sex beschreiben kann: „Die Wiederholung ihres Namens war alles, was er an Sprache herausbrachte. Das war ihr schon öfter passiert. Was meinte Ewart mit diesem Namen, was bedeutete ihm Eileen? Frauen müssen sich das fragen. Nicht allzu bequem auf einen Autositz niedergedrückt – ein Bein angewinkelt und auf die Lehne geklemmt, von einem Krampf bedroht –, lauern sie immer noch auf Hinweise, merken sich alles eilig, um es später zu bedenken. Sie müssen glauben, dass mehr vor sich geht, als vorzugehen scheint; das ist ein Teil des Problems.“
Alice Munro kann aus dem Stand sarkastisch sein, manchmal nur in einem Halbsatz, sie kann den Leser aber auch in Sicherheit wiegen. Etwa in der Geschichte um eine Gruppe von Jugendlichen, die ein altes Boot fahrtauglich machen und dabei etwas Kostbares erleben: „Sie fühlten, dass ihnen etwas widerfuhr, das anders war als alles, was ihnen bislang widerfahren war, und es hatte etwas mit dem Boot zu tun, mit dem Wasser, dem Sonnenlicht, dem dunklen, kaputten Bahnhof und mit ihnen allen. Sie dachten voneinander jetzt kaum noch als Namen oder Personen, sondern als hallende Schreie, Lichtspiegelungen, alle wagemutig und weiß und laut und schamlos, wie Pfeile.“
Alice Munro kann Begrüßungsszenen schreiben, bei denen alles schiefgeht, etwa wenn der Bräutigam die Braut auf dem Bahnsteig in Empfang nimmt und ihm, als Menetekel für die Ehe, der Blumenstrauß zu Boden fällt. Aber sie kann ebenso gut Glücksmomente einfangen: wenn der gleiche Mann auf einem Rummelplatz eine Münze in einen Schlitz wirft, damit seine Frau ein Klavier spielendes Huhn sehen kann. Und sie kann vor allem eins: die Zeit in der Shortstory so handhaben, als befänden wir uns in einem Roman. Jeder Geschichte merkt man an, dass sie ihre Figuren sehr gut kennt und haargenau weiß, welches Detail sie nehmen muss, damit der Leser ein ganzes Leben vor sich sieht. Alice Munro hat oft Elemente ihrer eigenen Biografie verarbeitet: die an Parkinson erkrankte Mutter, die Kindheit in Ontario, die Scheidung nach mehr als zwanzig Ehejahren. Doch ihre Geschichten sind nicht autobiografisch. Ihre Erzählstimme ist in völlig verschiedenen Körpern zu Hause, sie moduliert sich durch verschiedene Zeiten und Lebensalter, und wirkt doch immer natürlich.
Auch wenn man Munros Erzählungen mit verbundenen Augen zu erkennen meint, hat sie keinen auffälligen Stil. Vielleicht ist dies ihr Geheimnis: dass sie den Stil jeder Geschichte ganz und gar der Passform ihrer Figuren anschmiegt. So wie Et das macht, die beste Damenschneiderin von Mock Hill, die über eine Konkurrentin lästert, bei ihr sei der Stil alles „und die Passform nichts“.
Wer Alice Munro noch nicht kennt, sollte unbedingt mit diesem Band beginnen. Die Kunst der Aussparung, die feine Verknüpfung von Motiven und Details, die verblüffenden Aufschwünge zu Lebensweisheiten von strahlender Klarheit und die Schlusswendungen, die einer Geschichte einen völlig neuen Dreh geben, all dies ist hier in Reinform zu bewundern. Kraftvoller und disziplinierter ist ihre Erzählkunst selten gewesen, und es fehlt hier noch der leichte Zug ins Verplapperte, der die späten Geschichten manchmal beschädigt. Dass neben dem S. Fischer Verlag nun auch der Zürcher Dörlemann Verlag das Werk von Alice Munro betreut, ebenfalls in der vorzüglichen Übersetzung von Heidi Zerning, ist ein großes Glück. So liegt es auf Deutsch bereit, wenn die ungekrönte Königin der Kurzgeschichte tatsächlich den Nobelpreis erhalten sollte, wie ihr Kollege Jonathan Franzen seit Jahren prophezeit.
MEIKE FESSMANN
ALICE MUNRO: Was ich dir schon immer sagen wollte. Dreizehn Erzählungen. Aus dem Englischen von Heidi Zerning. Dörlemann Verlag, Zürich 2012. 384 Seiten, 23,90 Euro.
Ihre Geschichten haben jenen Zug
ins Allgemeine, der uns aufhorchen
lässt, als ginge es um uns selbst
Vielleicht ist dies ihr Geheimnis:
dass sie ihren Stil ganz der
Passform der Figuren anschmiegt
Die kanadische Schriftstellerin Alice Munro 1987. Foto: Interfoto
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Rezensentin Angela Schader schätzt die Erzählungen der kanadischen Autorin Alice Munroe schon lange für ihre subtile Beobachtungskraft des Alltäglichen, ihren weiblichen Blick und nicht zuletzt für ihre toxische "Spreng- und Zerstörungskraft". Alle diese Qualitäten findet sie nun auch in diesem Band mit im Original 1974 erschienenen Erzählungen, wie sie erfreut feststellt. Dabei sind es offensichtlich weniger die eher seltenen drastischen Wendungen in den Geschichten tief aus dem Alltag und dem Herzen der gekränkten Protagonistinnen, die die Rezensentin so fesseln. Es sind vielmehr die leisen, aber umso zerstörerischen Gifte, die sich nach persönlichen Verletzungen bilden, die bei Munroes Figuren ihre Wirkung entfalten und die Schader einmal mehr von der Autorin als meisterhafte Erzählerin überzeugen.

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