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Dieses Werk ist ein Porträt, aber nicht eines einzelnen Menschen, es ist ein Porträt, zusammengesetzt aus den Lastern unserer ganzen Generation, in ihrer vollen Entfaltung. Lange genug hat man die Menschen mit Süßigkeiten gefüttert; daran haben sie sich den Magen verdorben: not tun jetzt bittre Arzneien, beißende Wahrheiten. So wie dieses Buch ...

Produktbeschreibung
Dieses Werk ist ein Porträt, aber nicht eines einzelnen Menschen, es ist ein Porträt, zusammengesetzt aus den Lastern unserer ganzen Generation, in ihrer vollen Entfaltung.
Lange genug hat man die Menschen mit Süßigkeiten gefüttert; daran haben sie sich den Magen verdorben: not tun jetzt bittre Arzneien, beißende Wahrheiten. So wie dieses Buch ...
Autorenporträt
Peter Urban, geboren 1941 in Berlin, studierte Slavistik, Germanistik und Geschichte in Würzburg und Belgrad, war Verlagslektor bei Suhrkamp, Hörspieldramaturg beim WDR und ist Lektor im Verlag der Autoren in Frankfurt; er übersetzte u.a. Werke von Gorkij, Ostrovskij, Daniil Charms, Kazakov, Chlebnikov und das gesamte dramatische Werk von Anton Cechov. Für seine Neuedition und -übersetzung der Cechov-Briefe wurde ihm der Helmut-M.-Braem-Übersetzerpreis zuerkannt. Peter Urban verstarb 2013.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 21.11.2006

Wen suchst du, Freund? - Dich!
Zu Tode geliebt: Peter Urban gibt mit Michail Lermontows Roman „Ein Held unserer Zeit” einen russischen Ur-Text heraus – und begräbt ihn unter Marmor Von Sonja Zekri
D ie Duellanten hatten sich darauf geeinigt, in die Luft zu schießen, aber Martynow hielt sich nicht daran. Der Streit war über einer Winzigkeit ausgebrochen, Lermontow hatte wieder eine seiner spitzen Bemerkungen gemacht, Martynow hatte ihn gefordert. Und nun standen sich die beiden in Pjatigorsk im Kaukasus gegenüber: Lermontow, der Dichter, und Major Martynow, eine lächerliche Figur, die sich als byronesker Dandy aufführte und Lermontow bis aufs Blut reizte.
Lermontow schoss in die Luft. Martynow zielte lange, so lange, dass es selbst seinen Sekundanten peinlich wurde. Dann tötete er den Dichter mit dem ersten Schuss. Michail Lermontow wurde 26 Jahre alt. Es war der 14. Juli 1841.
Zar Nikolaus I. kommentierte die Tragödie mit den Worten: „Einem Hund ein hündischer Tod”. Dabei wusste er es besser. Mit Lermontow hatte Russland einen Dichter verloren, der zwar nie jenen weltweiten Ruhm erlangte, der ihm gebührte, dessen Namen aber jeder Russe in einem Atemzug mit Puschkin nennt, oft noch vor Dostojewski und Tolstoi.
In seinem Roman „Ein Held unserer Zeit”, den Peter Urban in einer neuen Übersetzung vorgelegt hat, hatte Lermontow die Szene seines eigenen Todes auf unheimliche Weise vorweggenommen, den Schwachkopf Martynow, den er Gruschinskij genannt hatte, die Verwirrung um geladene und nicht geladene Pistolen, die eisige Kaltblütigkeit, die im Roman sein Held Petschorin an den Tag legt. Nur ließ Lermontow den Richtigen sterben.
Literatur und Wirklichkeit durchdrangen einander in der russischen Adelsgesellschaft jener Tage, sie beflügelten einander, und manchmal ließen sie einander eskalieren – in Lermontows Leben nicht nur einmal. Der Dichter war ein düsterer, hochmütiger, verzweifelter Mensch. „Seine Augen lachten nicht, wenn er lachte”, schrieb Lermontow über Petschorin. Und bei Lermontow, schreibt Turgenjew, war es genauso. Als junger Soldat schrieb Lermontow Gedichte, historisch sind seine Verse über Puschkin, der im Duell starb: „Tod eines Dichters”. Darin entlarvte Lermontow die höfische Intrige hinter dem Zweikampf, wurde vom Zaren in den Kaukasus verbannt, verschliss, zurück in Petersburg, unzählige Frauen, duellierte sich, wurde erneut in den Kaukasus verbannt, kämpfte tapfer. Dann kam der Morgen des 14. Juli 1841.
„Ein Held unserer Zeit” ist sein berühmtester Roman. In fünf Geschichten entfaltet Lermontow das Porträt Grigorij Petschorins, eines ebenfalls düsteren, hochmütigen, verzweifelten Menschen, der im Kaukasus diente. Es wären Liebesgeschichten, wenn Petschorin, der Frauen und Pferde mit demselben Blick maß, zur Liebe fähig wäre. Petschorin aber ist ein prototypischer Vertreter des „überflüssigen Menschen”, dessen einzige Gefühlsregung die Langeweile ist. „Für sie gäbe ich mein Leben, nur langweile ich mich mit ihr”, schreibt Petschorin über die Fürstentochter Bela, die er erst aus dem Haus ihres Vaters entführt, erobert und schließlich abserviert. Später umgarnt er – diabolisch wie in Kierkegaards „Tagebuch eines Verführers” oder Laclois’ „Gefährlichen Liebschaften” – Prinzessin Mary: Jedes verweigerte Lächeln, jede Mazurka, jeden verstolperten Schritt berechnet er wie ein Feldherr, aber als sie ihm verfällt, interessiert sie ihn nicht mehr. Überhaupt hat er zu den Gefühlen anderer ein eher vampirhaftes Verhältnis, verschlingt gierig „ihre Zärtlichkeit, ihre Freuden und Leiden – und konnte mich doch nie sättigen”. Petschorin ist ein Liebeserpresser, der immer markierte Scheine kriegt, ein bedauernswertes Monstrum, sadistisch und unerlöst.
Auf den ersten Blick ist dieser demonstrative Überdruss von größter Aktualität. Stürzen sich heutige Hedonisten, übersättigt und bindungsunfähig, etwa nicht auf jeden Reiz? Doch Petschorin leidet – wie Onegin oder Oblomow – nicht an einem Übermaß an Freiheit, sondern an deren Mangel. Die Apathie ist die Folge jener erstickenden reglementierten Soldaten-Gesellschaft, die noch unter dem Schock des Dekabristen-Aufstandes zitterte. Im Kartenspiel oder im Duell entlud sich nicht Übermut, sondern Ohnmacht in trotzigen, lebensgefährlichen Fluchten die eine Ahnung von Zufall und Unberechenbarkeit herbeizwingen sollten. „Dort, wo der Tod in sein Recht trat, endete die Macht des Zaren”, schreibt Jurij Lotman. Petschorin, „ein Held unserer Zeit”, konstatiert Lermontow im Vorwort, sei „zusammengesetzt aus den Lastern unserer gesamten Generation”. In Wahrheit waren es Symptome der Fäulnis, die das Ancien Régime zerfraß.
Umso befreiender war der Kaukasus. Er bedeutete für die Russen in Lermontows Generation die unwiderstehliche Verheißung von Freiheit, Kampf und Leidenschaft, und Lermontow hat seine Bilder für immer in die russische Kultur geschrieben: die roten Felswände, die goldene Borte ewigen Schnees, die silbrig glänzenden Bäche. Nachdem er die Eleganz und Libertinage des Kurortes Pjatigorsk in „Prinzessin Mary” beschrieben hatte, brachen Adelige scharenweise dorthin auf. Aber es war auch die Welt der zwielichtigen Sonderlinge, der Schmuggler („Taman”) und Spieler („Der Fatalist”). Nie gehen Lermontows Erzählungen auf, immer bleiben offene Rechnungen und lose Enden übrig. Es sind unerlöste Geschichten.
Lermontows Erzählstrategie ist verschachtelt, aber dennoch kinderleicht zu verstehen. Anfangs begegnet uns Petschorin nur in der Erzählung eines treuherzigen Freundes, dann hat er einen ziemlich unsympathischen Cameo-Auftritt, schließlich kommt er selbst zu Wort in seinen Aufzeichnungen, die wiederum dem Erzähler in die Hände fallen. Das Raffinement, mit dem Lermontow seinen Helden mit einer Aura von Geheimnis und Sensation umgibt, wie er das Publikum mal auf Armeslänge von sich hält und dann wieder in die weit geöffnete Seele blicken lässt – das hat etwas von der Verführungskunst Petschorins: Auch Lermontows Verhältnis zum Leser war ein erotisches.
Diesen Ur-Text der russischen Literatur also hat Peter Urban neu übersetzt, mit einem Anmerkungsapparat, einer Chronik über Russlands Kriege im Kaukasus und einem klugen Nachwort versehen. Nun ist es immer gut, wenn ein verkannter Roman neue Aufmerksamkeit und frische Leser bekommt, zumal in einer so wunderbaren Reihe wie jener der „Winterbücher” bei der Friedenauer Presse. Zwingend war es nicht. Denn die bisherigen Übersetzungen, etwa von Günther Stein aus dem Jahr 1963 (Insel) oder selbst die Übertragung von Arthur Luther aus dem Jahr 1922 (heute Diogenes), wirkten da und dort ein wenig angestaubt. Aber sie waren brauchbar.
Und Peter Urban ist nicht der Übersetzer, der einen Klassiker, und sei es einen, der zu seiner Zeit als grundstürzend neu galt, übermäßig modernisiert. Im Gegenteil. Gewiss, Urban findet einen eleganten, musikalischen Ton. Ihm gelingt der poetische Glanz der Naturbeschreibungen, er meistert die jähen Tempowechsel zwischen getragener Melancholie und Tarantino-artigen Explosionen: „,Wen suchst du, Freund?’ – ,Dich!’ – antwortete der Kosak, schlug mit dem Säbel auf ihn ein und spaltete ihn von der Schulter bis fast an das Herz.” Und dass Lermontow sein Werk voller Stolz mit kaukasischen Ausdrücken nur so getränkt hat, ist nicht seine Schuld. Aber muss er auch noch mit beiden Händen Russizismen darüberstreuen? Warum belässt er Wörter wie „telega” (Wagen) und „stanica” (Station) im Original? Warum schreibt er von „der Tschetschnja”, obwohl das deutsche Wort „Tschetschenien” für das russische „tschetschnja” aus traurigen politischen Gründen längst eingeführt ist? Schlimmer noch: Urban übersetzt selbst russische Verdoppelungen wie „jedwa-jedwa” oder „ticho-ticho” nicht als Verstärkung, sondern ganz wörtlich, weshalb er allen Ernstes von einer „kaum-kaum sichtbaren Straße” schreibt und davon, dass jemand „leise-leise” hinausgeht.
Man kann darüber streiten, ob dem deutschen Leser wirklich mit der korrekten slawistischen Umschrift gedient ist. Wahrscheinlich würde ein Publikumstest ergeben, dass die meisten Leser das Wort „Puškin” als „Puss-kin” aussprechen, Pecorinals „Pe-tzo-rin” und viele Wörter gar nicht. Man kann ebenfalls darüber streiten, ob der russische Diminutiv, all die „Pferdchen” und „Sächelchen”, den deutschen Leser an eine faszinierende fremde Kultur heranführen oder an einen Kinderspielplatz erinnern. Ganz sicher aber machen Entscheidungen wie diese den Klassiker noch etwas klassikerhafter. Und genau das sollen sie auch.
Wo Lermontow „osobeno” schreibt, spricht Urban nicht von „besonders” oder „gerade”, er schreibt „sonderlich”. Bei ihm heißt es nicht: „Ich erinnere mich gut”, sondern „steht mir dieses Jahr fest im Gedächtnis”. Er bläst Sätze auf, macht sie pompöser, patinierter, er russifiziert sie künstlich. Unter so viel Marmor aber erstickt Lermontows biegsame, schnörkellose Sprache. Auch die Anmerkungen, die viel Nützliches beitragen, aber auch mancherlei Selbstverständliches, leiden unter diesem Allerklärungszwang, und das gleiche gilt für die an sich sinnvolle Chronik der russischen Kriege: Der Kaukasus hat eine bewegte Geschichte, aber der Irak-Krieg gehört ebenso wenig dazu wie die orangefarbene Revolution in der Ukraine.
Peter Urban, das spürt man in jeder Zeile, liebt Lermontow. Er hat ihn zu Tode geliebt.
„Duell und Kartenspiel waren trotzige lebensgefährliche Fluchten.”
„Lermontow verführt den Leser wie sein Held Petschorin Heerscharen von Frauen.”
Michail Lermontov
Ein Held unserer Zeit
Aus dem Russischen übersetzt und herausgegeben von Peter Urban. Friedenauer Presse, Berlin 2006. 256 Seiten, 22,50 Euro.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.05.2007

Wie der überflüssige Mensch seine gültige Form fand

"Ein Held unserer Zeit" von Michail Lermontow ist ein Meisterwerk der russischen Literatur. Peter Urbans kommentierte Neuausgabe schärft den Blick für überraschende Vorbilder.

Von Martin Mosebach

Die Entstehung der russischen Literatur im frühen neunzehnten Jahrhundert erscheint wie ein Wunder, vergleichbar der Entstehung der "sakral-realistischen" Ölmalerei der Brüder van Eyck. Wir haben uns daran gewöhnt, auch in den Angelegenheiten der Kunst in den Kategorien der Evolution zu denken, wir wollen die Künstlerstammbäume herauf- und herunterbeten können und immer das eine Phänomen schön eindeutig einem anderen entspringen sehen. Die von Alexander Puschkin glänzend begründete russische Literatur aber ist wie vom Himmel gefallen. Nach in Russland allgemein verbreiteter Überzeugung beginnt sie mit ihrem Höhepunkt. Ausländer ohne Russischkenntnisse können das freilich nur in Grenzen bestätigen, da die Schönheiten der Puschkinschen Dichtung unübertragbar sind. Aber auch für den Ausländer bleibt verblüffend, wie stark in Puschkins Werk und Leben Motive verwirklicht sind, die bis in die Gegenwart hinein für die Umstände, unter denen in Russland Literatur entstand und entsteht, bezeichnend wurden.

Faszination des Sekundären.

Auch der Dauerkrieg im Kaukasus gegen die Tschetschenen, der vom russischen Drang nach Konstantinopel und einem Zugang zum Mittelmeer ausgelöst wurde, beherrscht seit Puschkin das Schicksal vieler Helden der russischen Literatur. Und mit Blick auf die Oktoberrevolution erhalten die Worte aus der 1836 vollendeten "Hauptmannstochter" geradezu prophetischen Charakter: "Gott bewahre uns davor, je wieder einen russischen Aufstand zu erleben, seinen Wahnsinn und seine Erbarmungslosigkeit. Die, welche bei uns Umwälzungen planen, sind entweder zu jung und kennen das Volk nicht, oder es sind Leute mit grausamen Herzen . . ."

Wenn man Puschkin als den Paulus der russischen Literatur bezeichnet, war Michail Lermontow vielleicht so etwas wie dessen Titus oder Timotheus. Das Leben des jüngeren Autors war aufs engste mit dem des großen Vorbildes verflochten. Beide hatten fremdländische Vorfahren: Puschkin äthiopische, Lermontow schottische. Beider Leben kannte die Stationen einer Soldatenzeit im Kaukasus, der Verbannung und des mondänen Lebens in Sankt Petersburg, beide starben durch ein Duell. Nur dass Lermontow erst sechsundzwanzig war, als er starb. Gemessen an seiner kurzen Lebenszeit, hinterließ er ein schier unbegreiflich umfangreiches Werk, das schon zu seinen Lebzeiten in seinem hohen Rang erkannt worden war.

Peter Urban gibt dem deutschen Publikum nun Gelegenheit, sich mit der Gestalt und dem Hauptwerk Lermontows, dem kurzen Roman "Ein Held unserer Zeit", neu zu beschäftigen. Unter den leidenschaftlichen Lesern großer Literatur sind nicht wenige, die historisches Material und Kommentierungen in Form von Fußnoten nur als die Holzwolle ansehen, in die ein kostbares Kunstobjekt verpackt wird. In Urbans Ausgabe aber werden sich auch die Puristen des Primären fasziniert ins Sekundärmaterial versenken. Das Geheimnis der Entstehung der russischen Literatur - hier wird es nicht enträtselt, wie Enthüller-Schlauheit sich das erhoffen mag, sondern um noch weitere überraschende Aspekte bereichert.

Urban zeigt in seinem Apparat, der mit einer Fülle farbiger und bedeutsamer Details gespickt ist, wie tief Lermontow im Gefolge Puschkins in der französischen und englischen Literatur des achtzehnten Jahrhunderts verwurzelt war. Staunend erfährt man, dass für diese Dichter eines romantischen russischen Volkstums Diderot- und Choderlos-de-Laclos-Lektüre zur gewichtigsten Anregung wurde. Gibt es Welten, die weiter voneinander getrennt erscheinen als die kontrolliert-zynische Großstadtliteratur der vorrevolutionären Pariser Salons und die Romane und Epen des jungen Russland von 1840, die von der Wildheit der unbezwungenen asiatischen Bergvölker und einem erdverbundenen Bauerntum schwärmen? Und doch haben die Autoren der Puschkin-Generation diese in Westeuropa längst als veraltet und unmodern empfundenen Werke des Ancien Régime nicht nur begeistert studiert, sondern auch in reichem Maße für die eigene Produktion ausgebeutet. Urban weist im "Helden unserer Zeit" eine Fülle von Anspielungen und gar Originalzitaten aus "Jacques le fataliste" und den "Liaisons dangereuses" nach, und er versichert, nur eine Auswahl zu bieten; die Reihe lasse sich unbeschränkt verlängern.

Die offene Form von "Jacques le fataliste" mit der zur Disposition des Lesers stehenden Reihenfolge der Kapitel oder der "Tristram Shandy" des mit Diderot befreundeten Laurence Sterne haben gewiss die polyperspektivistische Technik des "Helden unserer Zeit", der aus einer Folge abgeschlossener Novellen besteht, anzuregen vermocht. Auch in Petschorin, der Hauptfigur mit der kalten Leidenschaftlichkeit eines Stendhal-Protagonisten, kann man eine dunkle Spiegelung der zynischen Großstadt-Müßiggänger der Pariser Romane erkennen. Aber das ist nur eine Assoziation. Der Typus des "überflüssigen Menschen", den Puschkin schon in "Eugen Onegin" geschildert hatte und dem Lermontow nun in Petschorin einen Bruder zur Seite stellte, hat viel düsterere Züge als die französischen Roués. Langeweile, Brutalität, Nervosität und Eleganz sind nur die Masken einer innigen Todessehnsucht; wenn das leichtfertig aufs Spiel gesetzte Leben dann doch noch gerettet werden kann, scheint das der Held eher zu bedauern.

Vom heroischen Charakter.

Dieser Petschorin, Sankt Petersburger Salonlöwe, der wegen dunkler Verfehlungen in das Kaukasus-Kriegsgebiet verbannt ist und dort seine Zeit mit gefährlichen Liebesabenteuern und Duell-Affären totschlägt, erscheint in immer neuen Blickwinkeln: in den Berichten anderer und im eigenen Tagebuch. Nabokov hat versucht, die richtige zeitliche Reihenfolge dieser abgeschlossenen Erzählstücke festzustellen, aber es bleiben Lücken, und es entsteht beim Lesen das Erlebnis, als forsche man einem untergetauchten Bekannten nach, der in manchen Zeugnissen näher, in anderen ferner rückt und schließlich ganz verschwindet. Der Titel "Ein Held unserer Zeit" will wohl sagen: Ein heroischer Charakter hat in der trivialen Gegenwart Lermontows nur die Chance, als Außenseiter mehr oder weniger schändlich unterzugehen - und es war sein eigenes Schicksal, das Lermontov vorwegnahm: So wie Petschorin den jungen Wirrkopf im Duell erschießt, so ist Lermontow selbst, der nur in die Luft geschossen hatte, von seinem lange und sorgfältig zielenden Feind in einem Duell aus nichtigen Gründen kaum ein Jahr nach Abschluss des Buchs regelrecht abgeknallt worden.

Bedeutsamer als der Stoff ist die Sprache dieses jungen Dichters, der auch Goethe-Gedichte übersetzt hat. Von den französischen Enzyklopädisten hat er in die Romantik des neunzehnten Jahrhunderts den Sprachkult der Knappheit, der Klarheit, der Schnörkellosigkeit hinübergerettet. Er hat den Geschmack des achtzehnten mit den ausweglosen Leidenschaften des neunzehnten Jahrhunderts verbunden und hat in dieser schier unwahrscheinlichen Mischung im Westen ein einziges großes Gegenüber: Stendhal, der nur ein Jahr nach Lermontow starb, den der Russe aber wohl nicht gelesen hat - sonst hätte Peter Urban uns das gewiss mitgeteilt.

Zum Phänomen jener Autoren, die wie Lermontow darauf verzichten, ihre Sprache manieristisch zu stilisieren und gegenüber dem häufigen Schriftstellerwunsch, durch die Sprache ein Zeugnis der eigenen Individualität abzulegen, gleichgültig zu sein scheinen, hat Jorge Borges eine hilfreiche Kategorie vorgeschlagen: Er spricht von den Autoren, die "innerhalb der gemeinsamen Sprache einen winzigen, eitlen Dialekt ausgefeilt haben", und grenzt sie gegen die "generischen" Schriftsteller ab, deren Stil kollektiver oder anonymer Natur sei und der einen höheren moralischen Rang besitze - und sofort wird bei aller Verwandtschaft der Unterschied zwischen Stendhal und Lermontow sichtbar: "Generischer" Schriftsteller ist Stendhal gewiss nicht, denn sein Stil ist romantischer Flirt mit der Eiseskälte. Lermontow hingegen hatte es leicht, "generisch" zu schreiben, denn er gehört zu den Gründervätern der russischen Literatur. Die seltene Chance, am Anfang zu stehen, er hat sie in seinem kurzen Leben zu ergreifen gewusst.

- Michail Lermontow: "Ein Held unserer Zeit". Herausgegeben und übersetzt von Peter Urban. Friedenauer Presse, Berlin 2006. 252 S., geb., 22,50 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Viel, sehr viel gelernt hat Martin Mosebach bei der Lektüre der neuen, von Peter Urban übersetzten und vor allem kommentierten neuen Ausgabe von Michael Lermontows Klassiker der russischen Literatur mit dem Titel "Ein Held unserer Zeit". Wirklich erklärlich werde die so erstaunliche Tatsache, dass die russische Literatur mit ihren größten Autoren quasi "vom Himmel" fiel, freilich auch durch die vielfältigen Hinweise Urbans nicht. Womöglich sogar noch erstaunlicher, wenn man erfährt, von welch großer Bedeutung Autoren des französischen Rokoko wie Denis Diderot ("Jacques le fataliste") oder Choderlos de Laclos ("Les liaisons dangereux") für Puschkin oder Lermontow waren, trotz ihres gleichzeitig sehr viel düstereren Weltbilds und der gänzlich anders gearteten ideologischen Ausrichtung auf "romantisches russisches Volkstum". Sprachliche Nähen nimmt Mosebach allerdings, nachdem der Blick geschärft ist, durchaus wahr, etwa in der "Schnörkellosigkeit" der Diktion. Hier ist, könnte man seine Rezension resümieren, ein Meisterwerk wirklich neu zu entdecken.

© Perlentaucher Medien GmbH
»Niemand in Russland hat je solch eine Prosa geschrieben, so genau, so schön, so köstlich.« Nikolai Gogol