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Schon lange bevor Reisende wie James Cook im 18. Jahrhundert die Praxis der Tätowierung als Inbegriff 'wilder' Zivilisationsferne in den Blick gerückt haben, wurden Tätowierungen in Europa zum Anlass genommen, das Wesen von Schrift und Schreiben und damit dasjenige der europäischen Schriftkultur selbst zu verhandeln - von den schriftförmigen Tätowierungen, in denen schon die Bücher des Alten Testaments ihre neue Glaubensgemeinschaft stiften, bis hin zur Auseinandersetzung der beginnenden Postmoderne mit der Konkurrenz zwischen geschriebenem Text und digitaler Wirklichkeitssimulation. In diesem…mehr

Produktbeschreibung
Schon lange bevor Reisende wie James Cook im 18. Jahrhundert die Praxis der Tätowierung als Inbegriff 'wilder' Zivilisationsferne in den Blick gerückt haben, wurden Tätowierungen in Europa zum Anlass genommen, das Wesen von Schrift und Schreiben und damit dasjenige der europäischen Schriftkultur selbst zu verhandeln - von den schriftförmigen Tätowierungen, in denen schon die Bücher des Alten Testaments ihre neue Glaubensgemeinschaft stiften, bis hin zur Auseinandersetzung der beginnenden Postmoderne mit der Konkurrenz zwischen geschriebenem Text und digitaler Wirklichkeitssimulation. In diesem aufregenden, das Thema erstmals umfassend aufarbeitenden Buch rekonstruiert Ulrike Landfester die Diskursgeschichteder Tätowierung von ihren Anfängen bis zu dem Zeitpunkt, an dem die Tätowierung unter dem Einfluss technologischen Fortschritts scheinbar ebenso beliebig löschbar zu werden beginnt wie die traditionelle Materialhaftung des alphabetarischen Schreibens selbst.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Autorenporträt
Landfester, UlrikeUlrike Landfester, geboren 1962 in Soltau/Niedersachsen, ist Professorin für Deutsche Sprache und Literatur in St. Gallen.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Was Ötzi und Bettina Wulff gemeinsamen haben, erfährt Katharina Teutsch in "Stichworte", Ulrike Landfesters Kulturgeschichte der Tätowierung. Die Autorin "ulkt mit postmodernem Theoriejargon herum und beugt sich über philologische Kleinstprobleme", stellt die Rezensentin etwas pikiert fest, scheint das Buch jedoch durchaus mit einigem Interesse und Vergnügen gelesen zu haben. Bemerkenswert scheint ihr der Fokus auf den semantischen Gehalt der Tätowierung, der aus der Geschichte körperlicher Inschriften ihrerseits "eine einzige Verkettung von Zuschreibungen" werden lässt. Erst im gegenwärtigen Trend zum Tribal-Tattoo zieht eine ganz und gar unsemantische Ornamentalik ein, die Bedeutung durch Beliebigkeit ersetzt, referiert Teutsch.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 30.06.2012

Die sprechenden Archive der Haut
Sehr willkommen: Ulrike Landfester untersucht in ihrem Buch „Stichworte“ die Beziehungen zwischen Tätowierung und europäischer Schriftkultur
So ein Fußballspieler ist, vor allem wenn er schon eine halbe Stunde über den Platz läuft, keine sonderlich adrette Gestalt. Nassgeschwitzt rennt er von der einen Seite des Spielfeldes zur anderen, Sporthose und Schlabberhemd machen keinen gepflegten Eindruck, und auch die Gelfrisur hält den Belastungen schon lange nicht mehr stand. Wie anders aber ist das, was der Fußballspieler nicht am, sondern im Körper trägt, und zwar ganz knapp unter der Haut: Sorgfältig kalligraphierte Schriftzeichen, bis ins feinste Detail ausgearbeitete Ornamente, fantastische Figuren von äußerster Akkuratesse zieren seinen Körper. Die leichte, formlose Kleidung, die kurzen Hosen und kurzärmeligen Hemden offenbaren einen nach strengsten Regeln gestalteten Körperschmuck - und welchen Reichtum es erst zu sehen gibt, wenn nach dem Ende des Spiels die Trikots getauscht werden! Wobei das, was man bei dieser Gelegenheit betrachten kann, nur die Avantgarde sein soll einer Leidenschaft für die Tätowierung, die mittlerweile zu einer Volksbewegung angewachsen sein soll, die, mag es in der Welt auch noch so ungezwungen und leger zugehen, die menschlichen Körper nach allen Regeln der Kunst verletzt und verziert.
Am Anfang der Tätowierung steht eine göttliche Tat: Kain hat seinen Bruder Abel getötet, steht, seiner Schuld bewusst, vor dem Schöpfer und fürchtet, nun ruhelos durch die Welt ziehen zu müssen, stets in Gefahr, von einem anderen erschlagen zu werden. „Der Herr aber sprach zu ihm, Darum soll jeder, der Kain erschlägt, siebenfacher Rache verfallen. Darauf machte der Herr dem Kain ein Zeichen, damit ihn keiner erschlage, der ihn finde.“ Einen Besitzstand markiere dieses Mal, erklärt die Germanistin Ulrike Landfester von der Universität St, Gallen, und es erfülle eine doppelte Aufgabe: Einerseits ist es Zeichen der absoluten Unterwerfung, andererseits Ausdruck göttlichen Schutzes.
In beiderlei Hinsicht trage das Körperzeichen daher auch „demonstrativen Charakter“, sei also Ausweis der Macht. Bis hinein in die Romane um Harry Potter verfolgt Ulrike Landfester die Geschichte der in die Haut geritzten, gestochenen (oder gebrannten) Embleme: Denn die blitzförmige Narbe auf Harrys Stirn und die Totenköpfe auf den Unterarmen der Gefolgsleute Lord Voldemorts erinnern an „die Sklavensiglierung zwischen Besitzstandmarkierung und Schutzzeichen, wie sie vom Alten Testament aus über die antike Literatur und die neutestamentarische Feier der Wundmale Christi in die Diskursgeschichte der europäischen Tätowierung eingegangen war.“
Vierhundert Seiten liegen zwischen Kain und Harry Potter, und eine gründlichere Aufklärung über die Geschichte der Tätowierung hat es noch nicht gegeben. Ulrike Landfester konzentriert sich zwar vor allem auf Schriftzeichen, doch geht sie dabei so systematisch vor, dass sich der Leser Bilder und Ornamente hinzudenken kann. Das chronologisch aufgebaute Werk geht dabei von der körperlichen Zeichnung der Sklaven im alten Griechenland und der Tätowierung von Straftätern im antiken Rom über die Stigmata der christlichen Heiligen und die Tätowierung der Mignon in Johann Wolfgang Goethes „Wilhelm Meister“ (1795/96) bis zur tätowierenden Hinrichtungsmaschine in Franz Kafkas Erzählung „In der Strafkolonie“ (1914) und den Ausschwitz-Nummern bei Primo Levi und Ruth Klüger.
Von drei Motiven lässt sich Ulrike Landfester in ihrer Untersuchung leiten: Zuerst will sie die ganze Geschichte hinter dem „spektakulären Effekt“ erzählen, mit dem die exotische, „wilde“ Tätowierung ab Ende des achtzehnten Jahrhunderts in die europäische Wahrnehmung trat: eben die Geschichte des Stigmas, mitsamt seiner sakralen Bedeutung, in der Dialektik von magischer Bemächtigung und Selbstbemächtigung.
Sodann geht es um das Verhältnis von Körper und Schrift, die ja keine Gegensätze zueinander bilden, sondern auf mannigfaltige Weise aufeinander Bezug nehmen – und denen der „Zugriff auf eine Oberfläche“ gemein ist, mit bislang kaum bedachten Folgen: Je weiter die Alphabetisierung nach dem Ende des 18. Jahrhunderts voranschritt, je mehr Gedrucktes vorhanden war und vertrieben wurde, desto mehr interessierte sich die Literatur für das „Stoffliche“ an der Schrift. In Heimito von Doderers Erzählung „Eine Tätowierte“ (1924) heißt es: „Sie enthüllte den Oberleib und gab sich dem kalten Strahl hin, der auf ihre weiße Haut spritzte, sie gab sich dem hin wie einer eindringenden Klinge“ – und das ist dann nicht nur eine reichlich sexualisierte und morbide Szene, sondern auch eine Reflexion auf das physische Dasein von Schrift.
Flüchtig geworden, im eigentlichen Sinne, ist die Schrift erst Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, mit der Digitalisierung der Kommunikationstechnik. Zur selben Zeit verliert die Tätowierung das Seemanns- und Knastbruderhafte, das radikal Exotische oder das „Alteritätssignalement“. Es wird durch eine „Ästhetik der individualistischen Selbstverwirklichung“ ersetzt. Oder anders gesagt: Das Zeichen verbindet sich um so heftiger und um so häufiger mit dem Fleisch (und mit dem Selbst), je weniger Bindung es ansonsten ans Physische noch besitzt - und das ist eine Entwicklung, die Ulrike Landfester auch damit motiviert, dass die Tätowierung das Ein-für-allemal, das absolut Irreversible verloren habe: Die Lasertechnik erlaube mittlerweile, selbst große Tätowierungen zu entfernen, den großen Akt der Unterwerfung unter das magische Zeichen also unter Vorbehalten zu vollziehen und sich gleichsam selbst um die Ewigkeit zu betrügen.
Von Aufstieg und Niedergang der Tätowierung handelt dieses Buch also eigentlich, vom Weg des extrem schweren zu einem extrem leichten Zeichen, und aus der Perspektive eines geschichtsphilosophischen Endes ist es geschrieben. Der Leser ist der Autorin dankbar für das immense Material, das nicht nur erschlossen, sondern auch systematisch geordnet hat. Mignon, dieses zarte, weder geschlechtlich noch moralische zu definierende, nicht lebenstaugliche Wesen in Goethes „Wilhelm Meister“ verändert ihren Charakter im Zeichen ihrer Tätowierung: einem reich ornamentierten Kruzifix, in dem sich exotische Wildheit mit christlichem Glauben verbindet.
Und die tödliche Ganzkörpertätowierung in Franz Kafkas in „Strafkolonie“ erfährt, aus der Geschichte der Körperzeichen heraus betrachtet, eine neue Deutung, wenn man, wie Ulrike Landfester es vorschlägt, die Figur des tätowierten Verbrechers hinzuzieht, wie sie Cesare Lombroso, einer der Begründer der Kriminologie, im späten 19. Jahrhundert entwickelte.
Und doch bleibt am Ende ein Bedenken: Wie, wenn die Sehnsucht nach einer radikalen sinnlichen Erfahrung, die aus der Mode der Tätowierung spricht, doch nicht damit rechnet, wieder aufgehoben werden zu können? Wie, wenn sie es ernst meint mit der Entscheidung eines Augenblicks, die einen Menschen für das Leben gezeichnet zurücklässt? Gewiss, es mag sein, dass das geschieht, weil man sich selbst als etwas allzu Flüchtiges, allzu Undefiniertes wahrnimmt und sich daher das Bewusstsein, tatsächlich vorhanden und unverwechselbar zu sein, mit der Nadel einzustechen versucht.
Aber wenn das so passiert, dann will der sich Tätowierende eben gerade nicht auf Vorbehalt mit Ewigkeit impfen. Dann will er, so wie es Gott mit Kain tat, sich bemächtigen – und sich seiner selbst bemächtigen. Und wenn das so ist, dann ist die Geschichte der Tätowierung weniger eine Parabel von Aufstieg und Niedergang, sondern vielmehr eine Geschichte der Rückkehr an den Anfang: nur, dass es in der Welt heute von Göttern nur so wimmelt. Als Mario Balotelli beim Sieg der italienischen Mannschaft mit nacktem Oberkörper und tätowierten Armen im Strafraum der Deutschen stand, sah er aus wie jemand, der gerade unsterblich geworden war – oder jedenfalls glaubte, es zu sein.
THOMAS STEINFELD
ULRIKE LANDFESTER: Stichworte. Tätowierung und europäische Schriftkultur. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2012. 492 Seiten, 39,90 Euro.
Die Lasertechnik erlaubt es,
auch große, scheinbar „ewige“
Tätowierungen wieder zu entfernen
Die Arme des Niederländers Nigel de Jong und des Portugiesen Raul Meireles, die Wade des Spaniers Sergio Ramos und der Rücken eines namenlosen griechischen Fans.
Fotos: Kim Ludbrook/dpa, Alexander Klein/AFP, Anton Denisov/RIA Novosti/AFP
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