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Szczepan Twardoch lässt die Erde selbst erzählen - den Drachen, der den Menschen ausspeit und ihn wieder verschlingt: In kühner Montage, ein ganzes Jahrhundert wie in einem einzigen Blick, schildert er die Dramen zweier Männer und die Chronik ihrer schlesischen Familie, vier Menschenalter. Ein grandioser Reigen von Werden und Vergehen, von der Suche nach Liebe und der Sehnsucht, sie festzuhalten - und ein gewaltiges Panorama des 20. Jahrhunderts.
Die Erde weiß alles. Mit kühlem Blick, der die Zeiten durchdringt, sieht sie alles, was auf ihr geschieht. Sie kennt das Kind Josef Magnor, das im
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Produktbeschreibung
Szczepan Twardoch lässt die Erde selbst erzählen - den Drachen, der den Menschen ausspeit und ihn wieder verschlingt: In kühner Montage, ein ganzes Jahrhundert wie in einem einzigen Blick, schildert er die Dramen zweier Männer und die Chronik ihrer schlesischen Familie, vier Menschenalter. Ein grandioser Reigen von Werden und Vergehen, von der Suche nach Liebe und der Sehnsucht, sie festzuhalten - und ein gewaltiges Panorama des 20. Jahrhunderts.

Die Erde weiß alles. Mit kühlem Blick, der die Zeiten durchdringt, sieht sie alles, was auf ihr geschieht. Sie kennt das Kind Josef Magnor, das im Oktober 1906 den Geschmack der Wurstsuppe schmeckt und nie mehr vergisst. Josef, der im Dreck der Schützengräben von Frankreich landet und später im Bett der jungen Caroline. Dem diese Erde jahrelang ein Versteck im schlesischen Stollen bietet, nachdem er aus Eifersucht eine Tragödie angerichtet hat.
Die Erde kennt Nikodem, Josefs Urenkel. Nikodem, der zu seiner Geliebten zieht, aber von seiner Frau und Tochter nicht loskommt, auch nicht von dem schönen Haus, das er sich, gefragter Architekt des neuen Polen, gebaut hat - alles entgleitet ihm, auch die Geliebte. Was wird er retten können? Die Erde kennt das Ende, sie bleibt grausam kalt ...

Autorenporträt
Szczepan Twardoch, geboren 1979, ist einer der herausragenden Autoren der Gegenwartsliteratur. Mit «Morphin» (2012) gelang ihm der Durchbruch, das Buch wurde mit dem Polityka-Passport-Preis ausgezeichnet, Kritik und Leser waren begeistert. Für den Roman «Drach» wurden Twardoch und sein Übersetzer Olaf Kühl 2016 mit dem Brücke Berlin Preis geehrt, 2019 erhielt Twardoch den Samuel-Bogumil-Linde-Preis. Zuletzt erschienen der hochgelobte Roman «Der Boxer», das Tagebuch «Wale und Nachtfalter» und der Roman «Demut», den die NZZ als «Höhepunkt seines Schreibens» bezeichnete. Im Frühjahr 2024 erscheint der Roman «Kälte». Szczepan Twardoch lebt mit seiner Familie in Pilchowice/Schlesien. Olaf Kühl, 1955 geboren, studierte Slawistik, Osteuropäische Geschichte und Zeitgeschichte und arbeitete lange Jahre als Osteuropareferent für die Regierenden Bürgermeister von Berlin. Er ist Autor und einer der wichtigsten Übersetzer aus dem Polnischen und Russischen, u.a. wurde er mit dem Karl-Dedecius-Preis und dem Brücke Berlin-Preis ausgezeichnet. Sein zweiter Roman, «Der wahre Sohn», war 2013 für den Deutschen Buchpreis nominiert.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Das Besondere an Twardochs Buch sei dessen Erzählperspektive, schreibt Kritiker Jan Koneffke. Während im Vorgängerroman "Morphin" die körperlose Erzählinstanz eher gestört habe, lebe "Drach" ganz von ihr. Das Element Erde (nicht der Planet) berichte hier vom Schicksal einer schlesisch-deutschen Familie in den vergangenen einhundert Jahren. Als Gegenentwurf zu Thomas Manns "Geist der Erzählung" versteht Koneffke die Perspektive Twardochs, er nennt sie "ernst-sarkastisch" und "stofflich-sinnlich". Der Kunstgriff des Autors eröffne Möglichkeiten und Haltungen, dazu zähle auch die Betrachtung von Staatsgrenzen als willkürliche Erfindung durch den Menschen. Ein wenig Monotonie entsteht nach Ansicht des Rezensenten trotzdem durch die "fast schon formelhafte Weise", mit der die Erde erzählt. Olaf Kühls Übersetzung lobt Koneffke wiederum als klug, sie trage bei "zur Farbigkeit einer sonst klaren bis kargen Sprache".

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.12.2016

"Eine tolle Unterhaltung"

Zu Weihnachten ein Buch schenken, das geht immer. Und welches? Das haben wir Buchhändler in der Region gefragt. Sie empfehlen Romane und Sachbücher und sagen, was sie selbst gerade lesen und zu lesen planen.

Von Carl Dohmann

Geschichten vom Tambora.

In der "Wendeltreppe" in Frankfurt-Sachsenhausem fühlt man sich zu Hause: Zwei ältere Frauen sitzen an der Theke und beraten einen. Sie erzählen lustige Anekdoten aus dem Weihnachtsverkauf. Jutta Wilkesmann empfiehlt zwei Sachbücher: Einerseits "Tambora und das Jahr ohne Sommer" von Wolfgang Behringer (C. H. Beck, 24,95 Euro). Der Klimahistoriker erzählt vom Ausbruch des Vulkans Tambora in Indonesien im Jahr 1816, der damals die Weltpolitik in eine Krise stürzte.

Besonders begeistert berichtet Wilkesmann von ihrem Lieblingsroman: "Eine überflüssige Frau" von Rabih Alameddine (Louisoder, 24,90 Euro). Die Handlung spielt in Beirut, der Hauptstadt des Libanons, während des Bürgerkrieges. "Es ist sensationell, dass es ein Mann geschrieben hat", sagt Wilkesmann. Denn die Hauptfigur ist eine Frau, eine Buchhändlerin, die beginnt, Bücher aus Europa ins Arabische zu übersetzen. Das sei trotz des Bürgerkriegsthemas kein Drama, sondern erzähle vom ganz normalen Leben. Natürlich kramt Wilkesmann auch noch einen Krimi hervor, schließlich arbeitet sie in einem Buchladen für Kriminalromane: "Miss Terry" von Liza Cody (Argument-Verlag, 17 Euro). Der spiele in London, es gehe um eine Babyleiche und eine dunkelhäutige Grundschullehrerin und ein Klima erst versteckten, dann zunehmenden Rassismus.

Buchhandlung "Die Wendeltreppe", Brückenstraße 34 in Frankfurt.

Familienbande.

Ein "großartiges" Buch, das Jutta Leimbert, die Inhaberin der Buchhandlung Vaternahm in Wiesbaden, gerne liest, ist eigentlich sehr alt: Die jüdische Buchhändlerin Françoise Frenkel schrieb ihre Erlebnisse zu der Zeit auf, als sie von den Nationalsozialisten verfolgt wurde. Die Polin lebte in Berlin und Paris, floh zunächst nach Nizza und dann in die Schweiz. Sie überlebte den Nationalsozialismus und starb 1975 in Nizza. Ihr Buch "Nichts, um sein Haupt zu betten" erschien schon 1945, wurde aber erst vor kurzem neu entdeckt: Auf dem Flohmarkt wurde es gefunden, erzählt Leimbert. Dieses Jahr ist es bei Hanser neu erschienen, es kostet 22 Euro.

Welchen Roman sollte man jetzt lesen? Die Buchhändlerin meint: "Das Nest" von Cynthia D'Asprix Sweeney (Klett-Cotta, 19,95 Euro). Er handelt von erwachsenen Geschwistern in ihren vierziger Jahren, die sich im Zusammenhang mit einer Erbschaft zerstreiten. Warum das lesen? "Sehr scharfzüngig" sei das Buch, sagt Leimbert. Als bestes Sachbuch, das in jüngerer Vergangenheit erschienen sei, nennt sie "Alexander von Humboldt und die Erfindung der Natur" von Andrea Wulf (Bertelsmann, 24,99 Euro). Die Autorin stellt darin Humboldts Prägung des modernen Naturverständnisses in den Mittelpunkt und zeigt Bezüge zu unserem heutigen Wissen um die Verwundbarkeit der Erde auf.

Buchhandlung Vaternahm, An den Quellen 12 in Wiesbaden.

Jedermanns Neurosen.

Die Lage dieses traditionsreichen Buchladens war nicht immer schön. Doch der Markt in Offenbach habe sich in den vergangenen Jahren prächtig entwickelt, freut sich Andrea Tuscher. Sie legt Wert darauf, dass sie Inhaberin des Buchladens am Markt ist, den Begriff Buchhandlung mag sie nicht. Als Weihnachtsgeschenk empfiehlt sie den Gesellschaftsroman aus dem Großbürgertum "Wir & Ich" von Saskia de Coster (Tropen-Verlag, 22,95 Euro), einer in Belgien sehr bekannten Autorin. Es kämen Figuren darin vor, die einem jederzeit begegnen können, "mit allen Eigenwilligkeiten und Neurosen". Als bestes Sachbuch nennt Tuscher "Das Café der Existenzialisten" von Sarah Bakewell (C. H. Beck, 24,95 Euro). Es sei das erste Buch, das die philosophische Strömung des Existentialismus insgesamt beleuchte, erklärt sie. Ihr selbst, sagt sie dann, werde seit zwei Jahren "Das achte Leben" von Nino Haratischwili empfohlen, ein Buch, das sie zwar seit langem lesen wolle, das aber mehr als 1000 Seiten lang ist: Da denke sie eher ökonomisch und lese stattdessen drei Bücher mit jeweils 300 Seiten.

Buchladen am Markt, Wilhelmsplatz 12 in Offenbach.

Weltgeschichte.

Als besten Roman nennt Frank Rüb etwas "Originelles": Der Mainzer Buchhändler aus der Buchhandlung am Dom empfiehlt "Drach" von Szczepan Twardoch (Rowohlt, 22,95 Euro). Es ist ein historischer Roman, der die Entwicklung einer schlesischen Familie im Verlauf des 20. Jahrhunderts erzählt. Sachbücher gebe es "etliche, die sehr gut laufen". Rüb empfiehlt "Die Unterwerfung der Welt" des Frühe-Neuzeit-Historikers Wolfgang Reinhard (C. H. Beck, 58 Euro). Es behandelt die Geschichte des europäischen Imperialismus und Kolonialismus vom 15. Jahrhundert bis in die Gegenwart - dem Untertitel zufolge von 1415 bis 2015. Es ist sehr ausführlich, hat es doch mehr als 1600 Seiten. Ein wenig erinnere es an Jürgen Osterhammels "Die Verwandlung der Welt" über das 19. Jahrhundert aus dem Jahr 2010, sagt Rüb. Was ist auf seiner Leseliste? Die Biographie über Siegfried Kracauer von Jörg Später, die bei Suhrkamp für 39,95 Euro erschienen ist, sagt Rüb. Der 1889 in Frankfurt geborene Kracauer war ein philosophischer und soziologischer Autor und unter anderem auch Journalist bei der "Frankfurter Zeitung". Es sei erfreulich, sagt der Buchhändler dann noch, dass er hinter vielen Büchern, die dieses Jahr gut verkauft würden, auch stehen könne.

Dom-Buchhandlung, Markt 24 in Mainz.

Häuser-Storys.

Ursula Maria Ott empfiehlt für unter den Weihnachtsbaum den Roman "Cox - oder der Lauf der Zeit" von Christoph Ransmayr, der für 22 Euro im Fischer-Verlag erschienen ist: Ein englischer Uhrmacher erhält darin vom chinesischen Kaiser den Auftrag, eine Uhr zur Messung der Ewigkeit zu bauen. Das Buch sei sehr phantasievoll und episch geschrieben. Als Sachbuch empfiehlt Ott den "Atlas der seltsamen Häuser und ihrer Bewohner" des F.A.Z.-Redakteurs Niklas Maak (Hanser, 20 Euro). Maak schreibt unter anderem über ein Haus auf Sardinien, das ein Filmemacher auf einer Steilküste gebaut hat, laut Ott eine "tolle Unterhaltung".

Sie selbst wolle das Sachbuch "Rückkehr nach Reims" von Didier Eribon lesen (Suhrkamp, 18 Euro). Eribon ist ein französischer Philosoph und Soziologe, der über die Elitengesellschaft in Frankreich schreibt, aber auch darüber, wie er seine eigene Herkunft aus der Arbeiterklasse verleugnet. Der Roman "Wiesengrund" von Gisela von Wysocki (Suhrkamp, 22 Euro) gehört ebenfalls zu den Titeln, die Ott persönlich bevorzugt. Er handelt von einer Philosophie-Studentin, die nach Frankfurt reist, um den Philosophen Wiesengrund zu erleben, er steht sinnbildlich für Theodor Adorno, bei dem Wysocki studiert hat.

Georg-Büchner-Buchladen, Lauteschlägerstraße 18 in Darmstadt.

Die Welt von Andreas Maier.

Fragt man Friederike Herrmann nach Tipps für Buchgeschenke, bietet sie eine große Auswahl an. Mehrere Romane haben auch einen Bezug zu Friedberg. Die Buchhändlerin empfiehlt den Roman von Andreas Maier "Der Kreis" (Suhrkamp, 20 Euro). Meier beschreibt, wie er zwischen vier und 13 Jahren die Welt auf seine Weise entdeckt, in Friedberg. Herrmann nennt auch "Archiv der toten Seelen" von Ales Steger: Es spielt im slowenischen Maribor, im Jahr 2012 Kulturhauptstadt Europas, und thematisiert absurde Erfahrungen mit Künstlern - so absurd, dass eben ein Roman daraus geworden ist. Er ist bei Schöffling erschienen (22,95 Euro). Die Bücher "Raumpatrouille" von Matthias Brandt (Kiepenheuer & Witsch) und "Frohburg" von Guntram Vesper (Schöffling) hätten schon genug Presse bekommen, Herrmann könne aber beide empfehlen.

Das empfehlenswerteste Sachbuch? Nach längerer Überlegung entscheidet sich Herrmann für Alwin Meyers "Vergiss deinen Namen nicht - Die Kinder von Auschwitz" (Steidl, 38,80 Euro), auch lesenswert sei "Geniale Störung" von Steve Silberman (Dumont, 28 Euro), in dem es um Autismus geht.

Buchhandlung Bindernagel, Kaiserstraße 72 in Friedberg

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 19.07.2016

Wasserpolnisch, Woscht und viel Piment
Szczepan Twardoch beschreibt in seinem Jahrhundertroman „Drach“ von vier Generationen einer Familie in Schlesien
Dieser Erzähler weiß alles. Sobald er eine Figur auftauchen lässt, weiß er nicht nur, wo sie herkommt, was sie verdrängt hat und was sie anderen verschweigen möchte, sondern er weiß auch um ihre Zukunft – vor allem, wann sie stirbt. Er hat immer alles gleichzeitig im Blick. Schon auf den ersten Seiten reibt man sich deshalb verwundert die Augen. Und man ahnt, dass Szczepan Twardochs Buch, das im polnischen Original 2014 erschienen ist, trotz alledem nichts mit einem allwissenden Erzähler zu tun hat. Der Leser wird nicht behutsam an die Hand genommen und er wird auf nichts vorbereitet. Dieser Autor spielt auf einer teuflischen Klaviatur. Er erzählt in einer souveränen Manier, aus einer scheinbar objektiven, unanfechtbaren Distanz – und dennoch schwinden alle Sicherheiten, alles verschwimmt. Dieser Roman scheint zunächst von gestern zu sein, ist aber dann einer von morgen.
  „Drach“ spielt im gesamten zwanzigsten Jahrhundert und auch ein bisschen darüber hinaus. Es geht um eine polnische Familiengeschichte, genauer: um die Geschichte einer Familie in Oberschlesien, die am Anfang gar nicht so genau weiß, ob sie sich wirklich polnisch oder doch auch ein bisschen deutsch fühlt. Am genauesten findet sie sich da wieder, wo sie „Wasserpolnisch“ spricht, also etwas Fließendes dazwischen. Erst nach dem Ende des Ersten Weltkriegs wird es ernst, und mitunter wirkt es rein zufällig, ob sich einer auf die Seite der polnischen Aufständischen schlägt oder sich raushält. Und auf welcher Seite der willkürlich gezogenen Grenze jemand wohnt.
  Zwischen allen Menschen- und Familienverflechtungen treten allmählich zwei Hauptpersonen hervor: Josef Magnor, der von 1898 bis 1945 lebt, und sein Urenkel Nikodem Gemander, der 1979 geboren wurde. Auf raffinierte Weise wird zwischen den Jahrzehnten geswitcht. Es gibt vielfältige Spiegelungen, es gibt geheime Assoziationsströme zwischen den einzelnen Zeitpunkten, an denen das Geschehen innehält und sich verdichtet, und manchmal finden die Ereignisse sogar parallel auf ein und derselben Straße statt: Deutsche ermorden in den Zwanzigerjahren einen, der für die polnische Sache kämpft, und im selben Satz rücken an dieser Stelle im Frühjahr 1945 sowjetische Panzer vor. Im Roman selbst ist das aber alles gar nicht so kompliziert. Man folgt den Ereignissen gebannt und erkennt einen tieferen Sinn. Wie der Autor das macht, ist höchst virtuos und dabei voller Geheimnisse. Niemals überspannt er den Bogen.
  Der Roman lebt von den detailliert ausgemalten, atmosphärisch naherückenden einzelnen Geschichten. Die Schlachtszene aus dem Jahr 1906 ist derb und packend beschrieben, gleichzeitig wie ein Slapstick: Wie dem Metzger alkoholisiert der Schlag ausrutscht und er schmerzhaft seinen Gesellen trifft, wie das Schwein irre im Hof herumläuft und schließlich doch erlegt wird, wie „Woscht“ schmeckt mit Piment, Wacholder und Majoran. Und ein paar Jahre später entwickelt sich die verwegene Liaison zwischen dem jungen Bergwerksarbeiter Josef, der standesgemäß die redliche Valeska geheiratet hat, und der frühreifen Bürgerstochter Caroline, in einer irritierenden Balance zwischen Naivität, Wortlosigkeit, Vertrautheit und Lust. Wie fast hundert Jahre später der schnell berühmt gewordene Architekt Nikodem auf die junge Dorota stößt, unterscheidet sich davon strukturell nicht im Geringsten – nur im Zeitkolorit. Die einzelnen Schicksale und Dramen blitzen auf und treten dann wieder zurück, um mit der Erzählerstimme zu signalisieren, „dass nichts eine Bedeutung hat und alles wichtig ist“.
  Es gibt tatsächlich eine Erzählerstimme, und wie diese inszeniert ist, wirkt auf den ersten Blick tollkühn. Es ist nämlich die „Erde“. Die Erde, aus der alles gemacht ist und in die letztlich alles wieder zurückfällt, immer wieder betont die Erde, dass sie die Toten aufnimmt und diese in ihren Kreislauf eintreten, bis in die Blätter der Linden – eine Instanz, vor der die einzelnen Menschenleben in ihrer Individualität fast lächerlich und austauschbar erscheinen. Die Erde spürt die Tritte der Hussiten im 15. Jahrhundert genauso wie die Schützengräben in Verdun, die Gruben der oberschlesischen Bergwerke und die Trippelschritte kleiner Kinder. Dass diese Erzählerstimme trägt, dass sie nicht gekünstelt, überladen oder pseudophilosophisch plump daherkommt, ist eine ästhetische Meisterleistung. „An alles erinnere ich mich“, sagt die Erde in diesem Roman tatsächlich: „Ich bin nicht jemand, der versteht, ich sehe nur. Ich weiß nur, was von Anfang bis Ende ist, deshalb brauche ich nicht zu beantworten, warum etwas ist. ‚Warum?‘ ist eine Menschenfrage.“ Ab und zu, eher selten, schaltet sich die „Erde“ in dieser Weise in das Romangeschehen ein. Man sollte ihr nicht zu sehr trauen. Diese Erde hat einen doppelten Boden.
  Der junge Josef sitzt Anfang des Jahrhunderts mit dem alten Pindur auf einem Baumstamm, in einem genau beschriebenen Sumpfgebiet im kleinen Wald zwischen Birawka-Mühle und Nieborowitzer Hammer. Der alte Pindur sagt weise, einfache Sätze, in seinem von Olaf Kühl sensibel noch ein bisschen näher ans Deutsche herangeführten schlesischen Dialekt. „Baum und Mensch und Reh sind das Gleiche“, fasst der Erzähler Pindurs Ausführungen zusammen, in Josef bleibt da etwas hängen, und wenn jener Sumpf im Wäldchen im Lauf der nächsten Jahrzehnte noch ein paar Mal leitmotivisch auftaucht, wird dieser Satz in Szene gesetzt – die Kamera leuchtet dabei nur schlaglichthaft den Schauplatz ab und bringt ihn in Erinnerung. Rehe spielen eine gewisse Rolle, wie sie in ihrer viel kürzeren Generationenfolge hier grasen, von wilden Hunden zerbissen oder von Jägern erlegt werden, und sie werden zusammengeblendet mit dem Schicksal einzelner Menschen, einer jungen Kriegerwitwe etwa, die von zwei verkommenen Subjekten heimgesucht wird und mit der Reh- und Hundeszene verschmilzt.
  Die Weisheit des alten Pindur, der das Ganze aus einem höheren Blickwinkel sehen möchte, scheint der Erzählerstimme dieses Romans zu entsprechen, sie tritt eine Art Beweisführung an. Dabei wird nichts erklärt, näher ausgeführt oder kommentiert, die Geschehnisse sprechen aus sich selbst heraus, genauso wie die jeweiligen Charaktere. Doch es gibt magische Momente. Der sehr alt gewordene Pindur und der erwachsene Josef treffen sich in einem Irrenhaus wieder, es gibt am Ende des Zweiten Weltkriegs eine verrückte Frontlinie ab, und zum Schluss strandet an derselben Stelle im Jahr 2014 auch in einem zwangsläufig wirkenden Showdown der junge Karrierist Nikodem. Das sind Schürzungen des Knotens, die dann gar nicht mehr so irrwitzig erscheinen, wie sie sind. „Die Erde ist ein großer Drach, dem kriechen mer über seinen Leib“, sagt Pindur gegen Ende zu Josef. Aber zu diesem Zeitpunkt wissen wir schon längst, dass dieser Roman gar nicht so schicksalsergeben ist, wie es die Erzählerstimme aus der Perspektive des Überzeitlichen suggeriert. Es ist literarisch höchst aufregend, wie Szczepan Twardoch mit ungewöhnlichem ästhetischen Raffinement Nationalismus, Fanatismus und die Verführbarkeit des Menschen aufzeigt.
HELMUT BÖTTIGER
  
Szczepan Twardoch: Drach. Roman. Aus dem Polnischen von Olaf Kühl. Verlag Rowohlt Berlin 2016. 412 Seiten, 22,95 Euro. E-Book 19,99 Euro.
Hier erzählt die Erde, sie weiß,
„dass nichts eine Bedeutung
hat und alles wichtig ist.“
„Die Erde ist ein großer Drach,
dem kriechen mer
über seinen Leib.“
Szczepan Twardoch, geboren 1979, gehört zu den wichtigsten Autoren der jungen polnischen Literatur. „Drach“ war in Polen ein großer Erfolg.
Foto: dpa
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Ein Fronttagebuch des Menschlichen à la Céline, der tobend laute und zugleich hellhörige Roman eines archaischen Jahrhunderts. Die Welt