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Herman Melvilles gewaltiges Versepos erscheint hier zum ersten Mal in deutscher Sprache. 4 Teile, 150 Cantos und etwa 18000 Verse - Herman Melvilles Versepos Clarel ist fraglos das gewaltigste Gedicht der amerikanischen Literatur und zugleich das unbekannteste. Hundert Jahre nach der Unabhängigkeitserklärung in einer Auflage von 330 Exemplaren auf Kosten des Autors erschienen, erwies es sich nach kurzem als ein weiterer Fehlschlag in der literarischen Karriere Melvilles, der zu jener Zeit bereits zehn Jahre als Zollinspektor im Hafen von New York arbeitete. Clarel, ein junger amerikanischer…mehr

Produktbeschreibung
Herman Melvilles gewaltiges Versepos erscheint hier zum ersten Mal in deutscher Sprache.
4 Teile, 150 Cantos und etwa 18000 Verse - Herman Melvilles Versepos Clarel ist fraglos das gewaltigste Gedicht der amerikanischen Literatur und zugleich das unbekannteste. Hundert Jahre nach der Unabhängigkeitserklärung in einer Auflage von 330 Exemplaren auf Kosten des Autors erschienen, erwies es sich nach kurzem als ein weiterer Fehlschlag in der literarischen Karriere Melvilles, der zu jener Zeit bereits zehn Jahre als Zollinspektor im Hafen von New York arbeitete.
Clarel, ein junger amerikanischer Student, unternimmt eine Reise nach Jerusalem. Dort verweben sich biblische Vorzeit und Jetztzeit, dort verknüpfen sich alle gesehenen und imaginierten Landschaften und alle Seelenbestrebungen zu einem großartigen Teppich von melancholischer Wortpracht. Grandiose Wüstenszenerien und Südseereminiszenzen vermischen sich mit Phantasien von antiker Freuzügigkeit und asketischen Modellen von Christentum und Islam. Clarel ist ein Traumspiel, worin Zeiten, Mythen und Stoffe zu einer schillernden poetischen Präsenz gebündelt werden. In der vollständigen Übersetzung von Rainer G. Schmidt kommt dieses Wunderwerk endlich auch im Deutschen zu seinem Recht.
Autorenporträt
Herman Melville (1819-91) stammte aus einer verarmten New Yorker Familie. Er ging früh zur See und verdingte sich als Matrose, unter anderem auch auf Walfängern. Seine Reisen führten ihn bis in die Südsee. 1844 kehrte er in die USA zurück, lebte als freier Schriftsteller und war von 1866-85 als Zollinspektor in New York tätig. Der Romancier und Autor von Kurzgeschichten und Lyrik gilt als einer der bedeutendsten amerikanischen Schriftsteller. Sein Meisterwerk 'Moby Dick' zählt zu den Klassikern der Weltliteratur.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.01.2007

Die Reise zum toten Meer
Herman Melville und sein Versepos „Clarel”
Selbst der erfahrene Seemann Herman Melville fühlte sich unwohl. „Als das Boot ablegte, war es sehr finster, & ich tastete mich in die Kabine der 2.Klasse. Dort begegnete ich einem Deutschen, der eben aus St. Louis in Missouri zurückgekehrt war. Führte ein Gespräch mit ihm. Von 9 ½ abends bis 5 Uhr morgens abwechselnd wach gelegen & vor Kälte zitternd aufgestanden. Ging dreimal an Deck, & sah das Boot zwischen hohen schwarzen Klippen & Felsen hindurchgleiten. - Erhabener Anblick.”
Nein, es ist keine Südseereise, von der Melville hier erzählt. Man schreibt den Dezember 1849, längst hatte der dreißigjährige New Yorker, der mit seinem exotischen Romanen „Taipi” und „Omoo” rasch bekannt geworden war, bemerkt, dass der „Westen”, also Asien, ihn nicht mehr lockte. Während der „Osten”, Europa, in dem Melville Anerkennung gefunden hatte, an Interesse gewann. In jener Dezember-Nacht befand sich Melville gerade in Deutschland. Die Schiffsreise führte ihn über den Rhein. Er war von Köln aus, in dem er den Dom bewundert, Zigarren gekauft und Wein getrunken hatte, aufgebrochen und konnte morgens konstatieren „kam endlich, noch bei Dunkelheit, in Coblentz an”.
In der Wüstenei des Zweifels
Die nächste, wichtigere Ost-Fahrt unternahm Melville erst Jahre später. 1856 brach der streng calvinistisch erzogene Nachfahre schottischer und niederländischer Einwanderer nach Palästina auf – damals eine Weltreise. In Liverpool besuchte Melville den von ihm verehrten Hawthorne, der anschließend schrieb Melville sei unruhig, könne sich zu keinem „eindeutigen Glauben durchringen”, streife „beharrlich” in den „Wüsteneien” des Zweifels herum. „Weder vermag er zu glauben, noch kann er sich in seinem Unglauben behaglich einrichten, und er ist zu aufrichtig und couragiert, um nicht das eine und das andere immer wieder zu versuchen.” So ist der Besuch der heiligen Stätten kein Zeugnis spiritueller Sicherheit, eher das Gegenteil.
Über Gibraltar erreicht Melville das Mittelmeer und pirscht sich über Malta und Alexandria an sein Ziel heran. Vom 6. bis 25. Januar 1857 hält er sich in Palästina auf, führt dabei, wie auf der ersten Europa-Reise, ein oft stichwortartiges, pathetisch-poetisches Tagebuch: „Weißlicher Mehltau, der ganze Landstriche überzieht - ausgebleicht - Aussatz - verkrustete Verfluchung - alter Käse - Felsengerippe, zermalmt, zerkaut & abgenagt - Schutt & Auswurf der Schöpfung - genau wie vor dem Jaffator - ganz Judäa scheint so ein Schutthaufen gewesen zu sein. (...) nirgendwo Zauber des Verfalls - kein Efeu - Trostlose Nacktheit des Verwüstung.” Man spürt die Irritation und Anziehung, die von diesem seltsamen verheißenen Land auf Melville ausgegangen sein müssen, noch heute. Doch erst fünfzehn Jahre später, um 1870, beginnt der nunmehr fünfzigjährige Autor, seit kurzem Zollinspektor im New Yorker Hafen, aus den Reisenotizen von einst sein Epos „Clarel” zu verfassen.
Zu diesem Zeitpunkt ist Melville schon ein gescheiterter Autor. Seinen Anfangs-Erfolg hat er nie wiederholen können. Was ihn, glaubt man den Äußerungen des Sprosses einer verarmten Bürgersfamilie, nicht überraschte. Seinem Schwiegervater Lemuel Shaw, damals oberster Richter von Massachusetts, schreibt er im Herbst 1849, auf der Höhe des Erfolgs, was er von seinen Bestsellern halte: „Brotarbeiten”, „aus Zwang” unternommen, „so wie andere Männer gezwungen sind, Holz zu sägen.” Sein eigenes „ernstliches Verlangen” sei es, Bücher zu schreiben, die man gemeinhin als ‚gescheitert‘ bezeichnet. - Verzeihen Sie diesen Egoismus.”
„Clarel” setzt dem programmierten Misserfolg die Krone auf: 18 000 Verse, 5 Jahre Arbeit, doch 224 von den 350 Exemplaren, die sein Onkel Peter Gansevoort finanziert hat, muss Melville zwei Jahre später auf eigene Kosten einstampfen lassen. Fast alle Besprechungen sind negativ, eine macht sich über die „Ziellosigkeit” des Versepos lustig und behauptet, es hätte noch einige zehntausend Verse mehr umfassen können, das hätte keinen Unterschied bedeutet. Tatsächlich stellt „Clarel” seine Leser auf eine harte Probe. Wobei das monumentale Werk, das jetzt zum erstmals auf deutsch erschienen ist, durchaus nicht zäh beginnt. Sofort gewinnt der Titelheld Kontur: „In einer Kammer, niedrig und von Zeit gezeichnet, / Altes Gemäuer, jüngst mit Kalk getüncht- / Das einem frisch in Stein gehau‘nen Grabe gleicht,/ Sitzt ein Student, Ellbogen auf dem Knie,/ Die Stirn ganz regungslos gestützt auf die / Handschräge, und sinnt für sich.” Mittelalterlich wirkt die Gesprächspartnerin, die Melville Clarel gleich auf der ersten Seite zuschiebt: „die Theologie”, bei der sich Clarel über das „naturalistische Geläut” beschwert, das Phantasie wie Sehnsucht störe.
Nun ist diese Gesprächspartnerin ungewöhnlich, doch kennzeichnend für „Clarel”: Es ist ein massives Gedankenepos, das man nicht monolithisch nennen mag, weil es, wie alle nicht-kommerziellen Bücher Melvilles, geradezu darauf aus ist, keine Einheit zu bilden. Ein dünner Handlungsfaden entwickelt sich, als sich Clarel in Ruth verliebt, Tochter eines zum Judentum konvertierten Amerikaners und seiner jüdischen Frau. Doch als Ruth nach dem Tod ihres Vaters von Orthodoxen davon abgehalten wird, sich weiter mit dem Christen Clarel zu treffen, begibt sich der ohne großes Zögern auf eine Reise ans Tote Meer.
Dabei entwickelt sich, auch wenn Melville wunderbare Beschreibungen der beinahe leblosen Landschaft aus seinen Notizbüchern rettet, weniger ein Abenteuer-Roman als eine animierte Plauderei zwischen den Herren, denen Clarel begegnet. Es treten auf: Derwent, ein liberaler Vernunftkatholik; der vornehme Vine, der Hawthorne gleicht und von Clarel homoerotisch getönt bewundert wird; Rolfe, ein ehemaliger Abenteurer, der die Südsee bereist hat und deswegen oft für Melville gehalten wird; Margoth, ein jüdischer Geologe, der prononciert als Wissenschaftler auftritt, was ihm viele, klassisch antisemitisch, übel nehmen, usw.
Die noch vor zwanzig Jahren historisch wirkenden Diskussionen zwischen Fundamentalisten und Reformern verschiedener Glaubensrichtungen sind wieder unglückselig aktuell. Melville selbst war ein vom Glauben abgefallener Zweifler. Doch ein Ausspruch, den er Derwent in den Mund legt, ist typisch für den Halt suchenden Unterton des Buchs. Der „Zweifel”, „einst Aristokrat”, sei heute „Ladenschwengel”: „Je mehr man also heute glauben kann, um so mehr, seht, ist man verschieden vom liederlichen Gemeinplatz.” Die Streitgespräche vermögen immer wieder zu packen, doch wenn sie überborden, denkt man, dass der Zwang, sich den Forderungen des Marktes anzupassen, dem Melville bei „Clarel” kaum mehr folgte, nicht immer geschadet hat. Der rätselhafte, großartig-zwiespältige Hybrid „Moby Dick” ist erst durch die ausgehaltene Zerrissenheit zwischen den eigenen Zielen und der Forderung nach kommerziell erfolgreichen Spannungsbögen entstanden.
Der überraschendste Pilger in der Wüste Palästinas ist der pessimistische Indianermischling Ungar. In ihm zeigt sich am deutlichsten, dass es Melville nicht nur um den Glauben ging. Ungar hat angesichts der Alten Welt nichts weniger im Sinn als eine Neudefinition der „Neuen Welt”. Scharf kritisiert er die amerikanische Gegenwart: „Den Angelsachsen mangelt es an Güte,/ Die Liebe anderer Völker zu gewinnen./ Bei den Entrechteten sind sie verhasst,/ Indianern, Indern - Ost und West. / Piraten sind‘s, der Erdball ihre Beute." Ungar glaubt nicht an den Mythos des geschichtslosen und daher freien Amerika. Kurz vor der Hundertjahrfeier des amerikanischen Staates, diagnostiziert er „zivilisierte Barbarei”. Durch „populäre Wissenschaft” werde der Mensch „zum Stümper entgöttlicht”. Ein „angelsächsisches China” stehe am Horizont. Melville will, dass die Legende vom pluralistischen Amerika wahr wird. Und kann nicht mehr daran glauben. Schon „Columbus”, so der Erzähler, „beendete die Romanze: Es bleibt der Menschheit keine Neue Welt!”
Rainer G. Schmidt ist für seine zuverlässige Prosaübersetzung zu Recht gelobt worden. Und doch trauert wohl jeder, der das amerikanische Original zum Vergleich heranzieht, diesem nach. Metrik und Endreim, den Schmidt gekappt hat, sind hier keine dekorativen Elemente. Sie verhelfen den sperrigen Gesprächen zu erstaunlichem Drive. So bietet die deutsche Fassung eine getreue Übersetzung des Inhalts, doch das Original bezieht gerade aus dem Widerspruch zwischen gebundener Rede und mehr oder weniger unverbundenen Denkbrocken seinen schönen, eigenwilligen Reiz. HANS-PETER KUNISCH
HERMAN MELVILLE: Clarel. Gedicht und Pilgerreise im Heiligen Land. Übersetzt, kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Rainer G. Schmidt. Verlag Jung und Jung, Salzburg 2006. 672 Seiten, 44 Euro.
Herman Melville (1819-1891) Foto: Granger Collection/Ullstein
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.12.2006

Am heil'gen Ort in einen Hinterhalt geraten!

Melvilles Epos "Clarel" zielt direkt in ein Vakuum unserer Gegenwart. Denn den Schöpfer des "Moby Dick" trieb die Furcht vor einer entzauberten Welt, in der die Religion keine Bedeutung mehr hätte und ihre Stätten Touristenattraktionen wären.

Von Brigitte Kronauer

Wüstenkloster Mar Saba im sogenannten Heiligen Land, zweite Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts: Dem weltläufigen Anglikaner Derwent, eher neugierig Reisender als frommer Pilger, bietet sich ein unerwartetes Schauspiel: "In sein seidenes Gewand gerollt / War er um Mittag auf seinem Perserteppich / Zu sehn, behaglich wie die gezierte / Malteserkatze, im ros'gen Feuerschein / Geräkelt auf dem samtnen Saum / Der Kleiderpracht einer sitzenden / Dame."

Welcher Nicht-Eingeweihte käme auf den Gedanken, es könnte sich bei der "Malteserkatze" um einen blinden Greis handeln, der zudem griechisch-orthodoxer Abt ist? Der Abt indessen, in seinem "orthodoxen und verehrungswürd'gen Glauben", hält den römischen Papst für einen Protestanten, Rationalisten, Häretiker, Sektierer, außerdem die Nachrichten der Welt für entbehrlich, da ihm die Heilige Schrift und die Kirchenlehrer zur Information vollauf genügen. Der "Eremitenkönig" wiederum blüht auf, da ihm das "Spielzeug" der Greise, der Besitz unangefochtener Autorität, von seinem Besucher großzügig zugestanden wird, und erweist sich selbst als ein Kopf von strenger Freisinnigkeit, als er, von Derwent gefragt, ob die Gebeine in seinen Händen denn je Übernatürliches bewirkt hätten, liebenswürdig antwortet: Nicht, daß er wüßte! Es seien eigentlich nur einstmals vom Scharfrichter als teure Erinnerungsstücke erbettelte Überreste der für ihren christlichen Glauben Gestorbenen.

Die Stunde dieser Begegnung unterschiedlicher Geister ist erleuchtet von der Heiterkeit einer ebenso selbstverständlichen wie noblen Toleranz. Damit verbunden, bei allem Respekt vor der Würde des Alters und Weltanschauungen, die gelassen durch ein langes Leben bewahrt wurden, ist eine sanfte Komik. Sie rundet sich knapp vor dem Einnicken des Hochbetagten, als Derwent sich bemüht, die sakralen "Skelett-Fragmente" besonders ehrerbietig zu betrachten und dabei in seinem höflichen Eifer, diesmal vom Autor milde belächelt, ganz die Blindheit des umschmeichelten Gastgebers vergißt.

Neben der für Melville typischen Neigung zu einer subtilen Frivolität bei der Metaphernbildung werden hier, im dreiundzwanzigsten Canto des dritten der insgesamt vier Kapitel des Versepos "Clarel", einige von dessen tragenden Motiven angespielt: die Konfrontation von Strenggläubigkeit und Liberalität mit allen Nuancen dazwischen, der aufgeklärte Blick auf die Mythen Judäas, die Allgegenwart des Beinernen, Toten, Skeletthaften und die Frage nach dessen möglicher Bedeutung für die Lebenden.

Wobei das Museale der heiligen Stätten von psychologischen Finessen des Zwischenmenschlichen, Zwischenmännlichen, oft jeweils zum Abschluß der insgesamt 150 Cantos beatmet und manchmal sogar in Vibration versetzt wird, gar nicht zu reden von den begeisternden, alle Geologie, Historie und Seelenlandschaft durchtönenden Schilderungen der Mauern, des Meeres, der Wüste.

Ausgespart aber bleibt in der schwerelosen, alles andere als ungewichtigen Szene das Zentrale. Und das ist bei Melville niemals die Windstille alttestamentarischer Lebenssattheit und graziöser Lebenskunst, sondern immer Bewegung, Sehnsucht. Die gilt es, anders als in den wilden ozeanischen Verfolgungsjagden der umfangreichen Romane "Mardi" und "Moby Dick", diesmal über eine Pilgerreise durch fast 18 000 Verse aufrechtzuerhalten.

Für die schmalen Schultern der Titelfigur, des aus Amerika angereisten, weiblich hübschen Studenten Clarel, ist diese Last, das erweist sich bald, zuviel. Gleich zu Anfang sehen wir ihn in der klassischen Haltung der Melancholie über die Enttäuschung grübeln, die ihm Jerusalem bereitet, jene Stadt, der er sich in der unklaren Erwartung eines sich offenbarenden Genius loci genähert hatte: "Am heil'gen Ort in einen Hinterhalt geraten!" Die Falle, in der er sich gefangen sieht, ist die der Ernüchterung durch die konkrete Banalität bisher nur vorgestellter Legenden, hier, doppelt schmerzlich, des heiligen Zion.

Zwanzig Jahre vorher, im Tagebuch seiner Reise ins Heilige Land (1856/57), benannte Herman Melville seine Eindrücke krasser: "Kein Land kann schneller romantische Vorstellungen zerstreuen als Palästina - insbesondere Jerusalem . . . In der Leere der leblosen Antiquität Jerusalem leben die jüdischen Emigranten wie Fliegen, die sich in einem Totenschädel niedergelassen haben."

Das Sehnsuchtsziel erlöscht.

Sofort aber tauchen in Clarel auch Zweifel an der Angemessenheit des westlich modernen Blicks für die Deutung der nicht weltlichen Seite Palästinas auf. Hier wird eine erste Schneise durchs Labyrinth des Epos geschlagen. Wo der eine, sich vage betrogen fühlend, nichts als Schrott und Ramsch sieht, erfährt der weniger Rechthaberische eventuell eine flüchtige oder prägende Inspiration, erlebt - und das betrifft die zerstreuten oder gelehrten Nachfolger der Pilger, die Touristen der biblischen Orte, vielleicht noch heute -, einen erhellenden Schauer angesichts der wenn auch ruinösen Urorte christlicher Kultur.

Clarel hat keine geheimnisvolle Yillah wie in "Mardi" und keinen Moby Dick, die er durch das Buch hindurch, sich und den Leser in Atem haltend, mit heißem Herzen verfolgen könnte. Er verliebt sich statt dessen in die schöne Ruth, Tochter einer Jüdin, die für ihn zeitweilig unerreichbar wird, weil sie wegen ihres von einem Araber ermordeten amerikanischen Vaters aus rituellen Gründen eine Weile im Haus eingeschlossen bleibt. Clarel nutzt die Zwangspause für eine Pilgerreise, die von Jerusalem zum Toten Meer, über Bethlehem zum Ausgangspunkt zurückführt, Orte, die mit den alten christlichen Kirchenfesten zwischen Weihnachten und Pfingsten untrennbar verbunden sind.

Die Idee dieser Liebe macht die steinige Öde und Clarels jugendliche Entgeisterung durch die unspirituelle Gegenwart erträglicher, aber mehr und mehr scheint er sich nur noch gewaltsam an Ruth erinnern zu können. Er muß sich zwischendurch zu seinem Verliebtsein geradezu aufrappeln, auch, weil ein homoerotisches Irisieren in der reinen Männergesellschaft der kleinen, stark konzeptuell gewählten Schar die Atmosphäre zunehmend bestimmt. Und so ist am Ende, als er wieder in Jerusalem eintrifft und Zeuge von Ruths Beisetzung wird, seine Verzweiflung wohl gar nicht so sehr eine die geliebte Person betreffende. Schlimmer ist für ihn, dem Melville aufgetragen hatte, "jedwede Hoffnung zu erproben", das heißt, eine Lebenspilgerreise im Konzentrat zu absolvieren, der Verlust von Ruths Funktion. Es ist das endgültige Erlöschen eines Sehnsuchtsziels und damit des Sinns seiner Existenz.

Was sich ungleich stärker als Clarel und seine Liebe in den Vordergrund schiebt, ist die Reisegruppe. Wie im Roman "Mardi" die durcheilten Inselreiche jeweils ein Staats- und Lebensprinzip verkörpern, so tun es hier die Begleiter Clarels. Die Interferenzen und Argumentationen zwischen ihnen, vom Skeptizisten bis zum selig Gläubigen, vom materialistischen Naturwissenschaftler bis zum seiner Utopien beraubten Revolutionär, geben alle denkbaren Haltungen gegenüber der tatsächlichen und symbolischen Bedeutung oder Nichtigkeit biblischer Stätten wieder. So elaboriert, aggressiv oder visionär die rhetorischen Ausuferungen und Statements eines Derwent, Rolfe, Nehemia, Magoth, Mortmain aber auch ausfallen, sie werden, und sei es anläßlich der Melville seit eh und je am Herzen liegenden Seelenverwandtschaft von Gut und Böse, immer als nicht absolut zu setzende Einzelstandpunkte und alle zusammen als Geplauder in einer großen, gleichgültigen Schuttlandschaft relativiert.

Demnach kommt es Melville keinesfalls auf den Sieg einer einzigen Deutung von Heiligem Land und Lebenspilgerschaft an. Es entsteht vielmehr eine gewaltige Skulptur, ein schichtenreicher Körper, eine unaufhörlich reflektierende Zeitmaschine; ein von Ereignissen der Antike wie denen eines nach dem Bürgerkrieg politisch und sozial desillusionierten Amerikas durchzogenes, mit zahllosen Zitaten und Anspielungen der europäischen Literatur und Philosophie gemasertes Epos, voll schimmernder Adern und Verschmelzungen.

Der Ehrgeiz Melvilles war offenbar, die welt- und zeitumspannende Erfahrungs-, Wissens-, Gefühls- und Assoziationsmasse einiger exemplarischer Individuen auf dem dafür am besten geeigneten Boden in einen kompakten Textleib und Riesengesang zu bannen. Aus diesem Grund läßt er seine Figuren unentwegt erzählen, sich erinnern, disputieren. Die Entscheidung des Autors, das Gebilde in unregelmäßig gereimten Versen zu schreiben, bestätigt die Vermutung. Er hebt es dadurch noch deutlicher als künstliche, sich ständig ausbalancierende Plastik hervor.

Drive, Crime, Sex, Suspense? Nichts da! Trotz einiger anzüglicher Liedchen und obschon zwei der Pilger unterwegs sterben und die Schar in ein paar brenzlige Situationen gerät, aus denen sie ihr libanesischer Führer mit fast wortloser Eleganz rettet: Das Buch verlangt nicht weniger als ein zeitweilig vollkonzentriertes Abtauchen. Dafür gibt es in diesem nur anfangs gepanzert, partienweise dann berauschend wirkenden Textblock, nicht allein weil der Schauplatz ein Brennpunkt heutiger Weltpolitik ist, eine inhaltliche Brisanz, die zum erwähnten Generalantrieb des Autors Melville, zur vorwärtsgerichteten Sehnsucht zurückführt und in ein Vakuum unserer Gegenwart direkt hineinzielt.

Denn es steckt ja ein Stachel in dem Ganzen. Ein Kummer windet sich durch die Cantos, der Melvilles weltmännisches Ideal brüderlicher Toleranz der Unverbindlichkeit verdächtigt. Es ist der Schmerz über den Untergang eines nicht zu ersetzenden Menschheitsbesitzes, ausgedrückt etwa in der Überlegung, das Hauptsymbol christlicher Kultur, das Kreuz, könnte irgendwann oder bald den Nachfahren nicht mehr und nicht weniger sein als Orions Schwert, dessen Sagenbedeutung dann aber auch vergessen sein wird.

Es geht um die Trauer über eine entzauberte, trivialisierte Welt, die den Menschen mit seinen Extremen zu einem "Stümper" erniedrigt, in der die heiligen Gedenkstätten verschimmeln und zerfallen wie die tief bewegenden, allmählich verbleichenden Gott-Mensch-Geschichten von Krippe und Grab, Ölberg und Golgatha in unseren Köpfen: Fixsterne, unserer lebendigen Vorstellungskraft anvertraut, denen die großen Gründungsgesten der römischen Liturgie entstammen (zu der es eine scharfsinnige Apologie im Buch gibt) und die für viele Jahrhunderte einziges Thema der ohne sie unverständlichen europäischen Malerei waren, heute aber, was Melville schon ahnte, wohl nicht mehr zum zumutbaren Bildungsfundament gehören.

Natürlich kennt er alle Einwände gegen den Glauben an die Authentizität der biblischen Orte und ihrer Überlieferungen. Er ist aber genügend Skeptiker, um dem Skeptizisten in sich zu mißtrauen, und vor allem ausreichend Künstler, um gegenüber dem Geologen, den, in debilster Wissenschaftsbeschränktheit, am Jordan nur Landvermessungsprobleme und infrastrukturelle Erschließungen beschäftigen, und angesichts der gebildeten Gefährten, die beim rein atmosphärisch motivierten Singen des Ave-maris-stella-Liedes ein "flüchtiges, ästhet'sches Glühen vollbringen", nachsichtig Partei zu ergreifen für den schwärmerisch gläubigen Nehemia, dem das bittere Jordanwasser bibelfest süß schmeckt. Kein einziges Bezweifeln, aber auch keine Variation der Verteidigung jener alten, durchaus nicht überflüssig gewordenen Trost- und Erlösungsbilder als eines humanen und das Menschliche übersteigenden Schatzes ist dem Autor fremd.

Religion als radikalste Poesie.

Dem Schöpfer der großartigen Fiktion und Verdichtung "Moby Dick" kommt es, das ist klar, nicht auf ein kindisches Wörtlichnehmen von Legenden an. Er erkennt in den biblischen Kristallisationen, im Kuß des Judas, in der Verlassenheit des Jesus am Kreuz wie im Glanz der Auferstehung Szenen, in denen eine ungeheure Wucht poetischer Vergegenwärtigung tätig ist. In ihnen ist transzendierte Menschlichkeit und Sehnsucht nach dem Göttlichen bildlich gespeichert, eine zurückwirkende Energie, von den Ikonenmalern einst Gnade genannt, die durch die Orthodoxien von Kapitalismus und Naturwissenschaft erledigt wird. Bis zur Verblödung pragmatisierte Aufklärung?

Religion, ihre Bilder und Liturgien, verstanden als radikalste Poesie: Zukunftsvision, die etwa einem Novalis die Feuerprobe der Industrialisierung voraus hat und die für einige Wüsteneien des unerschöpflichen Textes entschädigt. Mit ihr, jener Kraft, die Dinge, die unser trostbedürftiges, von vielem geängstigtes Herz betreffen, zu Bildern formt und kondensiert, verlören wir eine unserer wichtigsten Fähigkeiten: "Inmitten solcher Szenerie / Des Schreckens der Natur / wie heiter wirkt / Da jene geordnete Gestalt. Nicht minder ist / Aus diesem Schrecken sie gehauen - grenzt / An ihn; Kunst ist es." So Rolfe, die Melville am nächsten stehende Figur, über die Felsenstadt Petra.

"Aus diesem Schrecken sie gehauen": In seinem Nachwort, dem ausführliche Anmerkungen vorausgehen, erwähnt Rainer G. Schmidt, der mit dieser vollständigen Erstübersetzung wahrhaft heroische Arbeit geleistet hat, "Clarels" deprimierende Rezeption. Sie war für den vom Erfolg schon lange verlassenen Melville eine Katastrophe. An dem singulären, unter abweisender Oberfläche vielfach glühenden Werk aber möge sich endlich bewahrheiten, was seine letzte, fast barocke Zeile dem verzweifelten Clarel als Möglichkeit in Aussicht stellt: "daß Tod das Leben in den Sieg nur treibt".

Herman Melville: "Clarel". Gedicht und Pilgerreise im Heiligen Land. Übersetzt, kommentiert und mit einem Vorwort von Rainer G. Schmidt. Jung und Jung, Salzburg 2006. 672 S., geb., 44,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Dies späte Werk ist ein singuläres Unterfangen, und ein singuläres Desaster für seinen Verfasser war es auch. Beim Erscheinen ging es sang- und klanglos unter, und auch die Rezeption der Nachwelt hat lange auf sich warten lassen. Was man schon daran sieht, dass die nun vorliegende Übersetzung der 18.000 Verse dieses Romans die erste vollständige Übertragung ins Deutsche ist. Entsprechend würdigt die Rezensentin Brigitte Kronauer sie auch als "heroische" Leistung. Und gelohnt hat es sich ihrer Ansicht nach sowieso, denn dieses Buch erweist sich als große Schatztruhe, als ein "vielfach glühendes" Werk, das besingt, was uns heute noch umtreibt. Es spielt in Palästina und dreht sich um Fragen von Religion und Säkularismus, vorgeführt nicht so sehr an der blassen Titelfigur Clarel, sondern vor allem an einer Reisegruppe, deren Mitglieder zu Vertretern von Weltanschauungen werden. Eine Lösung für den Verlust der Spiritualität hat Melville dabei nicht zu bieten, aber schon dass er die Frage so nuanciert stellt, ist für Kronauer ein großes Verdienst. Leicht mache es einem der Autor im Übrigen nicht, Spannung, Eros, flotte Handlung: Fehlanzeige; vielmehr ist, so Kronauer, "vollkonzentriertes Abtauchen" vonnöten. Dies aber wird mit einem "berauschenden" Lektüreerlebnis mehr als belohnt.

© Perlentaucher Medien GmbH