Es ist eine eigene Welt, die langsam verschwindet. Japanische Jazz-Kneipen, Kissas, wie sie auf Japanisch heißen, hatten in den Sechziger- und Siebzigerjahren ihren Zenit, aber mit dem Publikum sterben auch die Orte. Kissas sind keine durchgestylten Schickimicki-Bars, keine lichtdurchfluteten
Wohlfühloasen mit Clubsesseln und hübschen Kellnerinnen, sondern verrauchte Kellerbars in schummrigem…mehrEs ist eine eigene Welt, die langsam verschwindet. Japanische Jazz-Kneipen, Kissas, wie sie auf Japanisch heißen, hatten in den Sechziger- und Siebzigerjahren ihren Zenit, aber mit dem Publikum sterben auch die Orte. Kissas sind keine durchgestylten Schickimicki-Bars, keine lichtdurchfluteten Wohlfühloasen mit Clubsesseln und hübschen Kellnerinnen, sondern verrauchte Kellerbars in schummrigem Licht, mit übersichtlicher Getränkewahl und einem Besitzer in meist vorgerücktem Alter, der über ein Imperium aus hunderten, manchmal sogar tausenden LPs regiert, die wohlsortiert und katalogisiert in Regalen auf ihren Einsatz warten. Aufgelegt wird je nach Stimmung des Eigentümers oder seiner Gäste, die meistens Stammgäste sind und bei dezenter Jazz-Untermalung an ihrem Kaffee oder Whiskey nippen. Anders als in den ebenfalls sehr familiären Izakayas gibt es kein Essen, aber die persönliche Bindung zwischen Gast und Betreiber ist obligatorisch und macht die Kissas zu etwas absolut Einzigartigem und typisch Japanischem.
2017 begann der Fotograf Philip Arneill, der damals schon fast 20 Jahre lang in Japan lebte, diese verschwindende Kultur im Bild festzuhalten und anders als es der Titel des Buches andeutet, beschränkte er sich keineswegs auf Tokyo. Seine Erlebnisse und Bilder kommen aus ganz Japan, von Sapporo bis Kitakyushu und er ist für sie tausende Kilometer geflogen oder mit dem Shinkansen gefahren.
Die Fotos fangen eine patinierte Atmosphäre ein, wie mit Zigarrettenrauch getränkt und im Staub konserviert. Ich habe mich als Betrachter nicht selten in der Position eines Archäologen gefühlt, der ein antikes Grab öffnet, zumal nur auf wenigen Fotos die Besitzer zu sehen sind und nur ein einziges Mal ein Gast. Aber das ist eben auch die Realität: Die Protagonisten sterben weg und es gibt kaum Nachfolger, da die Musik ebenfalls aus der Zeit fällt. Jazz ist komplex, anspruchsvoll und eine Musik für den kleinen Rahmen. Man füllt damit keine Olympiastadien und er verträgt kein Bühnenfeuerwerk. Eine verräucherte Kneipe im Souterrain eines Bahnhofs passt dagegen perfekt.
Philip Arneill hat einen Blick fürs Detail. Er zoomt auf ein Schild und dessen abplatzende Beschriftung oder notdürftig mit Klebeband fixierten Risse sagen mehr über den Zustand dieser speziellen Kulturform als so mancher eloquente Aufsatz. Kissas gehörten immer zur Subkultur und sie sammelten ein nicht ganz so angepasstes Publikum, ähnlich wie heute z. B. Cosplay. Aus diesem Gemeinschaftsgefühl heraus erklärt sich auch die Loyalität, die sowohl die Gäste als auch die Betreiber verspüren, denn die Bilder zeigen auch, dass die Kissas meist keinen Gewinn abwerfen. Sie sind Zeit- und Erinnerungskapseln. Erinnerungen, die zwar mit den Protagonisten sterben werden, aber in den Fotos dennoch gelassene Melancholie und keine Trauer vermitteln. Insofern stimmt das Bild vom Anfang nicht ganz. Kissas sind keine Gräber, die es zu entdecken gilt, sondern Orte eines alternativen Lebensstils, der allerdings gerade ausstirbt.
Da ich mich seit vielen Jahren mit Japan befasse und auch schon oft dort war, habe ich einige Hintergrundinformationen zu den Kissas, die ich hier verarbeitet habe und gerne auch in Philip Arneills Vorwort gelesen hätte, aber er fokussiert mehr auf den Entstehungsprozess des Buches als auf den besonderen kulturellen Hintergrund. Das ist ein bisschen schade, allerdings kann ein guter Beobachter vieles von dem auch aus den Bildern ablesen. Es sind in jedem Fall faszinierende Einblicke mit dokumentarischem Wert, die die besondere Atmosphäre einfangen, ohne voyeuristisch zu sein. Noch leben die Kissas.
(Dieses Buch wurde mir vom Verlag kostenfrei zur Verfügung gestellt. Auf meine Rezension wurde kein Einfluss genommen, der Inhalt stellt meine persönliche Meinung dar.)