28,00 €
inkl. MwSt.
Versandkostenfrei*
Sofort lieferbar
payback
0 °P sammeln
  • Broschiertes Buch

Mit "BUMM!", einem Paukenschlag, fiel Antwerpen im Oktober 1914 der Übermacht der deutschen Geschütze zum Opfer. Die Stadt wurde eingenommen und blieb vier Jahre lang besetzt. Der flämische Dichter Paul van Ostaijen verarbeitete diese überwältigende Erfahrung in dem ebenso überwältigenden Gedichtband Besetzte Stadt (1921), dessen Formenreichtum aus einer Welt erwächst, die durch den Krieg tief erschüttert ist. Dieses umfangreichste literarische Experiment der internationalen Avantgarde wurde von Van Ostaijen mit einer Typografie bedacht, die die Narben der Zeit trägt. Er war davon überzeugt,…mehr

Andere Kunden interessierten sich auch für
Produktbeschreibung
Mit "BUMM!", einem Paukenschlag, fiel Antwerpen im Oktober 1914 der Übermacht der deutschen Geschütze zum Opfer. Die Stadt wurde eingenommen und blieb vier Jahre lang besetzt. Der flämische Dichter Paul van Ostaijen verarbeitete diese überwältigende Erfahrung in dem ebenso überwältigenden Gedichtband Besetzte Stadt (1921), dessen Formenreichtum aus einer Welt erwächst, die durch den Krieg tief erschüttert ist. Dieses umfangreichste literarische Experiment der internationalen Avantgarde wurde von Van Ostaijen mit einer Typografie bedacht, die die Narben der Zeit trägt. Er war davon überzeugt, dass eine Welt, die in Schutt und Asche liegt, nur mittels einer zertrümmerten Sprache beschrieben werden kann. Mit diesem Buch erscheint die erste Übersetzung des gesamten Gedichtbands im Original-Layout.
Autorenporträt
Paul van Ostaijen war ein radikaler Künstler, Dichter und Groteskenschreiber. 1896 in Antwerpen geboren, wurde er zum überzeugten Aktivisten für die Emanzipation des flämischen Volkes. Hierdurch zur Flucht nach Berlin gezwungen, lernte er dort Vertreter von Dadaismus und Expressionismus kennen, die sein eigenwilliges Werk beeinflussten. Schließlich kehrte er nach Belgien zurück, eröffnete eine Kunstgalerie und starb 1928 viel zu früh an einem Tuberkulose-Leiden. Wunderhorn bietet mit den drei Neuerscheinungen einen umfassenden Überblick über das Werk dieses fast vergessenen Dichters.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.03.2024

Ein wilder Tanz der Wörter auf den Seiten

Kanonenkoitus und Schrapnellmenuett: Der flämische Modernist Paul van Ostaijen schuf mit "Besetzte Stadt" 1920 ein Hauptwerk der Avantgarde, das nun auf Deutsch vorliegt. Es ist auch typographisch ein Meisterstück.

Von Tobias Lehmkuhl

Zigomar, Kodak, Liebknecht, Tschako: Auch ohne Internet flogen einem vor hundert Jahren die Namen und Nachrichten nur so um die Ohren. Kaum ist der Große Krieg vorüber, stürzt die ganze Welt auf einen ein; Caruso, Utah, Tango und Ragtime, es schwirrt einem der noch vom Geschützdonner dröhnende Kopf vor lauter Gegenwart. Autos, Aeroplane und Paternoster - das Leben ist auch 1920 die reinste mentale Überforderung.

Kaum jemand hat diesen Zustand besser zum Ausdruck gebracht als der flämische Dichter Paul van Ostaijen in seinem Gedichtband "Besetzte Stadt". Wobei "Gedichtband" viel zu harmlos klingt für die Sprachexplosion, die hier auf hundertfünfzig Seiten typographisch in Szene gesetzt wird. Buchstaben purzeln übers Papier, Wörter stäuben in alle Richtungen auseinander, nehmen die Form von Werbeanzeigen an, machen sich fett, grauen aus, stellen sich quer.

Nicht nur "Heil dir im Siegerkranz" heißt es im Nachhall des Ersten Weltkriegs gleich am Anfang von "Besetzte Stadt", sondern, gegen Ende, auch "Heil den Senegalesen" - was als Echo wiederum, als eine Art groteske Verballhornung, der Kaiserhymne begriffen werden kann. Aber es ist mehr als das. "Heil den Senegalesen" bezieht sich auf eine Nachricht, die 1920, als van Ostaijen seine "Besetzte Stadt" schrieb, durch die Presse ging: In der damaligen Hauptstadt des Senegals, in St. Louis, verloren die Franzosen ihre politische Vorherrschaft. Das Parlament setzte sich fortan aus einheimischen Bürgern und traditionellen Führern des Landes zusammen.

Für die Senegalesen war es insofern ein gutes Jahr. Für Europa kann man das nicht sagen. Die Nachwehen der Jahre 1914 bis 1918 waren überall zu spüren, die rasanten gesellschaftlichen, politischen und technischen Veränderungen und Entwicklungen ließen kaum Zeit, um Luft zu holen und die Lage zu überblicken. Man musste nicht nur die Traumata der Schützengräben verarbeiten, man befand sich mitten in einem Strudel, der die Welt, wie man sie kannte, ordentlich durchquirlte, sie einerseits bunter, vielgestaltiger, reichhaltiger machte, sie zugleich aber auch kleiner werden ließ: Amerika war plötzlich ungeheuer nah, und über die Gegenwart und Vergangenheit des Doppelkontinents wusste auf einmal jedermann Bescheid. Paul van Ostaijen reicht die Chiffre "Utah-Indianer Azteken", um die neue Enge dieser Welt, die in ihrer Enge gleichzeitig zu bersten droht, auf den Punkt zu bringen.

Aus New Orleans schwappte der Jazz herüber ins alte Europa mit seinen Militärmärschen, aus Buenos Aires der Tango. Lange bevor Edith Piaf ihren heimeligen Chanson "Sous le ciel de Paris" singt, ertönt bei Ostaijen ein alle bekannten Rhythmen aufbrechender Tango: "Sous le ciel de l'Argentine". Aber natürlich ist Paris zentral für diesen in Berlin schreibenden Flamen: Zumindest gesellt sich zum angelsächsischen "Old Tom Gin" und den "Birmingham Small Arms" noch "Rimmel's New Cosmetique, Paris" hinzu - wenn auch die neue Zeit sich selbst in der Modehauptstadt der Welt mit einem "New" schmückt und nicht mehr "nouvelle" sein will.

Paul van Ostaijen, 1896 geboren und zum Zeitpunkt der Niederschrift von "Besetzte Stadt" gerade einmal 24 Jahre alt, war aus seiner Heimatstadt Antwerpen wie so viele andere Exilanten seiner Zeit in die deutsche Hauptstadt geflohen. Den deutschen Einfluss spürt man in seinen Gedichten deutlich: "Preußisch Preußisch/ Marsch und Mörser", heißt es da, oder "Es waren Bayern / Es lebe Wittelsbach / Eisner!". Berlin als eine der Hauptstädte des 20. Jahrhunderts ist in den Versen dennoch nicht präsenter als Paris, New York oder die "!WELTAUSSTELLUNG! in MILwaukeE (il faut exclure les boches)".

Auch ästhetisch ist der Einfluss gleichermaßen französisch und deutsch, wie überhaupt die Avantgarden der Zeit europäische und nicht nationale Projekte waren. Der DADAismus, von dem van Ostaijen vor allem die Montagetechniken entlehnte, entstand an der Schnittstelle deutscher und französischer Kunst, in der Schweiz also: Hugo Ball, Hans Arp, Tristan Tzara, Raoul Hausmann sind ebenso Einflüsse van Ostaijens wie Stephan Mallarmé mit seinem "Coup de dés" oder der Expressionismus eines Jakob van Hoddis oder August Stramm.

"Wir sind am Ende aller Ismen", heißt es gleich auf der zweiten Seite von "Besetzte Stadt". Van Ostaijen will keinem Programm folgen, er will, so scheint es, die ganze Welt ins Buch packen. Nicht indem er sie auserzählt, sondern indem er ein Kaleidoskop erschafft, das diese Welt im Kopf des Lesers sich in rasendem Tempo entfalten lässt, die Colonels und Bordelle, die Harlekine und den halleyschen Kometen, Guano und Patagonien, die Ölnüsse als "nationales koloniales Produkt" aus "Kapstadt Kongo Kairo" oder die Schauspielerin Asta Nielsen, die sich als "Astra" dem Kometen zugesellt. Ein Star eben.

Sinn und Struktur gewinnt "Besetzte Stadt" durch den musikalischen Tanz der Wörter auf den Seiten, durch die auch in der tadellosen Übersetzung von Anna Eble gewahrte typographische Struktur des Erstdrucks. Bei "KNALL!/ LIEBKNECHT" werden die Wörter, versteht sich, komplett großgeschrieben, in "Fantomas" schwellen die Buchstaben zum staunenden "O" hin an, um dann wieder schmaler zu werden, Fantomas' Stummfilmkollege Zigomar ist dagegen mit solch einem langen und spitzen "Z" versehen, dass der Meisterdieb es auch als Dietrich verwenden könnte.

"Kanonenkoitus" und "Schrapnellmenuett" hallen in diesen Versen nach, und wo die Verse nicht Musik sind, sind sie Kunst: Die Bilder, die van Ostaijen entwirft, schräg angeschnitten, verkantet, schief übereinandergeschoben, erinnern an Kubismus, Futurismus, weisen auf den Surrealismus voraus und den Autor als einen Freund der Maler seiner Zeit. Namentlich wird in "Besetzte Stadt" Paul Joostens erwähnt; während seines Aufenthalts in Berlin aber wird Paul van Ostaijen noch mit vielen weiteren Malern Umgang pflegen, darunter Lyonel Feininger und Heinrich Campendonk (Matthijs de Ridder hat dem auch als Kunstkritiker und -händler tätigen Autor eine Monographie gewidmet, die im April in deutscher Übersetzung erscheinen wird).

Zur Kunst, die sich spätestens während des Ersten Weltkriegs vom Schönen und Erhabenen verabschiedete, gehört auch die Fotografie. "Kodak" schreibt van Ostaijen, ein Name, aber zugleich auch eine Schnappschusstechnik, die dem Wortkünstler nur allzu vertraut war.

Gestorben ist der an Tuberkulose erkrankte Autor bereits 1928. Dass sein Hauptwerk, ein Hauptwerk der Avantgarden des 20. Jahrhunderts, nun in gebührender Form auf Deutsch vorliegt (nach einer seit langer Zeit vergriffenen Erstübersetzung durch Hansjürgen Bulkowski), ist der vorbildlichen Übersetzerin und nicht zuletzt dem wagemutigen Wunderhorn Verlag zu danken, der zudem unter dem Titel "Befallene Stadt" einen Sammelband herausbringt, der sechzig von Paul van Ostaijens Werk inspirierte Texte flämischer und deutscher Autoren versammelt, Texte, die sich den Krisen der Gegenwart widmen und sich vor van Ostaijens Wahrnehmungs- und Sprachkunst tief verbeugen.

Paul van Ostaijen: "Besetzte Stadt".

Deutsch von Anna Eble. Original-Holzschnitte und Zeichnungen von Oscar Jespers.

Wunderhorn Verlag, Heidelberg 2024.

160 S., geb., 28,- Euro.

Anne Eble, Matthijs de Ridder (Hg.): "Befallene Stadt". 60 aktuelle Perspektiven auf Paul van Ostaijens "Besetzte Stadt".

Wunderhorn Verlag, Heidelberg 2024. 252 S., geb., 28,- Euro.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Die ganze Welt versuchte der flämische Dichter Paul van Ostaijen in dieses 1920 erschienene Buch zu packen, erläutert Rezensent Tobias Lehmkuhl, in ein Buch, das als Gedichtband nur unzureichend beschrieben ist. Denn hier ist alles wild und vielförmig, erfahren wir, die Gedichte sind typographisch explosiv in Szene gesetzt, mal quer, mal gefettet, dann wieder schauen sie aus wie Werbenanzeigen, mitunter tanzen die Buchstaben übers Papier. Auch inhaltlich geht's wild zu, denn der von Antwerpen nach Berlin geflohene Autor ist ein typischer Vertreter der Avantgarde jener Zeit, die sich europäisch und nicht national verstand. In den Texten trifft amerikanischer Jazz auf Tango-Melodien, die Kolonialkriege der Zeit spielen eine Rolle, außerdem Bordelle und Ölnüsse, Worte wie "Kanonenkoitus" und "Schrapnellmenuett" fallen und manchmal geht es gar in Richtung Weltall. Anna Eble hat das alles wunderbar übersetzt, lobt Lehmkuhl, der sich tief beeindruckt zeigt von diesem Zeugnis einer vergangenen, aber doch sehr modernen Avantgarde.

© Perlentaucher Medien GmbH