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Museen, Kunst, Luxusgüter, Immobilien, Tourismus - für die Soziologen Luc Boltanski und Arnaud Esquerre sind dies zentrale Felder einer neuen Ökonomie der Anreicherung, die zunehmend unsere Gesellschaften prägt und vor allem der Bereicherung der Reichen dient. In ihrem brillanten Buch, das seit seinem Erscheinen Furore macht, analysieren sie diesen neuen Kapitalismus.
Sein Ziel ist nicht mehr die industrielle Warenproduktion, die in die Entwicklungs- und Schwellenländer ausgelagert wurde, sondern die Anreicherung von Dingen, die bereits da sind. Der Wert von Waren sinkt normalerweise mit
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Produktbeschreibung
Museen, Kunst, Luxusgüter, Immobilien, Tourismus - für die Soziologen Luc Boltanski und Arnaud Esquerre sind dies zentrale Felder einer neuen Ökonomie der Anreicherung, die zunehmend unsere Gesellschaften prägt und vor allem der Bereicherung der Reichen dient. In ihrem brillanten Buch, das seit seinem Erscheinen Furore macht, analysieren sie diesen neuen Kapitalismus.

Sein Ziel ist nicht mehr die industrielle Warenproduktion, die in die Entwicklungs- und Schwellenländer ausgelagert wurde, sondern die Anreicherung von Dingen, die bereits da sind. Der Wert von Waren sinkt normalerweise mit der Zeit, in der Anreicherungsökonomie ist das jedoch umgekehrt: Er steigt. Die Ware - das Kunstwerk, die Uhr, der Urlaubsort oder die Immobilie - wird dabei mit einer bestimmten Geschichte oder Tradition versehen, die sie anreichert. Boltanski und Esquerre verfolgen den Aufstieg dieser neuen Ökonomie, die auf den Industriekapitalismus seit den 1970er Jahren folgt, und zeigen, wie sie von den Medien, den Hochglanzbeilagen und Kunstmagazinen, aber auch von der Politik befördert wird und neue soziale Rollen schafft: Rentiers und Bedienstete, Kreative und Zukurzgekommene.
Autorenporträt
Boltanski, Luc
Luc Boltanski, geboren 1940, Schüler von Pierre Bourdieu, ist einer der gegenwärtig prominentesten französischen Soziologen und Forschungsdirektor an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris. International bekannt wurde er sowohl durch seine maßgeblichen Beiträge zur Theorie einer pragmatischen Soziologie der Kritik als auch durch seine Analysen des neuen Geists des Kapitalismus.

Esquerre, Arnaud
Arnaud Esquerre ist Soziologe und Forscher am Centre national de la recherche scientifique (CNRS) in Paris.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.07.2018

Die Verkunstung der Welt
Ist Kultur der Rohstoff einer völlig neuen Ökonomie?

Von Kolja Reichert

Sollte sich die zentrale These dieses Buches belegen lassen, dann wäre das sensationell. Dann erlebte der globale Kapitalismus gerade eine Verwandlung von einer Tragweite, die der Ablösung von Ackerland und Vieh durch Kohle und Erdöl als zentrale Wertschöpfungsquellen im 19. Jahrhundert vergleichbar wäre. Dann würde sich Reichtum heute immer weniger aus fossilen Rohstoffen speisen und immer mehr aus den immateriellen Rohstoffen des Geistes - aus den Erzählungen, die Dingen, Orten und Personen Wert verleihen. Dann wären alle, deren Werke hier verhandelt werden, alle, die darüber schreiben, und alle, die darüber lesen, an der Zunahme der globalen Vermögen beteiligt - allerdings nur jener derer, die bereits vermögend sind.

Denn herrschte bislang weitgehend Konsens darüber, dass die Segnungen der Kultur das Wohlergehen der ganzen Gesellschaft befördern, setzt dieses Buch zum Beweis an, dass sie zumindest in monetärer Hinsicht nur einer wachsenden Klasse von Rentiers zugutekommen - Menschen, die über bedeutende Kunstwerke verfügen, denkmalgeschützte Schlösser, historisch rekonstruierte Innenstadtviertel oder besonders renommierte Weingüter. Anderen ist es überlassen, entweder als Bedienstete deren Besitz intakt zu halten und die Kultur- und Ökotouristen zu empfangen, die allseits in geschichtsträchtig aufbereitete Immobilien strömen und diese profitabel halten; ebendiese Touristen zu sein; oder als unterbezahltes Fachpersonal den Wert der Kulturgüter zu steigern durch das Verfassen von kunst- und architekturhistorischen Studien, Reisereportagen, Denkmalschutzanträgen oder Marketingkampagnen - oder eben durch die Ausstattung der Immobilien als Künstler, Architekten und Designer.

Hätte dieses Buch recht, dann wäre neben der Deregulierung der Finanzmärkte seit den siebziger Jahren eine neue Erklärung gefunden für die beständige Zunahme der Einkünfte durch Vermögen gegenüber den Einkünften aus Arbeit. Dann schöpften die Reichen ihren Reichtum nicht mehr bloß aus der Ausbeutung der Armen; sondern entscheidend aus der Ausbeutung der Reichen: jener, die sich einzigartige Reisen, Kunstwerke und Luxusgegenstände leisten können. Und würden damit alle immer reicher. Und das mittels des Rohstoffs, den wir alle pflegen, wenn wir schöne, gute, wahre Dinge herstellen, von ihnen sprechen und sie genießen: Kultur.

Diese wurde von den Sozialwissenschaften immer im Konflikt mit der Ökonomie gesehen, so wie auch Walter Benjamin im Luxuskonsum ein Bollwerk gegen die Gleichmacherei des Kapitalismus sah. Dieses Buch dagegen tut, wovon es behauptet, dass es zumindest die französische Kulturpolitik seit dem Kultusminister und Deleuze-Verzwecker Jack Lang in den achtziger Jahren tue: Es führt Kultur und Ökonomie als untrennbare Teile desselben Systems ineinander.

Einer seiner Autoren, Luc Boltanski - Bruder des bekannteren Künstlers Christian Boltanski -, zählt zu den bedeutendsten Soziologen Frankreichs. Sein 1999 gemeinsam mit Ève Chiapello veröffentlichtes Buch "Der neue Geist des Kapitalismus" wird regelmäßig zitiert, wenn es um den "immateriellen" oder "mentalen" Kapitalismus geht, der seine Gegner immunisiert, indem er sich deren Ideale - Kreativität, Selbstbestimmung, Selbstverwirklichung - als Managementtugenden zu eigen macht und so ihre Ziele untrennbar mit seinen vermischt.

Noch immer arbeite sich die Kapitalismuskritik an der Industriegesellschaft ab, kritisieren Boltanski und Arnaud Esquerre in ihrer 679 Seiten starken "Kritik der Ware", obwohl die lange in sogenannte Schwellenländer ausgelagert sei. Statt einer Konsumgesellschaft bilde der Westen heute eine kommerzialisierte Gesellschaft (die schon Ulrich Bröckling im "Unternehmerischen Selbst" beschrieb), in der jeder nicht nur Konsument, sondern auch Händler ist, und in der noch das lästigste Familiengut, das überholteste Auto und die entvölkertste Region mit neuem Wert versehen werden können - durch die Inszenierung der Geschichte der Familie, der Region oder des Unternehmens zur Umschmeichelung des differenzierenden Kennerblicks, den der Qualitätstourist mit dem Kunstsammler teilt und der zunehmend auch dem Discounter-Kunden nahegelegt wird.

Das Buch ist voller neuartig klingender Wörter wie "Gastronationalismus", "Kunstwerdung", "Seltenheitseffekt", "Kulturerbeeffekt" oder "Mode-, Kultur- und Geschmacksdarsteller". Es zitiert aus dem blühenden Zweig der Reichenforschung, aus kulturpolitischen Konzepten und aus Leitfäden des Tourismusmarketings. Und führt so drei Felder zusammen, die bislang nur getrennt voneinander untersucht wurden, obwohl sie sich ihre Zielgruppe und deren Wachstum teilen: die Künste (deren Institutionen, Zuarbeiter, Studiengänge und Preise zunehmen), die Luxusindustrie (deren weltweite Exporte sich während der nuller Jahre fast verdoppelten) und den Tourismus (der sich seit 1950 weltweit vervierzigfacht hat und mit 7,4 Prozent Anteil am Bruttoinlandsprodukt für Frankreichs Wirtschaft so wichtig ist wie die Automobil- und die Flugzeugindustrie). Gemeinsam bildeten sie eine "Bereicherungsökonomie", eine "Ökonomie der Vergangenheit", in der der größte Profit nicht mehr in der Herstellung von möglich viel des Gleichen liege, sondern in sammlungswürdigen Einzelstücken und Erfahrungen.

Dafür entwerfen die Autoren eine neue Werttheorie, die zwischen vier "Wertermittlungsformen" unterscheidet: der Standardform (das Auto, dessen Gebrauchswert mit dem Alter sinkt), der Trendform (neue Mode mit schnellem Wertverfall), der Anlageform (Oldtimer oder Kunstobjekte, die sich in eine Geschichte einschreiben und Wertsteigerung versprechen) und der Sammlerform (Dinge, die man haben muss, weil sie mit einer bestimmten Geschichte verknüpft sind). Die letzteren beiden bestimmten zunehmend die Art, wie Waren lanciert und konsumiert würden: Die Kunst wird zur paradigmatischen Wertschöpfungsform.

Auch Nationalparks, Weltkulturerbestätten und eine Denkmalschutzpolitik, die die Aufwertung erinnerungswürdiger Immobilien mit Steuervergünstigungen fördert, verstehen die Autoren als Teil dieser Ökonomie, in der "Narrativität das bevorzugte Wertschöpfungsverfahren" ist. Entsprechend taucht Arbeit in dieser Ökonomie als erzählte Arbeit auf, als Fiktion des handgemachten, ursprünglichen, unkopierbaren Einzelstücks. So wie die Arbeit des preisgekrönten Messerschmiedes im Städtchen Laguiole im Aubrac, der vor den Augen der durch die Messerschmiede strömenden Touristen messerschmiedend für die lokale Tradition der Messerschmiedekunst einsteht - bei der es sich um eine Erfindung von Gemeinderäten handelt, die in den achtziger Jahren nach Wegen suchten, Arbeit in ihre deindustrialisierte Kleinstadt zu bringen.

Das ist eine der Pointen der postindustriellen Gesellschaft, die dieses Buch herausarbeitet: Die Industrialisierung hatte die Manufakturen abgelöst. In der Bereicherungsökonomie, die auf das Sammeln unkopierbarer Objekte und Erfahrungen baut, lösen die Manufakturen wieder die Fabriken ab. Und Landwirte werden per Subventionen zu Landschaftsgestaltern.

So wurden auch in Laguiole Bauernhöfe in Gasthäuser und Gourmetrestaurants verwandelt, "traditionelle Feste" eingeführt und im Ergebnis die Besucherzahlen während der nuller Jahre verdoppelt und die Arbeitslosigkeit besiegt. Zwanzig Verkaufsstände bieten Klappmesser feil, die von Exemplaren für wenige Euro über ein von Philippe Starck interpretiertes Designmesser bis zum angeblich über Monate gefertigten, 13 000 Euro teuren Einzelstück mit Griff aus Elfenbein reichen, wobei Massenware und Sammlerstück wechselseitig die Marke "Laguiole" aufwerten, die sich als Typbezeichnung durchgesetzt hat. Das Horn für die Griffe kommt aus Afrika, der Stahl für die Klingen aus Schweden, aber das Markenzeichen der Biene bürgt für die lokale Tradition, sie steht je nach Informant mal für die angeblich von Napoleon im Dank für Kriegsdienste verliehene Lizenz zum Messerschmieden, mal für "die Pflanzenwelt des Aubrac". Laguiole-Messer kommen inzwischen auch aus China und aus Pakistan, denn niemand hat in Laguiole rechtzeitig daran gedacht, den Ort als Markenzeichen einzutragen.

Am Beispiel Laguiole führen die Soziologen vor, wie "Patrimonialisierung" funktioniert, die Verwurzelung von Dingen in einer Region, die letztlich zum branding der Nation beiträgt. Frankreich wäre dann die Summe der Erzählungen, welche bestimmte Dinge mit der Marke Frankreich verknüpfen. Laguiole beschreiben die Autoren als "quasi musealen Raum", als "lebendiges Museum", und wenn jetzt jemand an Michel Houellebecqs in einen Frankreich-Erlebnispark umgewertetes Frankreich in "Karte und Gebiet" denkt: Das tun die Autoren auch. Und weisen darauf hin, dass sich in London eine ganze Szene von Agenturen gebildet hat, die darauf spezialisiert sind, Regionen zu vermarkten. Wie von einem

Fortsetzung auf der folgenden Seite

Industriegebiet könne man von einem "Bereicherungsgebiet" sprechen. Und diese Gebiete wüchsen vor allem an den Küsten Frankreichs, wo die Zahlen von Zweitwohnungen, Pensionisten und Hausangestellten zunehmen, aber auch auf dem Land, wie im Aubrac. Während industriell geprägte Regionen wenig von der Bereicherungsökonomie profitierten, was sich in wachsenden Stimmanteilen für den Front National niederschlage.

Dass die Reichen den lukrativeren und schneller wachsenden Markt bilden als die breite Masse, hat man schon früh in den Konzernen LVMH (Moët Hennessy - Louis Vuitton) und Kering (früher Pinault) verstanden, in denen man sich seit der Jahrtausendwende von allen Beteiligungen an Herstellern von Massenprodukten getrennt und auf Weingüter, Schmuck und Modeunternehmen wie Gucci und Balenciaga konzentriert hat, mit denen Gewinnspannen von bis zu dreißig Prozent zu erzielen sind. Kering-Eigner François Pinault besitzt nicht nur das mächtigste Kunstauktionshaus Christie's, sondern ist, wie LVMH-Chef Bernard Arnault, einer der größten Sammler zeitgenössischer Kunst, unterhält zwei Ausstellungshäuser in Venedig und eins in Paris - und kann damit so ziemlich jedes exquisite Bedürfnis befriedigen, vom Reiseziel über das Reiseoutfit und den Wein bis zum wertstabilen Kunstobjekt für zu Hause.

Wenn Luxuskonzerne die Massenmärkte zur Finanzierung nicht mehr brauchen, heißt das aber nicht, dass sie an Marktdurchdringung verlören, im Gegenteil: Menschen unter 24 Jahren leisten sich weit bedenkenloser Luxusartikel als ihre Eltern, was die Autoren auch mit dem erklären, was sie als Kaperung der Zeitungen und Magazine durch die Luxusindustrie beschreiben, deren Produkte sich mit redaktionellen Inhalten vermischten und so Allgemeininteresse behaupteten.

Die Ausweitung des Luxussegments bildet freilich allein noch keinen neuen Wirtschaftstypus. Was die "Bereicherungsökonomie" auszeichnet, ist ein Aufwertungszirkel, in dem Güter, die bewegt werden können (wie Handtaschen oder Kunstwerke), und Güter, zu denen man sich hinbewegen muss (wie Gegenden oder Museen), einander wechselseitig mit Differenzen aufladen: Weine werben mit berühmten Dichtern, die in der Gegend lebten, Gegenden mit diesen Weinen, Modefirmen mit ihren Kunstmuseen, und Kunstmuseen dienen, um ein aktuelles Beispiel anzufügen, als Kulisse für Popstars wie Beyoncé und Jay-Z, die das Video zu ihrer neuesten Single "Apeshit" im Louvre drehten, was der Louvre umgehend historisierte, indem er eine Online-Tour auf den Spuren des Videodrehs anbot. Durch dieses zirkelhafte enrichissement (was sowohl Be- wie Anreicherung bedeutet) gewinnen alle: die Winzer, ihre Dörfer, die Sammler, die Stars, die Museen, die im Erfolgsfall expandieren nach Bilbao oder Abu Dhabi, die Viertel, in denen die Museen, Galerien, Boutiquen und Boutiquehotels stehen - vor allem aber die Eigner der Immobilien. Verlierer sind die, die keine Geschichte zu verkaufen haben. Und die der Wertsteigerung im Weg stehen, weil sie das Bild stören, weil sie als Sicherheitsrisiko gelten oder weil sie arm sind - es sei denn, ihre Armut füge sich als "typisch" in die Verwertungsmasse ein.

Dass sie sich auf Beispiele aus Frankreich beschränken, rechtfertigen die Autoren damit, dass der von ihnen beschriebene Wirtschaftstypus dort am weitesten entwickelt sei (130 der 270 "Prestigemarken" auf der Welt stammen aus Frankreich). Das könnte man ihrerseits als erzählerische Anreicherung mittels Zirkelschluss auslegen. Wie sie überhaupt viel Stoff ansammeln, der recht lose nebeneinandersteht: die übersichtliche Zahl an Fallstudien, Szenen aus Balzacs "Vetter Pons" als paradigmatischer (aber nicht sehr zeitgemäßer) Sammlertypus und eben die Theorie, die ihre Schlüssigkeit in sich durch eine mathematische Formalisierung am Ende des Buches belegt.

Treffen die Thesen also zu, und wenn ja, wie neu wäre das? Die Organisation der Welt als Ausstellung voll begehrenswerter Souvenirs und Reiseziele, auch über die Inszenierung der Vergangenheit, steht im 19. Jahrhundert am Ursprung von Tourismus und Massenmarkt. Ihren Vulgärformen begegnet man aber tatsächlich zunehmend in den meisten Metropolen und in jedem zum Luxushotel umfunktionierten Bauernhof. Auch der Industriekapitalismus, erinnern die Autoren, habe in wenigen englischen Landkreisen begonnen.

Neu ist die Frenetisierung der Öffentlichkeit durch die Digitalisierung, in der Markenwert und -reichweite zum zentralen Kapital geworden sind. Diese zwingt tatsächlich jene, die Dinge bestaunen, in eine engere Komplizenschaft mit jenen, die sie sich leisten können. Blickkontakte rechtfertigen Preise - das legte Christie's-Chef Brett Gorvy vor vier Jahren offen, als er einen neuen Preisrekord für einen Francis Bacon mit dem weltweit wachsenden Interesse an Kunst rechtfertigte.

Wer dieses Buch liest, meint die Logik hinter der wundersamen Rede vom "globalen Wettbewerb der Narrative" im Koalitionsvertrag zu verstehen. Es beschreibt eine Ökonomie, die ihre Teilnehmer in einen Wettkampf um Durchsetzung zwingt, in das Ringen um den Alleinverfügungsanspruch über ihre Erzählungen. Es steht vor dem zentralen Begriff der Erzählung ein Elefant im Raum: die Identität. Sie ließe sich rückstandsfrei einsetzen. Der Einsatz im Messerkampf von Laguiole, in dem sich die um ihre Geschäftsgrundlage bangenden Unternehmer gegen die Kaperung ihrer Standortmarke wehren, ist das terroir: Unsere Messer sind die echten, denn sie sind aus unserem terroir. Wenn nicht nur Unternehmen, sondern auch Regionen und Personen in Pflege und Ausbau ihres eigenen Markenwertes eingespannt sind, dann kämpfen alle gegen alle. Und es bleiben wenige Kapazitäten, um in Formen zu denken und zu träumen, die frei sind von den Zwängen der eigenen Existenzerhaltung.

Luc Boltanski und Arnaud Esquerre: "Bereicherung. Eine Kritik der Ware". Suhrkamp, 730 Seiten, 48 Euro

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.07.2018

Das französische Modell
Richtig vermarktet, wird die Geschichte einer Nation zum Luxusprodukt: In ihrem Buch „Bereicherung“ analysieren
Luc Boltanski und Arnaud Esquerre die aktuelle Neuausrichtung des Kapitalismus
VON CARLOS SPOERHASE
Ein Sommerurlaub in Burgund: Jedes Wochenende werden an zahlreichen Orten der Region große Flohmärkte veranstaltet. Ein buntes Treiben von Einheimischen, Händlern und Touristen. Ich stehe mittendrin. Meine Hand greift nach einem alten Teller, hebt ihn vorsichtig hoch, prüft ihn kritisch von allen Seiten. Geklärt wird im Gespräch mit dem Verkäufer nun die Frage, was dieses Objekt wert sein könnte.
Der Wert hängt von den Perspektiven und Interessen ab, die die beteiligten Personen haben. Vielleicht sucht hier ein Einheimischer nur einige preiswerte Teller für den Alltagsgebrauch? Oder ein Tourist stöbert nach Tellern einer ganz bestimmten Serie von Limoges-Porzellan? Möglicherweise ist es ein anderer Händler, der alle Serien von Limoges-Porzellan erwerben und dann umgehend an Sammler weiterverkaufen möchte. Für den alten Teller werden der Einheimische, der Tourist und der Händler ganz unterschiedliche Beträge bezahlen.
In ihrer sehr lesenswerten, begrifflich präzise und flüssig ins Deutsche übertragenen Studie über die aktuelle „Neuorientierung des Kapitalismus“ entwerfen Luc Boltanski und Arnaud Esquerre soziologische Kategorien, mit denen sich diese sommerliche Flohmarktszene besser verstehen lässt. Die beiden französischen Soziologen unterscheiden verschiedene „Wertermittlungsformen“, die unseren Umgang mit Waren strukturieren. Die gebrauchten Güter werden nach Boltanski und Esquerre aufgrund ihres Alters vermutlich nicht im Sinne der „Trendform“ als brandneue Modeartikel wahrgenommen, wohl aber können sie als industrielle „Standardform“ (der Teller taugt für das Abendbrot), als kulturelle „Sammlerform“ (der Teller komplettiert die Sammlung) oder als finanzielle „Anlageform“ (der Teller dient als Spekulationsobjekt) verstanden werden.
Die gegenwärtige Neuorientierung des Kapitalismus besteht für Boltanski und Esquerre darin, dass sich die kulturelle „Sammlerform“ als wichtige neue Form des alltäglichen Umgangs mit Waren durchsetzt. Wie kann man aber aus einem gebrauchten Teller, der für viele nicht mehr als lästiger alter Trödel ist, einen begehrten Sammlergegenstand machen? Die Seltenheit des Objekts alleine kann es nicht sein: Selbst der seltenste Plunder findet keinen Interessenten, wenn er nur aus der Perspektive des abgenutzten industriellen Gebrauchsgegenstandes betrachtet wird. Wertvoll werden gebrauchte Dinge für die beiden Autoren erst, wenn sie kulturell angereichert werden. Die kulturelle Anreicherungsarbeit ist ein tief greifender Umwertungsakt, der wertlosen Abfall zu wertvollen Objekten werden lässt.
Einerseits lässt sich diese Anreicherung erzielen, indem man die gebrauchten Objekte mit einer historischen Erzählung versieht: So könnte der Verkäufer erzählen, dass der Limoges-Teller aus dem Haushalt einer berühmten burgundischen Schriftstellerin stammt. Der gebrauchte Teller würde mit historischer Bedeutung aufgeladen. Diese Form der Anreicherung lässt sich in unserer Gegenwart allenthalben beobachten: Marketingabteilungen befassen sich mit der erzählerischen Anreicherung von Produkten durch „Narrativierung“ und „Storytelling“. Die Geschichte von Limoges-Porzellan erlaubt heute, einen alten Teller als große französische Kulturtradition und Teil des französischen Kulturerbes zu präsentieren.
Andererseits lässt sich eine Umwertung bewirken, indem man gebrauchte Objekte als Elemente einer systematischen Sammlung ins Spiel bringt. Nicht der einzelne alte Teller verdient dann Interesse, sondern das vielteilige Tafelservice von Royale Limoges. Die Bedeutsamkeit des einzelnen Produkts speist sich hier aus seiner Position in einer umfassenderen Serie, die der Sammler endlich vollständig besitzen möchte.
Ob man nun Porzellan aus Limoges oder Rotweine aus Burgund sammelt: Meist unterbreiten uns die Hersteller heute Geschichten über weit zurückreichende Unternehmensgründungen und Ursprünge von Herstellungsverfahren und Originalrezepturen. Markengeschichten, die meist eher legendarischen Charakter haben und gerade deshalb viel zu schön sind, um kritisch hinterfragt zu werden. Und meist gibt es auch Kataloge, die die einzelnen Produkte in übergreifenden Serien situieren – und so zum Sammeln anhalten.
Für Boltanski und Esquerre ist der Kapitalismus nun in eine Phase eingetreten, in der durch „Storytelling“ und „Sammlung“ eine breite Ausbeutung von kultureller Vergangenheit in Angriff genommen wird. Die Verwertung der eigenen Vergangenheit als ökonomische Ressource findet aber nicht nur dort statt, wo der Verkäufer auf dem Flohmarkt von der großen Geschichte der französischen Porzellanmanufakturen schwärmt, um einen alten Teller loszuschlagen. Bei Weitem nicht.
Verlässt der Tourist den burgundischen Flohmarkt nach einiger Zeit glücklich mit dem Teller in der Tasche, so lässt er die Verwertung der Vergangenheit nicht hinter sich. Vielleicht besucht er das örtliche Restaurant, in dem Spezialitäten aus Burgund angepriesen werden: Wie wäre es mit einem Filet vom Charolais-Rind? Dazu noch ein Glas Nuits-Saint-Georges? Vielleicht geht er in eines der vielen regionalen Museen, um anschließend in der gerade wiederhergestellten „Altstadt“ dabei zuzusehen, wie eines der „traditionellen“ Feste gefeiert wird. Regionen wie Burgund sind zu attraktiven Touristenzielen geworden, die mit globalen Kampagnen ihre kulturellen Traditionen und „Landschaften“ vermarkten. Verkauft werden vor Ort dann Produkte, die fest in der Region verwurzelt sind.
Von der verallgemeinerten Anreicherungsökonomie, die laut Boltanski und Esquerre in den Gesellschaften der Gegenwart den Ton angibt, profitieren bestimmte Wirtschaftssektoren in besonders hohem Maße. In Frankreich sind das heute vor allem der Tourismus und die Luxusindustrie. In beiden Wirtschaftszweigen findet eine umfassende Kulturalisierung des Konsums statt. Der industrielle Massentourismus wird abgelöst von einem Kulturtourismus, der nationale Denkmäler erkunden und regionale Lebensweisen erfahren möchte. Der Tourist, der beflissen die wichtigsten „Erinnerungsorte“ und „Kulturgüter“ seines Reiseziels besucht, wird so zu einem Sammler regionaler Geschichte und lokaler Anekdoten.
Auch die Luxusindustrie bemüht sich intensiv darum, ihre exklusiven Waren in einen engen Zusammenhang mit nationalen Kulturgütern zu stellen, um sie auf diese Weise kulturell anzureichern. Wenn die Marke Louis Vuitton in einer Werbekampagne ihre Kollektion vor der Mona Lisa ablichten oder eine Handtaschen-Serie entwerfen lässt, die unter anderem das Gesicht der Mona Lisa als Motiv verwendet, dann sind dies kleine Mosaiksteine in einer großen Strategie: Die Marke des globalen Luxusunternehmens LVMH soll mit den Kulturgütern Frankreichs eng verknüpft werden.
Da der Kulturtourismus und die Luxusartikel durch den Bezug auf nationale Ikonen angereichert werden, kommt in diesem ökonomischen Modell den Institutionen, die diese Kulturgüter sammeln und pflegen, eine zentrale Funktion zu. In der Anreicherungsökonomie sind es in erster Linie die Museen und Universitäten, die das nationale Patrimonium pflegen. Die an staatlich geförderten Institutionen betriebene kulturelle Selbstnobilitierung wird zum Baustein des Standortmarketings.
Die Tatsache, dass viele europäische Staaten die Instandhaltung von Kulturdenkmälern fördern, eine aufwendige Kulturpolitik betreiben und sich um attraktive Selbsterzählungen bemühen, hat auch einen eminent ökonomischen Sinn. Die Attraktivität der eigenen Nationalkultur wird zum Verkaufsargument für exklusive Waren und Dienstleistungen. Nationale Traditionen werden nicht mehr nur erfunden, um Staaten zu bilden und zu stabilisieren, sondern auch, um bestimmte Produktklassen zu positionieren. Die politische Ideologie der nationalen Autochthonie und die Erzählungen von einer großen nationalen Vergangenheit werden heute auch für ökonomische Zwecke gefördert.
Luc Boltanski hat gemeinsam mit Ève Chiapello vor fast 20 Jahren in der Studie „Der neue Geist des Kapitalismus“ die Veränderungen der Arbeitswelt in der Epoche des Neoliberalismus analysiert. In „Bereicherung“ untersucht er zusammen mit Esquerre nun den gegenwärtigen Wandel der Warenwelt. Diese zeichnet sich auch dadurch aus, dass sich in ihr Konsumkritik und Konsumsteigerung die Hand reichen.
Gerade die kosmopolitisch ausgerichtete globale Konsumelite hat einen hohen Bedarf an individuellen und authentischen Waren und verachtet gesichtslose Wegwerfgüter. Wem der Anzug in Paris in handwerklicher Detailarbeit auf den Leib geschneiderte wurde, kann sich dann nicht nur über den austauschbaren Anzug von der Stange mokieren, sondern sich noch dazu als Kritiker des kapitalistischen Massenkonsums aufspielen. Das ist kein Zufall. Es zeichnet den Anreicherungskapitalismus aus, dass er seinen wohlhabenden Konsumenten eine eigene Klasse von Waren anbietet, die als nicht-warenförmig angepriesen wird. Es handelt sich hier um eine aus dem Kunstbetrieb geläufige paradoxale Ökonomie: Objekte werden vermarktet, deren hoher Wert sich gerade daraus speist, dass sie sich angeblich jeder Vermarktung entziehen.
Es stimmt, dass die Kulturkritik der Massenware und die Wertschätzung individualisierter Waren heute häufig als ein Statussignal gesellschaftlicher Oberschichten fungiert. Aber wird – wie Luc Boltanski und Arnaud Esquerre meinen – die industriekapitalistische Ökonomie der austauschbaren Massenprodukte tatsächlich von einer neuen kulturkapitalistischen Ökonomie singulärer Produkte außer Kraft gesetzt? Oder wird hier eine Situation, die für das französische Wirtschaftsleben der Gegenwart charakteristisch sein mag, auf den globalen Kapitalismus insgesamt hochgerechnet? In vielen wirtschaftsstarken Regionen der Welt ist die Industriefertigung und das Finanzwesen weiterhin so bestimmend, dass eine Ablösung durch den Kulturkapitalismus nicht in Aussicht steht.
Boltanski und Esquerre behaupten allerdings nicht, dass heute industriell gefertigte Massenprodukte von individuell hergestellten singuläre Waren vollständig abgelöst würden. Ob ein Produkt als eine unverwechselbare und einzigartige Ware zirkuliert, hänge nicht von seiner Produktion, sondern vielmehr davon ab, ob es mit der kulturellen Wertermittlungsform „Sammlung“ beurteilt wird. Das von Marketingabteilungen betriebene „Storytelling“ erzielt seine wertanreichernde Wirkung ja nicht dadurch, dass es den materiellen Gegenstand selbst ummodeln würde, sondern dadurch, dass es ihn mit historischer Bedeutsamkeit versieht. Die beiden Autoren hätten dieser immateriellen Dimension von Waren sogar noch mehr Aufmerksamkeit widmen können. Denn gesammelt werden heute nicht nur handfeste Dinge wie Porzellanteller, sondern auch viel flüchtigere Dinge, subjektive Erfahrungen nämlich. Erfahrungen wie das Besteigen der höchsten Gipfel der Welt sind mittlerweile selbst zu einer äußerst lukrativen Ware geworden.
Das gilt auch für meine weniger risikoreiche Erfahrung, an einem sommerlichen Wochenende einen burgundischen Flohmarkt zu durchstreifen. Für den touristischen Betrachter werden nicht nur die auf den Tischen ausgebreiteten gebrauchten Dinge, sondern auch die anwesenden Personen zur Ressourcen einer Ökonomie der Anreicherung. Der Verkäufer, der einfach nur seine alten Teller verscherbeln möchte, wird für die Touristen zu einem typischen Einheimischen, der als authentisches Element einer Region konsumiert werden kann. Er wird unversehens zum unbezahlten Statisten einer Lebenswelt, die für andere zu einer pittoresken Ferienkulisse geworden ist. Kein Wunder, dass der Verkäufer, vom Touristen nach dem Preis des Porzellantellers gefragt, eine unverschämte, aber umgehend beglichene Summe nennt – und sich dadurch für sein unfreiwilliges Komparsendasein im Kulturkapitalismus schadlos hält.
Wie kann man aus altem
Trödel einen begehrten
Sammlergegenstand machen?
Gerade in Frankreich ist die
Luxusindustrie eng mit
der Nationalkultur verbunden
Der Wertanstieg ergibt sich nicht
durch materielle Innovation,
sondern kulturelles Storytelling
Luc Boltanski/Arnaud Esquerre: Bereicherung. Eine Kritik der Ware. Aus dem Französischen von Christine Pries. Suhrkamp Verlag, Berlin 2018. 730 Seiten, 48 Euro.
Gleichzeitig Kaufhaus und nationales Kulturgut: Die Galeries Lafayette in 40 Boulevard Haussmann, 75009 Paris.
Foto: Mauritius Images
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Carlos Spoerhase begreift mit der neuen großen Studie der Soziologen Luc Boltanski und Arnaud Esquerre, wie Kulturkapitalismus funktioniert: Während bisher vor allem industrielle oder spekulative Kriterien den Wert eines Gegenstands ergeben haben, entscheidet sich dieser heute zunehmend über die kulturelle Anreicherung eines Objekts, erklärt Spoerhase, denn Storytelling oder Narrativierung werden zu entscheidenden Methoden der Aufwertung: Der alte Limoges-Teller ist nicht mehr Gebrauchsgegenstand oder Sammlerobjekt, sondern - als Besitz der berühmten Schriftstellerin aus dem Burgund - Kulturgut. Ähnliches vollzieht sich auch in den Geschichtsbildern der Nationen, lernt der Rezensent aus diesem Buch am Beispiel der französischen Luxus- und der Tourismusindustrie : Nationale Traditionen dienen nicht mehr zur politischen Stabilisierung von Staaten, sondern zur Positionierung von Produktklassen. Gewiss, kommen dem Rezensenten Einwände in den Sinn, etwa die Frage, ob hier vielleicht ein französische Modell auf Weltmaßstab hochgerechnet werde. Aber am Ende kann Spoerhase die Befunde von Boltanski und Esquerre nur bestätigen, wenn er sieht, wie erpicht die globalisierte und zugleich kulturkritische Konsumelite auf individuelle, authentische Waren geworden ist.

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"Eine großartige soziologische Studie."
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