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Schiefer, dem vielgestaltigen, wandlungsfähigen Sedimentgestein, und den Slate Islands, einem kleinen Archipel vor der Westküste Schottlands, ist Esther Kinskys neues Buch gewidmet. Jahrhundertelang wurde auf jenen zu den Inneren Hebriden gehörenden Inseln Schiefer abgebaut, und tief geprägt sind sie von der vor vielen Jahrzehnten schon aufgegebenen Intensivindustrie, die eine bizarre Landschaft der Trümmer und gefluteten Steinbrüche hinterlassen hat. Die Gedichte und kurzen Prosatexte dieses dreiteiligen Bandes erkunden Fragen der geologischen Frühgeschichte und der Definitionen des…mehr

Produktbeschreibung
Schiefer, dem vielgestaltigen, wandlungsfähigen Sedimentgestein, und den Slate Islands, einem kleinen Archipel vor der Westküste Schottlands, ist Esther Kinskys neues Buch gewidmet. Jahrhundertelang wurde auf jenen zu den Inneren Hebriden gehörenden Inseln Schiefer abgebaut, und tief geprägt sind sie von der vor vielen Jahrzehnten schon aufgegebenen Intensivindustrie, die eine bizarre Landschaft der Trümmer und gefluteten Steinbrüche hinterlassen hat.
Die Gedichte und kurzen Prosatexte dieses dreiteiligen Bandes erkunden Fragen der geologischen Frühgeschichte und der Definitionen des metamorphischen Gesteins der Inseln, widmen sich der Flora und den Vögeln in einer Gegend der Unwirtlichkeit und streifen, ausgehend von einem alten Schulfoto, die Geschichte der in die harte Arbeit des Schieferabbaus eingebundenen Menschen. Parallel zu den Natur- und Geschichtserkundungen setzen sich die Texte mit der menschlichen Erinnerung auseinander, die ein ähnlicher »Metamorphit« ist wie der Schiefer, ein Schichtwerk in Bewegung, unvorhersehbaren und schwer nachvollziehbaren Wandlungen unterworfen.
Autorenporträt
Esther Kinsky wurde in Engelskirchen geboren und wuchs im Rheinland auf. Für ihr umfangreiches Werk, das Lyrik, Essays und Erzählprosa ebenso umfasst wie Übersetzungen aus dem Polnischen, Russischen und Englischen, wurde sie mit zahlreichen namhaften Preisen ausgezeichnet.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.04.2020

Furchen tiefer
Zeit
„Schiefern“: Esther Kinsky führt mit ihrer
Geländelyrik in steinige Ödnis
VON WOLFGANG HOTTNER
Esther Kinskys Schreiben hat eine besondere Affinität zum Gelände. Es führt sie nicht in Kulturlandschaften oder Metropolen, sondern ins unwegsame Hinterland. Seit ihrem Lyrikdebüt „die ungerührte schrift des jahrs“ (2010) durchwandert Kinsky Übergangsregionen und liest dabei diejenigen Fragen auf, die Natur dort „gleich abseits des schritts“ stellt, wie es programmatisch in „Naturschutzgebiet“ (2013) heißt. Einem fortwährenden Trend in der deutschsprachigen Literatur folgend, könnte man das Projekt Nature Writing nennen oder wie Kinsky mit ihrem Buch „Hain“, für das sie 2018 den Preis der Leipziger Buchmesse erhielt, gleich selbst eine neue literarische Gattungsbezeichnung einführen: den Geländeroman.
Auch die Gedichte und Prosastücke in „Schiefern“ führen auf abseitige Wege, diesmal in eine postindustrielle Wüste. Schauplatz dieser Geländelyrik sind die Slate Islands, Schieferninseln, eine zu den Inneren Hebriden gehörende Inselgruppe im Westen Schottlands. Bis zum Anfang des zwanzigsten Jahrhundert boomte dort der Abbau von Schiefer zu Herstellung von Dachziegeln. Heute sind die Inseln nur noch dünn besiedelt, die ehemaligen Steinbrüche geflutet und verlassen. Setzte die deutschsprachige Nature-Writing-Szene in den letzten Jahren überwiegend auf Lebendiges, auf Tiere, vor allem aber diverse Pflanzen und Bäume, betritt Kinsky hier thematisches Neuland: die bisher wenig beachtete Sphäre des Anorganischen steht in „Schiefern“ im Zentrum.
Den drei Teilen des Buches ist jeweils eine Schwarzweiß-Fotografie vorangestellt: ein ehemaliges Schieferbergwerk, ein Schieferplattenstillleben sowie ein eher trostloses Seestück. So monoton wie die Fotografien erscheint auch das zerklüftete Gelände der Inseln: der Sommer dort „farblos“, das Meiste „ausgegrünt“.
Inmitten dieser steinigen Ödnis, wo das „grau pulsiert“, scheint jede Form der Lebendigkeit verschwunden, keine Menschen, wenige Tiere, bloß ein paar vereinzelte Pflanzen. Diese Landschaft klingt eigentümlich: „Störstufen in der oberfläche : halden, trümmerfelder, boden bedeckt mit schieferscherben: unter den schritten unablässiges klacken und knirschen, schlag-, schleif-, und reibelaute, metallisch hell die splittersprachige frage nach der größeren versehrung“. Nur manchmal mischen sich weichere Zwischentöne in diese Kargheit und nur gelegentlich koloriert Kinsky das allgegenwärtige Grau: „und dann wolken die gern violett / sein wollen so liegen die steine / lila und blau und der rost leuchtet / schweflig wie aus verheißung“.
In den Gedichten und Prosaminiaturen dominieren entfärbte „fastworte“. Das Wahrgenommene sperrt sich gegen die lyrische Vereinnahmung und der Blick wendet sich nach Innen. Die Erkundung der stillgelegten Bergschächte wird damit auch zur Expedition in die Untiefen der menschlichen Erinnerung, einer unheimlichen Konfrontation mit über Jahrmillionen alter Materie, deren unendliche Dauerhaftigkeit alles Menschliche relativiert. So nah am „rand der furchen tiefer zeit“ tut sich ein Abgrund auf, jene geologische Deep Time wird spürbar, die die Wimpernschläge des menschlichen Erinnerungsvermögens kleinlich erscheinen lässt.
Doch auch die Steine sind nicht ewig, schon gar nicht ein splittriges Sedimentgestein wie der Schiefer. Die Verwitterung, jenes „sanfte Gesez“ (sic!), wie es Adalbert Stifter, einer der Gründerväter des Nature Writing, in seinem Vorwort zu den „Bunten Steinen“ genannt hat, wird auch Kinsky zum Sinnbild für den unaufhaltsamen Lauf der Zeit: wenn alles Lebendige schon längst verschwunden sein wird, läuft die Abtragung, die Zersplitterung unerbittlich weiter. Das Einzige, was bleibt und immer schon da war, ist die „fortschreitende aushöhlung“.
Wie Kinsky diese erosiven Kräfte auch auf ihre Sprache wirken lässt, ist bisweilen grandios. Die brüchigen Kanten des Schiefers gleichen dann den Versen und der Prosa, die „geborsten, gesplittert, geschuppt“ daherkommt. Kinskys ungereimte Fragmente sind spröde, ihre „mundart schiefrig“, der Sound dieser Lyrik sperriger Nachklang dessen, was eben nicht zu uns spricht. Das Grau des Schiefers übertüncht alles Lyrische, nur manchmal, wie das vereinzelt aufblühende Heidekraut, finden sich englische Wörter als florale Tupfer in diesen Versen.
Die Satzbruchteile der Erinnerungsvignetten und Exkurse zur Gesteinsnomenklatur sind durch monolithische Doppelpunkte getrennt, steinharte Fügungen entstehen: „Schiefer der metamorphit : ein unter einwirkung heftiger und plötzlicher veränderungen und veschiebungen tektonischer platten aus der vermischung unterschiedlicher erden entstandenes gestein: bleibendes zeugnis nie abgeschlossener verwandlung, unbesänftigter erschütterung, ungelinderer versehrung, stets zur zersplitterung bereit: zur offenlegung seiner inneren unzugehörigkeiten: der bleibenden versehrtheit verdankt der schiefer seine bezeichnung: ein splittergestein, ein schiefes schichtwerk aus einem alle namen verschlagenden eingriff in den stand der dinge.“
Ganz ohne Menschen sind aber auch die Schieferninseln nicht. Doch sind es Untote, die Kinsky im zweiten Teil des Buchs zu Wort kommen lässt. Eine wahrscheinlich um die Jahrhundertwende entstandene, nicht abgebildete Fotografie einer Schulklasse dient als Vorlage, um die Schüler und Schülerinnen der Region ihr Weh klagen zu lassen. Es ist ein gespenstischer Chor, der in kindlichen Tönen singt, von toten Tieren träumend, vom allgegenwärtigen Schiefer und der Angst, zum „ichkristall“ zu erstarren. Kinsky fügt fiktive Erinnerungen von ausgezehrten Kindern zusammen, Schicksale aus der Hochzeit englischer Industrialisierung.
Spätestens an dieser Stelle wird klar, dass Kinskys Lapidarium nichts mit Bergbauromantik zu tun hat. Der Schiefer, um den es hier geht und der die Inselbewohner bis in ihre Träume hinein verfolgt, ist in erster Linie Material, in rauen Massen zur industriellen Herstellung von Dachschindeln und Schreibtafeln abgebaut, eben kein strahlender Karfunkel aus magischen Arkanwelten. Doch auch die Einbettung in den industriegeschichtlichen Zusammenhang befreit das Gestein nicht von seiner stummen Rätselhaftigkeit.
Vor allem im dritten Teil wird das Buch dieser postindustriellen Natur zwar sehr oft und an diversen Stellen aufgeschlagen, letztlich aber nur schwer lesbar. Immer wird wieder das Scheitern der Entzifferung des „lesegesteins“ in Szene gesetzt, doch weder die blasse Kreideschrift auf den Schiefertafeln der Schreibschüler, noch die versteinerten „Schrifttierchen“, die sich im Kambrium sterbend auf den Schiefer geprägt haben, erschließen sich.
Von Unkenntlichkeit und Unlesbarkeit, von Unwirtlichkeit und „Unbehausbarkeit“ ist die Rede. In den Negationskaskaden wird eine implizite Prämisse dieser Naturbegegnung deutlich. Auch wenn nach den Gräsern und Blumen, Bienen, Aalen und Habichten in „Schiefern“ nun die unbelebte Natur zum Gegenstand des Nature Writing gemacht wird, ist diese Natur, in ihrer urzeitlichen sowie postindustriellen Ausprägung eben vor allem eine negative: an-organisch, stete Verneinung und immerwährende Nachtseite allen Lebens.
Diese unausgesprochene und doch stets präsente Vorannahme führt dazu, dass dem Gestein insgesamt nur wenig abzutrotzen ist. Zwar hütet sich Kinskys Geländelyrik vor romantischem Steingeflüster, und auch von Roger Caillois’ surrealistischer Mythologisierung des Anorganischen und dem damit verbundenen todestriebhaften Wunsch, selbst Stein zu werden, hält sie gehörigen Abstand. Doch während Caillois die Dichotomie zwischen Organischem und Anorganischen immerhin in Frage zu stellen versucht hat, bleibt diese (ontologische) Grenze in „Schiefern“ weitgehend intakt. Zwischen dem Lebendigen und seinem Gegenteil besteht ein wesentlicher Unterschied und eine zumindest durchschimmernde Präferenz für das Lebendige.
Die schiefrig-toten Gestalten wirken bei Kinsky daher allzu oft wie weltlose Gespenster, die in ihrer starren Gewordenheit dem lebendig Werdenden bloß schweigend entgegenstehen. Fast möchte man einem Aphorismus des späten Goethe Glauben schenken, der sich selbst nach Jahren der Geologiebegeisterung irgendwann auch von den Steinen abgewandt hat: „Steine sind stumme Lehrer; sie machen den Beobachter stumm, und das Beste, was man von ihnen lernt, ist nicht mitzuteilen.“
Auch Kinskys Geländelyrik verstummt schließlich. Am Ende wirken die Schieferninseln wie ein öder Landstrich, über den nichts mehr zu sagen ist, vielleicht auch an sich wenig zu sagen war, wie Einheimische versichern: „why come here sagt die frau am steg / sie fasst die scherbentasche fester / das bruchwerk leuchtet die inseln ferngerückt / a broken place man rette seine haut / vor all den narben die hier möglich sind.“ Die letzten drei Gedichte inszenieren konsequenterweise eine „Abkehrung“, die Flucht vor der trostlosen Unwirklichkeit des Anorganischen. Zumindest ein Vogel ruft noch hinterher, aber auch dieser Ruf ist kein Gesang, „mehr ein wimmern / ein schriller klageton“.
Esther Kinsky: Schiefern. Gedichte. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 103 Seiten, 24 Euro.
„und dann wolken die
gern violett / sein wollen
so liegen die steine …“
Die Grenze zwischen
Organischem und Anorganischem
bleibt intakt
Esther Kinsky erhielt 2018 den Preis der Leipziger Buchmesse. Jetzt erschließt sie in Gedichten neue Themen des Nature Writing.
Foto: imago/Gerhard Leber
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.06.2020

Bergung der Trauer

"Schiefern" als Titel deutet bereits an, wie abgründig schön Esther Kinsky dichtet.

Schiefer ist ein leicht spaltbares Gestein. Er kann aus verschiedenen Sedimenten bestehen und durch tektonische Verschiebungen gefaltet oder durch Umgebungsdruck oder -temperatur verwandelt worden sein. Dann gehört er zu den Metamorphiten. Schiefer ist ein Substantiv. "Schiefern" hingegen, so der Titel der neuen Gedichte von Esther Kinsky, könnte ein Verb sein (sich zersplittern, auch etwas mit Splittern überstreuen), ein Adjektiv (schieferfarben, aus Schiefer bestehend) oder ein Dativ Plural. In dieser Spanne von Gesteinsbildung, Brüchen oder Transformationen im Sprachmaterial leisten diese Texte eine Benennungsarbeit am Rand des Verschweigens. Damit steht die Autorin in der Tradition der Naturdichtung (wie der Bergmann Novalis, der Geologe Goethe und der Meister der Steine Adalbert Stifter). Die angloamerikanische Literaturkritik nennt solches Erkunden "Nature Writing".

Das Motto von "Schiefern" zitiert den Vater der geologischen Chronologie, James Hutten, mit seinem berühmten Kreislaufsatz aus "Theory of the Earth", wonach es keine Spur eines Anfangs und keine Sicht auf ein Ende gebe ("no vestige of a beginning - no prospect of an end"). Wurde die Welt von Gott einmal in Gang gesetzt, reguliert sie sich selbst. Hutton und seinem Team soll schwindelig geworden sein, als sie an der Küste vor Edinburgh einen zweifarbigen Felsabbruch sahen und meinten, unmittelbar in den Abgrund der Zeit zu schauen.

"Deep Time" heißt auch die erste der drei Abteilungen von "Schiefern". Eher szenische Texte wechseln hier mit mehr sachkundlichen, auch philosophischen Stücken (im Blocksatz, strukturiert durch einen freigestellten Doppelpunkt). Sie verortet das Gelände der Slate Islands (Schieferinseln), eine Gruppe der Inneren Hebriden nahe dem Festland. Das erste Gedicht, "Memory", zitiert den Zug von "Glasgow to Oban" an den Sund, das vierte, "Überfahrt", die Fähre mit der "ungelenken schifferin" und dem "ankerknecht" am gegenüberliegenden Ufer: "Die wanderer steigen hangauf / quer zu geröllfeldern / beschirmen den blick mit der hand / feien sich gegen den laut des geländes." Einst waren die Slate Islands ein wichtiges Bergbaugebiet. Heute sind sie kaum mehr bewohnt. Die tiefen Schiefersteinbrüche der Inseln wurden geflutet und erscheinen als eckige Teiche. Die Wohnhäuser der Bergleute zerfallen zu Ruinen. Eine karge Natur - "streifige nadelgehölze schattenfreies / obdach dem zwielicht mögliche heimat / für kleines getier kein nistwald kaum vögel" - evoziert Stille und melancholisches Staunen über die besondere Anwesenheit des Abwesenden: "wie leicht sagt sich so war es."

Schiefergestein und Gehirn, "furchen und falten", werden enggeführt, auf die verlassenen Inseln zieht das Erinnern ein, dieses "mangelwesen", und "nimmt seine undeutliche gestalt in schichten an". Gehen über Schieferhalden heißt Abrutschen, unsicheres Vorwärtskommen auf Wegklackendem, Knirschendem: "schleif- und reibelaute, metallisch hell die splittersprachige frage nach der größeren versehrung : die splitter selbst oder der boden, den sie decken". Das durch die Bergwerksindustrie geschundene Terrain ist nicht mehr heil. Und nicht heil ist dieses Ich, das sich suchend auf den Weg macht. Aber das Gelände erneuert sich aus den Verwerfungen heraus. "Was hat wohl geblüht / um die stillen flutschächte / heidekraut etwa / hellviolett und leicht / die steilwand besiedelnd oder / geißblatt mit ringeltrieben?" Und auch das gehende, das sehende Ich scheint Teil dieser Genesung zu sein: "Geländeverstörung augenfällig / kaum verdeckte bedürftigkeit jeden scherbstücks / nach betrachtung".

Betrachten ist auch Achten. Kann in dieser leisen Aufmerksamkeit ein Moment von Heilung für den liegen, der sich die Mühe macht hinzusehen? Immer wieder hat Esther Kinsky sich Gegenden zugewandt, die jenseits der allgemeinen Aufmerksamkeit stehen. Das brachliegende, vergessene Land ist neu lesbar. Das Ich kann Schriftzeichen wahrnehmen. Und sei es nur mit den tastenden Fingerspitzen, die über den Schiefer fahren. Es gibt keine Oberfläche in der tiefen Zeit. Dabei geht es nicht um Antworten, sondern darum, noch nie genau beschriebene Orte und Empfindungen über Wörter unbekannt (aber erkennbar) aufsteigen zu lassen. Der Urtext der Natur bleibt wandelbar. Das alles ist, so sprachkonkret irdisch es daherkommt, letztlich metaphysisches Tun. Aber Esther Kinsky bindet - als scheute sie den Verdacht, trösten zu wollen - ihre Texte immer wieder an konkrete Erscheinungen zurück (Schiefer, Marmor, Sandstein, Narrengold, Distel, Fuchsie, Männerblut, Ginster, Heidekraut, Hänfling, Weihe, Kiebitz), die dann in einer wie erstmals geschauten Frische leuchten und lauten und da sind.

Ein zweiter Teil, "Siebenunddreißig Stimmen", geht aus von einer Schulfotografie der prosperierenden Jahre des Schieferabbaus. Esther Kinsky lässt 36 Kinder über die Zeit hinweg sprechen (jedes erhält vier Zeilen, das Wort "Stein" erscheint in jeder ihrer Strophen), und am Ende, kursiviert auf einer einzelnen Seite, spricht auch der Fotograf. Die Kinderstimmen (je vier auf einer Doppelseite) sind durchnumeriert. Über die Doppelseite hinweg aber, also unter den Stimmen 1 und 3, unter den Stimmen 2 und 4 (und so weiter), läuft jeweils eine Zeile des dichterischen Ichs, so dass sich ein Schriftbild ergibt, das Schichtgestein mit Adern assoziieren lässt. Die obere Ich-Stimme nimmt refrainartig "wir lernen" auf und führt in einem langen Satz am Ende hin zu: "wir lernen schreiben und finden kein wort." Die untere Ich-Zeile macht sich auf die Suche danach, was Erinnerung sei, und endet mit: "nur diese flächen vergangenheit stehn in diesem winkel so und brechen nur einmal so das licht im ichkristall : so geht : erinnerung." Das hat etwas von einer Chor-Partitur, in der Gegenwart (Ich-Stimme) und imaginierte Vergangenheit (Kinderstimmen) zusammenklingen zu zeitlosen Stein-Elegien. Sie intonieren ein hartes Leben (die tote Katze, die abgestürzten Lämmer, die mit Steinen getöteten Vögel) mit Entbehrungen (nicht alle, zumal nicht das wilde Kesselflickerkind, haben Schuhe) und der Angst vor der Flut und davor, vom abbrechenden Schiefer erschlagen zu werden.

Der dritte Teil, "Schrifttierchen", entwickelt nun über die Bildbereiche Schiefertafel und die Schreibgeräte Griffel (in der Botanik der Teil des Fruchtblatts, der die Narbe trägt) und Kreide das Wesen des dichterischen Ich-Kristalls weiter. Hier kann die schreibende Hand mit den "rillen der fingerbeere" und ihren "linien" selbst zum beschriebenen "schwitzenden stein" werden. Diese Schiefergedichte sind auch diskrete Liebesverse, durchdrungen von einer keuschen Körperhaftigkeit. In einem der schönsten Gedichte, "Katze stirbt", schmiegt sich der Kopf des Tieres in die Handschale des Ichs, in die "linien rillen fürchlein voll erinnerung / wie gemacht zur wölbung um den / sterbeschädel der spitzer wird / und schärfer und sein mal / quer zu den linien eindrückt". Diese Geste wird zur letzten "gabe" des sterbenden Wesens, und die Hand ist nun "bettlerhand die ja / zurückbleibt und die leere trägt".

So sind "Schiefern" auch Klagelieder, nicht nur um eine versehrte Landschaft, sondern um ein verschwundenes Du. Im Oktober 2014 starb der Übersetzer Martin Chalmers, aufgewachsen in Glasgow, dem Ausgangsort der Verse (sein Name klingt in anagrammatischen Echos immer wieder leise auf, etwa in: "metamorphiten", "stein", "slate"); er war Schriftstellerkollege, Reise- und Lebenspartner. Die Leere, das Nicht-Sagbare, um das das suchende Beschreiben und Benennenwollen in "Schiefern" kreist, hat seine tiefe Zeit auch in einer gelebten Gemeinschaft, die im Erinnern vielleicht zurückschimmern kann, und sei es nur (oder gerade) für den Moment des Gedichts. Am Ende setzt die Fähre aus dem Reich der Schieferschatten wieder über ans Festland. Und im Flug des schwarzweißen Vogels kippt die Schieferwelt, und der Himmel wird "der himmel meer / und nur die fahrt bleibt - überfahrt und abriss / spaltung trennung von dem ort".

ANGELIKA OVERATH

Esther Kinsky: "Schiefern". Gedichte.

Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 103 S., geb., 24,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur Dlf-Rezension

Rezensentin Marie Luise Knott würdigt diesen Gedichtband von Esther Kinsky mit einem großen Aufsatz über Lyrik, Sprache und Natur. Sie schlägt weite Bögen und geht dabei vom "Tryptichon" der Schiefern-Gedichte aus - der Ankunft auf der Insel, einer Kinderfotografie aus industrieller Zeit und der Abfahrt. Knott zitiert in ihrer Besprechung auch Dichter wie Thomas Kling oder Künstler wie William Kentridge. Schlüsselwörter der Kritikerin sind dabei "Forschung und Expedition". Dies nämlich sei Kinskys Schreiben, das Schreiben in lyrischer Form ohnehin, ein Erforschen nicht nur eines Gegenstandes - wie hier etwa des Schiefergesteins und Schieferabbaus auf den Slate Islands -, sondern auch von Sprache und ihrer Geschichte. Beides sei der Nutzung durch den Menschen ausgesetzt, beides bilde Schichten, die unter industriellen und anderen Umständen durch Sprengung gebraucht, erforscht und neu gebraucht werden, so Knott. Ein anderes Schlüsselwort ist für die Kritikerin deshalb auch "Erinnerung" -  die Erinnerung der Nutzung von Landschaft und Sprache, daher also Kindheit und tiefe und individuelle Bedeutung. Vielleicht sei das Schreiben Esther Kinskys tatsächlich Naturlyrik in einem neuen Sinne, findet die hoch beeindruckte Kritikerin. In jedem Fall aber, schließt sie, sei es "große Kunst".

© Perlentaucher Medien GmbH
»Die Landschaft zu beschreiben verlangt ein enormes Vokabular, rhythmisch virtuos und dem Gegenstand entsprechend schroff eingesetzt.« Frankfurter Rundschau 20201013