Marktplatzangebote
Ein Angebot für € 24,15 €
  • Buch mit Leinen-Einband

Im Wintersemester 1894/95 und im Sommersemester 1895 schrieb sich Thomas Mann an der Bayerischen Technischen Hochschule München als Gasthörer ein. Er besuchte Vorlesungen über Nationalökonomie, Grundzüge der Ästhetik, Allgemeine Kunstgeschichte, Deutsche Literaturgeschichte, Shakespeares Tragödien und Deutsche Geschichte 1740-1871. Dabei führte er ein Collegheft, in das er neben dem Gehörten auch eigene Kommentare eintrug, die bereits den angehenden Dichter erkennen lassen. Im Rückblick sprach Thomas Mann mit ironischer Genauigkeit von "Unterweisungen, die ich zeitweise regelmäßig und nicht…mehr

Produktbeschreibung
Im Wintersemester 1894/95 und im Sommersemester 1895 schrieb sich Thomas Mann an der Bayerischen Technischen Hochschule München als Gasthörer ein. Er besuchte Vorlesungen über Nationalökonomie, Grundzüge der Ästhetik, Allgemeine Kunstgeschichte, Deutsche Literaturgeschichte, Shakespeares Tragödien und Deutsche Geschichte 1740-1871. Dabei führte er ein Collegheft, in das er neben dem Gehörten auch eigene Kommentare eintrug, die bereits den angehenden Dichter erkennen lassen. Im Rückblick sprach Thomas Mann mit ironischer Genauigkeit von "Unterweisungen, die ich zeitweise regelmäßig und nicht ganz ohne Nutzen besuchte". Mit manchen Stoffen, die später in seinen Werken behandelt wurden, ist er wohl in den Kollegen zum ersten Mal bekannt geworden. Der Text ist vollständig und originalgetreu in Faksimile und Umschrift wiedergegeben. Der Kommentar steht in kleinerem Schriftgrad unmittelbar unter jeder Mitschrift einer Vorlesungsstunde. Er soll das Verständnis des Textes erleichtern. Wann immer möglich, werden die einschlägigen Passagen aus den Veröffentlichungen der Dozenten im Wortlaut wiedergegeben. Auf Parallelstellen im Werk Thomas Manns wird mit Zurückhaltung aufmerksam gemacht.
Autorenporträt
Thomas Mann, geb. 1875 in Lübeck, wohnte seit 1894 in München. 1933 verließ er Deutschland und lebte zuerst in der Schweiz am Zürichsee, dann in den Vereinigten Staaten, wo er 1938 eine Professur an der Universität in Princeton annahm. Später hatte er seinen Wohnsitz in Kalifornien, danach wieder in der Schweiz. Er starb in Zürich am 12. August 1955. Thomas Mann zählt zu den bedeutendsten Schriftstellern des 20. Jahrhunderts. Mit ihm erreichte der moderne deutsche Roman den Anschluss an die Weltliteratur. Manns umfangreiches und vielschichtiges Werk hat eine weltweit kaum zu übertreffende positive Resonanz gefunden. Für seinen ersten großen Roman Die Buddenbrooks erhielt er 1929 den Nobelpreis für Literatur.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.11.2001

Der Fürst im Hörsaal
Selbstporträt des Zauberers als Gaststudent: Thomas Manns "Collegheft 1894 - 1895" / Von Heinrich Detering

Auf dem Titelblatt steht "Wintersemester 94/95", darüber, wie eine Verfasserangabe, "Thomas Mann" - mit dem Zusatz "Rambergstraße 2or.". Bloß "oben rechts" wohnt vorläufig der noch unbekannte Besitzer dieses Heftes, der vor einem halben Jahr aus Lübeck nach München gekommen und soeben von den Lasten einer langweiligen Büroarbeit befreit worden ist. Immer schon hat es ihn zur Literatur getrieben; er weiß nur noch nicht genau, wohin.

Halbherzig erklärt er, ",Journalist' werden zu wollen", und besucht zu diesem etwas vagen Zweck - als Gasthörer, das Abitur hat er ja nicht gemacht - zwei Semester lang allerlei Vorlesungen am Münchner Polytechnikum. Das Kollegheft, das er dabei führt, haben jetzt Yvonne Schmidlin und Thomas Sprecher in einer vorbildlichen und verblüffend unterhaltsamen Edition präsentiert (mitsamt Faksimiles der Zeichnungen, in denen Thomas Mann sich vorsorglich den Unterschied zwischen Grab- und Denkmälern einprägt).

"Zu erleben", heißt es in der Einleitung, "ist ein Ich." In der Tat, wer in diesen Aufzeichnungen liest, kann etwas erleben. Das erste, was außer der Vielfalt der Fächer ins Auge fällt, ist der Stundenplan. Thomas Mann besucht bevorzugt Vorlesungen, die erst am Nachmittag beginnen. Er habe - läßt er den Brieffreund Otto Grautoff wissen - "immer bis 12 Uhr mittags, manchmal bis 3 Uhr nachmittags" geschlafen. Nein, geleistet hat der künftige Leistungsethiker in dieser Zeit eigentlich nichts. Vielleicht gerade darum ist es die Inkubationszeit der kommenden Meisterwerke.

Es ist die Zeit, in der er mit dem Freund Paul Ehrenberg stundenlange Radtouren unternimmt, in die Oper geht, russische und skandinavische Romane und immer wieder Nietzsche liest. Es sind seine wunderbaren Jahre. An Grautoff schreibt der Gaststudent im November 1894, nun sei er endlich "frei und glücklich"; man fragt sich, ob er dieses Lebensgefühl eigentlich jemals wieder erlangt hat.

Die Freiheit, die er genießt, ist nicht nur eine akademische - zum letzten Mal in seinem Leben macht sich der Gasthörer Thomas Mann, wie Thomas Sprecher in der Einleitung bemerkt, Gedanken und Notizen nur aus Spaß, ganz frei vom Zwang zum "Werk", der fortan alles überschatten und in Dienst nehmen wird. Im Münchner Hörsaal notiert er, was ihm in den Sinn kommt, unbekümmert und frei von der Leber weg. Keineswegs schreibt der Student Mann gehorsam mit, vielmehr redet er permanent dazwischen - mangels vertrautem Banknachbarn aber und zur Freude des Lesers auf dem Papier.

Fortwährend verteilt er Noten für die Professoren, macht Verbesserungsvorschläge ("ich finde besser . . .") oder zieht die Augenbrauen hoch ("?!?"). Er tadelt scharf ("falsch", "Humbug") oder lobt großzügig. "Der Nachteil der Maschine", lehrt der Nationalökonom Haushofer, bestehe in der "Herabwürdigung des Menschen". Das findet Billigung: "Sehr gut!" schreibt Thomas Mann als letztes Wort auf diese Seite.

Das alles aber sind nur Geplänkel im Vergleich zum Dauergefecht mit dem Lieblingshaßobjekt, das er ein Semester lang verfolgt, und das ist die philosophische Ästhetik. Mit Vorliebe fällt er dem epigonalen und etwas unbeholfenen Spätidealismus des Franz von Reber mit einer "Eignen Bemerkung" ins Wort: Heute "verfehlte Herr v. Reber nicht, wieder allerhand seltsame Hypothesen aufzustellen". Müht sich der Vortragende, sein Begriffssystem zu entfalten, dann kann sein Hörer nur kopfschüttelnd einwerfen: "Es giebt natürlich keine absolute Schönheit." Natürlich nicht, wie konnte jemand nur einen Augenblick diesem Gedanken nachhängen! Diese Ästhetik, zürnt er, "vergißt das Individuelle"; nicht um Ideen soll es gehen, sondern, mit Nachdruck wiederholt er das, um "das Einzelne".

Weil es aber vom Einzelnen abstrahieren will, deshalb ist das ganze Fach vom Teufel. Nein, es "kann die Aesthetik, in der die Psychologie des Einzelnen eine so große Rolle spielt, nicht in Dogmen & Regeln verknöchert werden". Da aber der Vortragende, wohl oder übel, auch weiterhin von der Firma Dogmen & Regeln ist, trifft ihn bald der finale Bannstrahl. "Zur Ästhetik", überschreibt der erboste Hörer eine Seite, die anstelle der Mitschrift sein letztes Wort formuliert: "Die Ästhetik als Wissenschaft ist eine primitive Volks- und Massenpsychologie, das Banale ins System gebracht!" Pause, Leerzeile, dann die triumphierende Unterschrift: "T. M."

Ein Leser, der solche Bemerkungen als juvenile Arroganz abtun will, weiß offenbar nicht, wen er vor sich hat. Der Neunzehnjährige hört, denkt und formuliert bereits mit dem voll entwickelten Selbstbewußtsein königlicher Hoheit, die, wenn sie wollte, noch ganz anders könnte.

Woran liegt es beispielsweise, daß ihm manche Bemerkungen des Ästhetikers nicht mehr einfallen? Ein gewöhnlicher Student hätte vielleicht mit dem Hinweis auf Langeweile oder Faulheit geantwortet. Aber dieser Student gehört nicht zu den Gewöhnlichen, und deshalb lautet seine Antwort: Daran sei "wohl in der Hauptsache meine lächelnde Souveränität als Künstler schuld, die mit freundlicher Herablassung aber dennoch achselzuckend zuhört, wenn ein alter Herr unter fortwährenden Blamagen sich müht, die Kunst in das häßliche Foltersystem einer Eisernen Jungfrau zu zwängen". Dies nach Nietzsches Vorbild als eigenständiger Aphorismus, unter der Überschrift "Die Eiserne Jungfrau".

Die Pointe ist, daß er ja recht hat. Denn abgesehen davon, daß der souverän lächelnde Künstler bislang eigentlich noch keins seiner Kunstwerke hervorgebracht hat, werden sie schon in diesen Aufzeichnungen selbst geisterhaft sichtbar. Im Rückblick ist es halb unheimlich, halb rührend zu sehen, wieviel "Werk" sich hier, hinter dem Rücken des Müßiggängers, schon vorbereitet: wie Romanideen, die unmöglich schon als solche erkennbar sein können, hier wie auf eigene Faust Gestalt anzunehmen beginnen. Da interessiert sich der künftige Erzähler Jaakobs, der von alldem noch nichts weiß, auf einmal lebhaft für "Ägypten & Chaldäa" und die uralt-fremden Namensformen - "Cheops ägyptisch Cufu". Da ahnt er zum ersten Mal die Unergründlichkeit des Brunnens, dessen Tiefe er noch flott zu berechnen versucht - von "4000 Jahren" habe Napoleon an den Pyramiden gesprochen? Ach was: "40 Jahrtausende" müsse es heißen!

Was daraus einmal werden wird, liegt noch in unsichtbarer Ferne. Sehr viel rascher dagegen wird sein meistunterschätzter Roman von diesem Semester profitieren - in diesem Fall von Max Haushofers Vorlesungen in Nationalökonomie, die Thomas Mann, selbst verblüfft, zeitweise sein Lieblingsfach nennt.

Es sind nicht so sehr einzelne Maximen, die in "Königliche Hoheit" eingehen werden, wohl auch nur nebenbei jene Fachbegriffe, die dann suggestiv über den Romantext ausgestreut (und hier von den Herausgebern detailliert nachgewiesen) werden. Vor allem scheint ihm die pure Rolle zu gefallen, in der er sich mit seinen kindlichen Prinzenträumen hier selbst erblickt: der artistische Décadent beim Erlernen des gesellschaftlich Nützlichen, der Fürst im Hörsaal.

Am lebhaftesten aber zeigt er sich von der Erzählkunst des Hochmittelalters "entzückt". An Hartmanns "Gregorius"-Legende bewundert er, anachronistisch und divinatorisch, den "Hang zur lyrischen Psychologie", und namentlich jene "Zwiegespräche mit dem Leser", die ein halbes Jahrhundert später als virtuoses Spiel mit dem "Geist der Erzählung" wiederkehren werden. Tatsächlich ist auf diesen Blättern Thomas Manns erste, noch unschuldige Version des "Erwählten" zu lesen, die weltliterarische Entdeckung als Vorlesungsmitschrift. Es ist alles schon da, nur weiß es noch nichts von sich: die Geschichte von der "Inzucht zwischen zwei jungen Geschwistern", von der energisch unterstrichenen Vornehmheit des in der Sünde "aristokratischen" Findelkindes, von der Schuld, von "furchtbarer freiwilliger Buße" und wunderbarer Gnade.

Danach ist für diesen Hörer das Mittelalter eigentlich erledigt. Auch Hartmanns Artusromane um Erec und Iwein, von den Gelehrten so hoch geschätzt, können dagegen nicht bestehen: "Der ,Iwein' ist meiner Ansicht nach das schwächste Gedicht Hartmanns"; da macht ihm keine Germanistik etwas vor. Gewisse Schwächen des Romans, fügt er später gönnerhaft hinzu, "erkennt auch Prof. Hertz übrigens an", der so mit knapper Not noch der Blamage entgehen kann.

Mit dem Ende dieses ersten Semesters ist auch das Intermezzo als Student im Grunde schon vorbei. Zwar nimmt er im Sommer 1895 das Studium zunächst wieder auf, aber jetzt reichen Zeit und Neugier allenfalls noch für die deutsche Geschichte seit den Befreiungskriegen. Was er brauchte, hat er schon bekommen. Weder der Kunstgeschichte des Mittelalters ("Außerordentlich langweilig") noch der nordischen Heldenepik kann der Liebhaber des "Gregorius" noch etwas abgewinnen; aus der Siegfriedsage lernt er vor allem: "Der Deutsche ist eigentlich nichts weiter als ein plumper & ungeschlachter Mensch."

Das Studium ist zu Ende, es beginnt die Inkubationszeit. Das Gedächtnis für einmal gefaßte Ideen, das Thomas Mann jahrzehntelang nicht im Stich läßt, hat sich gerade hier sichtlich bewährt, von der "Königlichen Hoheit" bis zum "Erwählten". Denn wiederentdeckt hat der Fünfundsiebzigjährige sein altes "Collegheft" erst Ende 1950, als der Legendenroman eben fertig war, beim Sortieren alter Akten. Unter den Sätzen, auf die er da stoßen konnte, steht auch das schöne Bekenntnis, das er zum ersten Mal nach einer Ästhetik-Vorlesung quer über die eigene Mitschrift notiert und an dem er dann ein Leben lang festgehalten hat: "Wie schön, gegenüber all der Wissenschaft, das Dichterwort Stendhal's: ,Le Beau c'est une promesse de bonheur'." Es ist das Versprechen, das er in diesem kleinen Heft sich selbst gegeben hat.

Thomas Mann: "Collegheft 1894 - 1895". Herausgegeben von Yvonne Schmidlin und Thomas Sprecher. Klostermann Verlag, Frankfurt am Main 2001. 217 S., geb., 78,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

"Die nun veröffentlichten Colleghefte Thomas Manns bieten Gelegenheit, dem späteren Meister in jungen Jahren bei der Ausbildung seines Denkens zuzusehen. Länger als diese zwei Semester hat es Mann am Münchner Polytechnikum nicht ausgehalten, Heinrich Detering beschreibt diese Jahre als seine "Inkubationszeit" und stellt erstaunt fest: "Der Neunzehnjährige hört, denkt und formuliert bereits mit dem voll entwickelten Selbstbewusstsein königlicher Hoheit". Abgeurteilt etwa wird der von Professor Franz von Reber unternommene Versuch einer "philosophischen Ästhetik": Das sind, so Thomas Mann, doch "allerhand seltsame Hypothesen". Verblüffend ist es, bemerkt Detering, dass man auch der Infektion zusehen kann, und zwar mit Ideen zu späteren Romanen. Hier findet die Lektüre von Hartmanns Gregorius statt, Mann ist "entzückt", ein halbes Jahrhundert später wird daraus der Roman "Der Erwählte". "Es ist alles schon da", fasst Detering zusammen, "nur weiß es noch nichts von sich".

© Perlentaucher Medien GmbH"