Produktdetails
  • Verlag: Hoffmann und Campe
  • Seitenzahl: 238
  • Abmessung: 209mm x 132mm x 25mm
  • Gewicht: 366g
  • ISBN-13: 9783455003277
  • ISBN-10: 3455003273
  • Artikelnr.: 24442295
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.10.1999

Dürre im Pool
Sibylle Berg bringt es auf flotte Sprüche / Von Dieter Thomä

Wenn man sich heftig anstrengt, findet man in Franz Kafkas Fragment "Der Heizer" (alias "Amerika") und in Goethes Roman "Wahlverwandtschaften" Eigenarten, die sich bemängeln ließen: einerseits Kafkas arge Ahnungslosigkeit, was in diesem Land Amerika wirklich vorging, andererseits die manchmal etwas gekünstelte Art, mit der Goethe sein Laboratorium der Paarungen in Gang hielt. Wie man genau nur diese beiden schlechten Eigenschaften isoliert und in einem Buch zum Exzess treibt, das wird nun von Sibylle Berg in "Amerika" vorgeführt.

Vier Personen laufen sich, kreuz und quer, über den Weg, nicht ohne tüchtig frustriert zu sein, weil es ihnen an Geld (Raul), Liebe (Anna), Erfolg (Karla) oder Schönheit (Bert) mangelt. Mit ihren Frustrationen sind sie so heftig okkupiert, dass sie an ihnen auch dann noch festhalten, wenn die von ihnen beklagten Mangelerscheinungen beseitigt werden. Irgendwie soll dieses Hin und Her auch mit Amerika zu tun haben, und so erfährt man über dieses Land Details, die man sich echt merken muss: Amerika ist, so weiß man dank Sibylle Berg, ein "arrogantes Scheißland", Los Angeles eine "Plastikstadt" voll "gelifteter Retortenweiber", der Sunset Boulevard ist lang und hat zwei Enden: ein besseres und ein schlechteres.

Klappern gehört zum Handwerk. Deshalb gilt Sibylle Berg als Zeitgeistphänomen, und deshalb klappert die Beziehungskonstruktion, die sie errichtet hat, an allen Ecken und Enden. Dies hat seinen Grund vor allem darin, dass sich die Autorin für die Menschen, die sie schildert, nicht sonderlich interessiert. Eigentlich wirken die vier Hauptfiguren und ihre Gespielen eher wie Automaten, denen die Seele abhanden gekommen ist, seltsamerweise aber noch nicht das Unglück. Da sie gar nicht zur Ruhe kommen wollen und sich auch noch aufeinander einlassen, wird ihre Lage natürlich nur noch verschlimmert, und so ist der Formenreichtum des Unglücks, der in diesem Buch entfaltet wird, in der Tat bemerkenswert. Mehrere ältere Damen sind nach dem Besuch des Callboys deprimiert, ein erfolgloser Journalist mit seinem Geschlecht unzufrieden und die Freundin des Millionärs zwar "unglücklich, aber gepflegt" - und das ist natürlich längst nicht alles.

Freilich besteht Sibylle Bergs "Amerika" nicht wirklich aus den Geschichten, die das Unglück schreibt, sondern vor allem aus Geschlechtsteilen und flotten Sinnsprüchen zum lahmen Leben. Die zahllosen Geschlechtsteile sind hier nicht der Rede wert, ein par Sinnsprüche, die das Elend in mundgerechten Portionen servieren, aber doch: "Die ganze Welt ist ein Pool ohne Wasser" - "Ein Mensch alleine in einer faden Stadt . . . ist wie eine Krankheit, die mit jedem Schritt den Patienten mehr aushöhlt" - "Es ist erstaunlich, was der Mensch alles für Geld zu tun in der Lage ist" - "Es gab nur den Weg in den Untergang oder den zurück nach Hause" - "Solche Angst vor dem Verlust der Jugend, das ist doch entwürdigend, ich möchte in Frieden altern, denkt sich Karla" - "Reich und schön zu sein und kaum einen Hunger nach Sex zu haben, ist es nicht das Großartigste, so viel Ruhe. Wirrungen und Missverständnisse, die nicht mehr existieren, das ist doch klasse, was Raul?"

Die Geburt der Keuschheit aus dem Geist des Überdrusses - dies ist Teil der hier erprobten Strategie, auf das Leben so weit wie möglich zu verzichten. Sie wirkt nicht ganz abwegig angesichts des Desasters, das Sybille Bergs Helden beim Versuch, der Lust zu frönen, erleiden. Wenn man der Autorin ein höheres Ziel unterstellen wollte, könnte man ihr Buch als verzweifeltes Pamphlet gegen falsches Leben und moderne Seelenlosigkeit lesen. Doch da sie selbst alles daran setzt, ihre Helden zu Plastikfiguren zu machen, mag man sich zu solchem Tiefsinn nicht aufraffen.

Eine Empfehlung nach der Lektüre: Gehen Sie ins Kino und schauen Sie sich einen Film an, der aus fast denselben Bausteinen - nämlich: Los Angeles und Menschen auf der Suche - eine ungleich eindrucksvollere Welt schafft. Zur Betrachtung empfohlen: Mika Kaurismäkis Film "L. A. without a map", ohne Raul, Karla, Anna und Bert, aber mit Julie Delphy und Johnny Depp.

Sibylle Berg: "Amerika". Roman. Hoffman und Campe Verlag, Hamburg 1999. 239 S., geb., 36,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

"Das ist mal ein richtiger Verriss. Dieter Thomä findet eigentlich nichts Gutes an dem "Zeitgeistphänomen" Sibylle Berg. Es ist, als hätte sie in ihrem "Amerika" von Goethe und Kafka nur die Schwächen übernommen, schreibt Thomä, von Kafka die Unkenntnis Amerikas, von Goethe das Gekünstelte in der Darstellung und Verflechtung von Beziehungen. Bergs Buch wimmelt nach Thomä von Klischees und banalen Sinnsprüchen, die er nicht ohne Spott auflistet. Statt zum Buch rät Thomä zum Kino: Mika Kaurismäkis "L.A. Without a Map" schaffe, was Berg nur gern geschafft hätte: ein Kunstwerk über "Los Angeles und Menschen auf der Suche".

© Perlentaucher Medien GmbH"