Die Geschichte spielt auf zwei Zeitebenen und wird aus einer Vielzahl an Perspektiven erzählt. Sie beginnt im England der 1970er-Jahre, als Tracy gerade ihre Polizistenlaufbahn begonnen hat. Bei der Entdeckung einer ermordeten Prostituierten wird ein kleines Kind gefunden, das danach in der
Versenkung verschwindet. Die zweite Zeitebene handelt 30 Jahre später. Tracy ist längst aus dem…mehrDie Geschichte spielt auf zwei Zeitebenen und wird aus einer Vielzahl an Perspektiven erzählt. Sie beginnt im England der 1970er-Jahre, als Tracy gerade ihre Polizistenlaufbahn begonnen hat. Bei der Entdeckung einer ermordeten Prostituierten wird ein kleines Kind gefunden, das danach in der Versenkung verschwindet. Die zweite Zeitebene handelt 30 Jahre später. Tracy ist längst aus dem Polizeidienst ausgeschieden, arbeitet als Warenhausdetektivin, lebt alleine - bis eben zu jenem Tag, an dem sie das kleine Mädchen kauft. Dazu gesellen sich die Handlungsstränge um eine demente Schauspielerin, um eine Sozialarbeiterin, um diverse Polizisten. Und um Jackson Brodie selbst, der herauszufinden versucht, woher seine australische Auftraggeberin kommt, die offenbar in den 1970ern in England geboren wurde, gleichzeitig offiziell aber gar nicht zu existieren scheint.
Mehrere parallele Handlungsfäden ziehen sich lose durch den Plot und werden erst spät zusammengesponnen, so dass sich eine überraschende Lösung ergibt. Hinzu kommt die detailverliebt Aneinanderreihung von Worten, die erst einmal nichts zum Handlungsgeschehen beitragen, die Atmosphäre aber auch nicht zwingend verdichten. Kurze Kapitel, die sich immer wieder um eine andere Figur drehen, wirken wild zusammengewürfelt und ohne eigentlichen Zusammenhang. Dass Jackson Brodie die eigentliche Hauptfigur des Romans ist, fällt nicht auf, denn im Grunde kommen alle Figuren gleichermaßen ausführlich in ihrer Gedankenwelt beschrieben doch etwas blass daher. Vieles uferte anfangs zu sehr aus, als dass mich die eigentlich spannende Grundidee fesseln konnte. Das lag auch daran, dass lebendige Dialoge fehlen. LeserInnen erleben die Gedanken der Figuren als Monologe in deren eigenen Kopf mit. Das wirkt manchmal hölzern, enthält jedoch durchaus eine Art unterkühlter Komik. Und dann wiederum berührt es auf überraschende Weise, wenn man schon gar nicht mehr damit rechnet.
Es dauerte geraume Zeit, bis ich mich auf Atkinsons Schreibstil einstellte und plötzlich dabei ertappte, wie ich neugierig die Seiten umblätterte. Erzählfragmente begannen sich unspektakulär, aber unaufhaltsam, vor meinen Augen zusammenzufügen. Die auf den ersten Blick wild gemischten Figuren sind alle miteinander durch mehr als ein Drama, mehr als ein Geheimnis, mehr als einen Mord, mehr als eine unglückliche Familie und trostlose Lebenswege sowie unerfüllte Träume oder Lebenslügen verbunden. Atkinsons Charaktere gehören samt und sonders nicht zu den Gewinnern. Sie lässt sie einiges durchmachen und geht nicht sonderlich zartfühlend mit ihnen um. Dafür stimmt sie sie sukzessive aufeinander ab. Unversehens ertappte ich mich dabei, wie ich mit ihnen gefühlt, gelitten und gehofft habe.
Der Roman ist zugegebenermaßen nicht ganz ohne Längen, die man vor der Kulisse menschlicher Tragödien und Abgründe nicht erwartet. Dennoch kam das Ende letztlich viel zu schnell. Obwohl dabei längst nicht alle Handlungsfäden schlüssig abgeschlossen werden (vielleicht weil der Roman eben doch Teil einer Reihe ist?), wirkt der Roman nicht unbefriedigend unvollendet.
Fazit:
Eine nicht ganz einfache, gesellschaftskritische Geschichte, bei der sich Durchhalten lohnt. Wer schnelle und vor allem einfach strukturierte Handlungsentwicklungen bevorzugt, dem rate ich, die Finger vom Buch zu lassen. Wer auf reißerisch-blutige Passagen hofft, wird sie in diesem Krimi auch nicht finden. Dafür regt Atkinsons Roman leise und unaufgeregt zum Nachdenken an und wird sicherlich nicht der Letzte sein, den ich von dieser Autorin lese. Für Das vergessene Kind möchte ich vier von fünf Punkten vergeben.
2013 Antje Jürgens (AJ)